Religionskonflikte

Innerhalb des weiten Spektrums historischer und aktueller R. ließe sich idealtypisch unterscheiden zwischen Konflikten, die genuin aus religiöser Differenz resultieren, und Konflikten, deren Ursachen nicht unmittelbar religiöser Natur sind und die gleichwohl Auswirkungen auf das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander zeitigen. In der Praxis sind die Grenzen freilich fluide, und die idealtypische Unterscheidung lässt sich auf reale Konflikte kaum je eindeutig applizieren. Auch in Konflikten, die allem Anschein nach stark von religiösen Motiven – bspw. dem Kampf gegen „Ungläubige“, „Abtrünnige“ oder „Häretiker“ – geprägt sind, lassen sich in aller Regel weitere wichtige Ursachen ausmachen, etwa der Zusammenbruch staatlicher Ordnung als Konsequenz endemischer Korruption, kollektive Traumata aus der jüngeren Geschichte, ein Klima des politischen Autoritarismus, sozioökonomische Konkurrenzen usw. Im Gegenzug gilt, dass dort, wo Religion anscheinend eher sekundär in das Konfliktgeschehen hineingezogen wird, religiöse Motive dennoch ihre eigene Dynamik – konfliktverschärfend oder auch moderierend – entfalten können.

Exemplarische Konfliktmotive religiöser Art sind die Sorge um die Reinerhaltung des eigenen Glaubens bzw. der religiös geprägten spezifischen Lebensweise; Angst vor der Konkurrenz anderer Religionsgruppen; der Anspruch, einen vermeintlich gottgewollten Lebenswandel mit politischen Mitteln durchzusetzen. Defensive und offensive Gesichtspunkte gehen dabei häufig ineinander über. Vielerorts verbindet sich das Interesse an Wahrung kollektiver religiöser Identität mit nationaler Identitätspolitik, die sich typischerweise gegen „landesfremde“ Religionen richtet. Dabei geht es oft weniger um religiöse Inhalte als um Fragen kollektiver Zugehörigkeit. Religion fungiert gleichsam als Grenzmarkierung, um zwischen „dem Eigenen“ und „dem Fremden“ zu unterscheiden. Es gibt ferner zahlreiche Beispiele dafür, dass autoritäre Regime, ganz gleich ob sie sich religiös oder säkular verstehen, R. schüren, um religiös-nationale Loyalität zu mobilisieren.

Zu den wichtigsten politischen Ursachen religiös konnotierter Konflikte gehören endemische Korruption und der daraus resultierende Verlust an Vertrauen in öffentliche Institutionen. Ohne funktionierende öffentliche Institutionen gibt es keinen öffentlichen Raum, in dem sich religiöse Differenz angstfrei entfalten könnte. Die Konkurrenz der Religionsgruppen nimmt dann leicht Züge eines Nullsummenkonflikts an. Sofern die Netzwerke, auf die Menschen in Ermangelung verlässlicher öffentlicher Institutionen zur Organisation ihres Alltags exklusiv zurückgreifen, an Kriterien religiöser Zugehörigkeit orientiert sind, kann ein Klima politischer Nervosität entstehen, in dem dämonisierende religiöse Schreckensbilder auf fruchtbaren Boden fallen. Im Extremfall verbindet sich politische Paranoia so mit religiöser Apokalypse.

Auch Gender-Komponenten (Gender) können in religiös unterlegten Konflikten eine zentrale Rolle spielen. Ein Beispiel sind demographische Ängste. Die Schreckensvision des längerfristig befürchteten Verlustes der eigenen religiös-kulturellen Identität wird dabei typischerweise mit dem Hinweis auf ein angeblich aggressives Sexualverhalten anderer Gruppen ausgemalt. Religiöse Vorurteile, rassistische Stereotypen und atavistische Geschlechtervorstellungen gehen dabei eine toxische Mischung ein. Nicht vergessen werden dürfen Traumatisierungen aus der jüngeren Geschichte, die zur Folge haben können, dass Angehörige religiöser Minderheiten schnell in den Verdacht geraten, Repräsentanten der ehemaligen Kolonialmacht zu sein, als „fünfte Kolonne“ feindlicher Nachbarstaaten zu fungieren oder den nationalen Zusammenhalt zu gefährden.

Die Frage, ob die Religionen von Hause aus unterschiedliche Affinitäten zu Konflikt, Gewalt, Ausgleich oder Toleranz aufweisen, wird seit langem kontrovers diskutiert. Schon David Hume schrieb den monotheistischen Offenbarungsreligionen eine erhöhte Neigung zu Intoleranz und Konflikt zu. Jan Assmann hat diese These jüngst neu formuliert und dadurch eine anhaltende Debatte ausgelöst. Man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass doktrinäre theologische Positionen – etwa die scharfe Disjunktion zwischen dem einen Gott und den vielen falschen Götzen – konfliktträchtige Faktoren sein können. Angesichts der Tatsache, dass Religionen höchst unterschiedlichen Typus, darunter auch nicht-monotheistische Religionen, in gewaltsame Konflikte aktiv involviert sind, besteht aber Grund zur Vorsicht gegenüber einer isolierten Betrachtungsweise. Vorsicht ist v. a. gegenüber „essentialistischen“ Zuschreibungen angebracht, die davon ausgehen, dass manche Religionen von ihrem theologischen „Wesenskern“ her durch Aggressivität, Intoleranz und Konfliktbereitschaft definiert seien. Bes. unter Verdacht steht diesbezüglich oft der Islam. Solche essentialistischen Sichtweisen vernachlässigen nicht nur die innerreligiöse Vielfalt, sondern verstellen auch den Blick für Reform- und Adaptionsprozesse, die im Kontext unterschiedlicher Religionen stattfinden.

Eine komplexe Analyse der vielfältigen kontextspezifischen Ursachen und Motive bildet die Voraussetzung dafür, R. zu zivilisieren. Zu den zentralen Aufgaben gehört der Ausbau vertrauenswürdiger öffentlicher Institutionen, die in der Lage sind, Religionsfreiheit für alle verlässlich zu gewährleisten. Eine interreligiöse Gesprächskultur (Interreligiöser Dialog) kann dazu beitragen, stereotype Vorstellungen und kränkende Zuschreibungen zu überwinden. Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften besteht die Aufgabe, polarisierende Doktrinen und dämonisierende Bilder kritisch aufzubrechen und das Versöhnungspotenzial religiöser Traditionen freizulegen.