Reich Gottes

1. Biblische Grundlagen

Im Zentrum der Verkündigung und des Wirkens Jesu steht seine Botschaft vom Anbruch des R.es, der Basileia Gottes. Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund bildet das alttestamentliche Verständnis des Gottes JHWH als König (Ps 93,1; 97,1; 99,1), der auf dem Zion thront. Der Anspruch dieses Königtums ist universal, denn es ist darin begründet, dass JHWH die Erde erschaffen hat und ihr Bestand verleiht (Ps 96,10). Als solcher ist JHWH König über die ganze Erde und alle Völker (Ps 47), um überall Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen (Ps 99,4). Jesus verkündet die endgültige Durchsetzung dieser Königsherrschaft Gottes gegen alles, was ihr entgegensteht. Das Neue und Einzigartige besteht darin, dass Jesus einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesem eschatologischen Geschehen und seinem eigenen Auftreten und Wirken herstellt. Er versteht sich selbst als den bevollmächtigten Boten des R.s G. und sieht dieses in seinen machtvollen Taten bereits gegenwärtig werden (Lk 11,20). Das schließt jedoch eine futurische Dimension mit ein, da „die ‚Gottesherrschaft‘ für Jesus ein dynamischer Begriff ist, der ein Geschehen anzeigt, in dem die eschatologische Zukunft bereits die Gegenwart erfaßt“ (Merklein 1983: 65). Diese Verschränkung der eschatologischen Zukunft mit der Gegenwart macht die mit der Botschaft Jesu verbundene hochgespannte Naherwartung verständlich: Das bereits die Gegenwart erfassende eschatologische Geschehen wird in allernächster Zukunft von Gott her vollendet werden. Es erfasst sämtliche Dimensionen der Wirklichkeit. Inhaltlich geht es dabei um eine neue Erfahrung der fürsorgend-liebenden Zuwendung Gottes zu allen seinen Geschöpfen, weil Gott ihr Heil will und sich deshalb um sie sorgt, um die Vögel und die Lilien (Mt 6,25–28) ebenso wie um den Menschen, bei dem „sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt“ sind (Mt 10,30). Die anbrechende und sich durchsetzende Gottesherrschaft wendet sich gegen alles, was die Entfaltung des Lebens einschränkt oder ihr im Wege steht.

Jesu R.-G.-Botschaft erweist sich damit als grundlegend und bestimmend für ein erneuertes Wirklichkeitsverständnis und Weltverhältnis. Durch das Kommen der Gottesherrschaft wird die gesamte Wirklichkeit in eine eschatologische Spannung versetzt und auf ihre Vollendung hin ausgerichtet, insofern die eschatologische Zukunft sich „schon“ in der Gegenwart heilsam auswirkt, aber „noch nicht“ umfassend durchgesetzt hat. Diese Spannung zwischen dem Schon und dem Noch nicht kommt auch in unterschiedlichen Übersetzungen des griechischen Wortes basileia zum Ausdruck: Übersetzt man mit „Reich“, so verbindet sich damit eher die Assoziation des Räumlich-Institutionellen; übersetzt man mit „Herrschaft“, so rückt stärker der Aspekt eines dynamischen Geschehens, eines aktiv sich Durchsetzenden in den Fokus.

Bereits im NT kommt es zu einer christologischen Transformation des R.-G.-Verständnisses. Nach christlicher Überzeugung hat sich in Jesu Tod und Auferweckung das von ihm verkündete eschatologische Geschehen bereits unwiderruflich durchgesetzt und sich damit seine Botschaft in seinem eigenen Schicksal bewahrheitet. Infolge dessen kann Paulus von der Herrschaft Christi sprechen, die so lange dauert, bis Gott „alle Feinde unter seine Füße gelegt hat“ (1 Kor 15,25). Die Herrschaft des von den Toten auferweckten Gekreuzigten richtet sich demnach gegen alle Mächte, die der universalen Durchsetzung des R. G. noch entgegenstehen, und sie zielt auf den Miteinbezug der ganzen Schöpfung in seine eschatologische Lebenswirklichkeit.

Auf dieser paulinischen Linie liegt es auch, wenn Origenes in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium Christus als die autobasileia bezeichnet (Migne PG 13, 1197). Der auferstandene und erhöhte Christus verkörpert für Origenes das R. G., weil er die geistige Lebensordnung Gottes geoffenbart hat und das R. G. daher Raum gewinnt, wo immer Menschen ihre Lebensgestaltung an ihm ausrichten. Es zeigt sich hier also eine Tendenz zur Verinnerlichung und Spiritualisierung.

2. Zur Geschichte des Reich-Gottes-Verständnisses

In dieser Entwicklung reflektiert sich die veränderte Situation des Christentums nach dem Verblassen einer Naherwartung der Parusie. Das erfordert es, sich längerfristig in der Welt einzurichten und sich in ein Verhältnis zu deren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten zu setzen. Vorangetrieben wird dieser Prozess insb. durch die sog.e Konstantinische Wende. Diese Entwicklung erweist sich jedoch als ambivalent. Denn das Bestreben des Christentums, sich mit den politisch-kulturellen Verhältnissen zu arrangieren und sich als eine institutionelle Größe in der Welt zu etablieren, kann die Befürchtung wecken und nähren, dass ihm damit sein eschatologischer Stachel gezogen wird. Das hat verschiedentlich zur Revitalisierung einer Naherwartung der Vollendung des in Christus bereits angebrochenen eschatologischen R.s G. geführt. Beispiele dafür sind der Montanismus in der Alten Kirche, im Hochmittelalter Joachim von Fiore und die sich auf ihn berufende, v. a. von Teilen des Franziskanerordens getragene Bewegung des Spiritualismus sowie Thomas Müntzer im Kontext der Bauernkriege des 16. Jh. Darin artikulieren sich auf unterschiedliche Weise Protest und Auflehnung gegen den jeweiligen Weltzustand. Begründet und motiviert wird dies durch die eschatologische Perspektive, die die biblische Botschaft vom Kommen des R.s G. eröffnet. In den erwähnten Bewegungen kommt das mit ihr verbundene herrschafts- und sozialkritische Potential zum Ausdruck. Unter Bezugnahme auf den eschatologischen Herrschaftsanspruch Gottes werden ungerechte soziale Zustände und gesellschaftliche Machtverhältnisse in Frage gestellt und bekämpft. Bei Joachim und T. Müntzer richtet sich das gegen das Machtgebaren und die Privilegien einer verweltlichten Kirche, die mittlerweile zum dominanten gesellschaftlichen Machtfaktor geworden war.

Die eschatologisch-kritischen Bewegungen waren jeweils schon nach kurzer Zeit wieder abgeebbt, da sich ihre Naherwartung nicht erfüllt hatte. So konnten sie auch keine tragfähige Grundlage für eine theologisch angemessene Bestimmung des Verhältnisses der bereits gegenwärtigen Wirklichkeit des R.s G. und seiner eschatologischen Perspektive zur weitergehenden Geschichte und ihren Herrschaftssystemen bereitstellen. Wegweisend dafür wurde vielmehr die Civitas-Lehre des Augustinus. Nachdem zunächst Eusebius von Caesarea die mit der Konstantinischen Wende erfolgte Veränderung mit der eschatologischen Heilszeit identifiziert hatte, sieht Augustinus sich nach dem Untergang des römischen Reiches zu einem differenzierteren Verständnis genötigt. Dazu dient ihm die Unterscheidung einer civitas Dei von der civitas terrena. Sie werden „durch zweierlei Liebe begründet, die irdische durch Selbstliebe (amor sui), die sich bis zur Gottesverachtung steigert, die himmlische durch Gottesliebe (amor Dei), die sich bis zur Selbstverachtung erhebt“ (Augustin. civ. XIV 28). Durch diese Unterscheidung kann Augustinus den Gegensatz zwischen dem R. G. und den „Mächten dieser Welt“ verdeutlichen. Denn zur civitas Dei gehören alle diejenigen, die auf das Reich Christi und auf Gott als sein höchstes Gut ausgerichtet sind. Trotz dieses Gegensatzes der beiden civitates kann es jedoch einen dem Willen Gottes entsprechenden modus vivendi zwischen ihnen geben und die civitas Dei sich der staatlichen Herrschaft gegenüber loyal verhalten. Denn insofern der Staat gewährleistet, dass Menschen mit einer gegensätzlichen Grundausrichtung ihres Menschseins friedlich zusammenleben, hat er eine positive Funktion. Die Civitas-Lehre ermöglicht Augustinus somit beides: einerseits die Distanz der Christen zum Staat, andererseits aber auch ihre Loyalität als Staatsbürger zu betonen. Die religiöse Frage nach dem Heil des Menschen muss deshalb konsequent von den Fragen und Zielen innerweltlicher Herrschaft unterschieden werden.

Im Bereich des Staates sind demnach die beiden civitates miteinander vermischt (vgl. Augustin. civ. X 32,4). Das gilt nach Augustinus aber auch für die Kirche. Zwar ist die gegenwärtige Kirche bereits das Reich Christi, aber ihr steht noch ein Gericht bevor, weil sie sich aus Guten und Bösen zusammensetzt. Deshalb muss die gegenwärtige Herrschaft Christi vom eschatologischen R. G. unterschieden werden (Augustin. civ. XX 9). Genauso wenig wie die civitas terrena mit dem Staat identifiziert Augustinus also die sichtbare Kirche mit der civitas Dei.

Wie schon bei Origenes zeigt sich somit auch bei Augustinus eine starke Tendenz zur Verinnerlichung des R.-G.-Verständnisses. Die Gegenwart des R.s G. wie auch die auf seine eschatologische Vollendung gerichtete Perspektive manifestieren sich in der inneren Ausrichtung des Menschen, die konstitutiv ist für die civitas Dei. Den anthropologischen „Ort“ dieser inneren Ausrichtung bezeichnet Augustinus mit dem biblischen Begriff des Herzens. Er steht für das innere Streben und seine Dynamik, das Suchen nach Wahrheit und Glück, das durch nichts Weltliches, sondern allein durch Gott erfüllt werden kann (conf. I 1,1). Nach Augustinus ist es somit das Herz, das den Menschen auf das R. G. verweist und auch dessen Gegenwart bereits erfahren lässt.

Im Gefolge der Civitas-Lehre Augustins unterscheidet das Mittelalter zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt (sacerdotium und regnum bzw. imperium). Die mittelalterliche Geschichte ist geprägt durch die Rivalität dieser beiden Gewalten. Im Gegensatz zu Augustinus wird die civitas Dei nun mit dem sacrum imperium identifiziert (Karl der Große). Das R. G. wird damit zu einer innergeschichtlichen politischen Größe, es kommt zu einer Sakralisierung des Politischen bei den Karolingern und den Ottonen. Auch die Gegenbewegung der gregorianischen Reform, der es um die Zurückdrängung des Einflusses der weltlichen Herrscher auf die Kirche ging, blieb ganz auf dieser Linie; sie veränderte lediglich die Vorzeichen, wenn nun die sichtbare Kirche mit dem bereits gegenwärtigen R. G. identifiziert wird. Die Kirche versteht sich daher selbst als eine politische Größe, was seinen Ausdruck in der Beanspruchung der plenitudo potestatis durch Papst Innozenz III. findet.

Angesichts der Politisierung der R.-G.-Botschaft in den Bauernkriegen des 16. Jh. unterscheidet Martin Luther in seiner Zwei-Reiche-Lehre wieder deutlich zwischen der Herrschaft Gottes und der weltlich-politischen Herrschaft. Zunächst einmal sieht er sie aber darin miteinander verbunden, dass sie beide von Gott kommen. Das weltliche Regiment dient Gott dazu, ein gedeihliches und friedliches Zusammenleben der Menschen angesichts ihrer Bosheit zu ermöglichen. Dass Gott sie nicht ihrem selbstzerstörerischen Werk überlässt, ist Ausdruck seiner Güte und Barmherzigkeit. Das eschatologische R. G. lässt sich mit den Mitteln weltlicher Herrschaft jedoch nicht herbeiführen. Es fordert vielmehr Gewaltlosigkeit und die Bereitschaft, nötigenfalls auch Unrecht zu erleiden. Denn es kommt allein Gott zu, sein R. zu errichten. Begründet wird es durch sein Wort und den Heiligen Geist, durch die Christus in den an ihn Glaubenden herrscht. Auch bei M. Luther zeigt sich somit wiederum eine Verinnerlichung des R.-G.-Verständnisses.

Während M. Luther konsequent auf der Prärogative des Handelns Gottes insistiert, rückt in der Neuzeit die Frage ins Zentrum, wie sich das Kommen des eschatologischen R.s G. zum innergeschichtlichen Fortschrittsprozess verhält. Beginnend mit dem Pietismus, der die Notwendigkeit eines äußeren Sichtbarwerdens der inneren Umwandlung der Menschen betont, wird die Auffassung dominant, dass die Welt sich allmählich immer mehr zum Besseren entwickle. Die Aufklärung versteht dies dann als Prozess der Selbstentfaltung der Vernunft (Vernunft – Verstand). Nach Immanuel Kant hat das seine Grundlage in dem jeden Menschen unbedingt beanspruchenden moralischen Gesetz, in dem sich der durch die Vernunft erkennbare Wille Gottes zeigt. Dieses moralische Gesetz stellt das Prinzip einer moralischen Weltordnung dar. Aufgrund des Hangs zum Bösen im Menschen kann deren Verwirklichung jedoch nicht von ihm allein erwartet werden. Die moralisch Handelnden müssen vielmehr darauf hoffen, dass ihre Bemühungen von einer „höhern Weisheit“ (Kant AA VI: 100) vollendet werden. Anders als I. Kant geht Georg Wilhelm Friedrich Hegel davon aus, dass die Vernunft nicht erst durch moralisches Handeln verwirklicht werden muss, sondern die Wirklichkeit bereits von der Vernunft durchdrungen ist und sich das dann auch in der Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) zeigt. G. W. F. Hegel transformiert die R.-G.-Erwartung nicht wie I. Kant in ein moralisches Projekt; er begreift vielmehr den Geschichtsprozess als die Gestaltwerdung des R.s G. als des Absoluten. Die Unableitbarkeit eines Handelns Gottes, die bei I. Kant hinsichtlich der Vollendung des R.s G. noch angeklungen ist, wird bei G. W. F. Hegel eliminiert. Weil das Absolute der Wirklichkeit immer schon immanent ist, um im Geschichtsprozess zu sich selbst zu finden, kommt es bei G. W. F. Hegel zu einer „Vergottung der Geschichte“ (Adorno 1966: 44) und damit zu einem Verständnis des R.s G., das als deren notwendiges Resultat erscheint.

3. Theologische Leitlinien

Die Aneignung der Erwartung des eschatologischen R.s G. ist immer bezogen auf bestimmte Wirklichkeitserfahrungen und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen, Hoffnungen oder Bedrängnisse. Einige theologische Leitlinien bleiben unverzichtbar für eine Prüfung der Angemessenheit des jeweiligen Verständnisses hinsichtlich des biblischen Ursprungs.

a) Es muss die uneingeschränkte Prärogative Gottes und seines Handelns zur Geltung kommen. Das Kommen der eschatologischen Gottesherrschaft verdankt sich ganz der souveränen Initiative Gottes; es wird nicht durch menschliches Handeln begründet oder herbeigeführt und ist infolge dessen auch nicht das Ergebnis innergeschichtlicher Bewegungen oder Entwicklungen. Die Herrschaft Gottes setzt sich vielmehr überall da durch, wo Menschen die Fixierung auf sich selbst und damit auch eigene Herrschaftsansprüche aufgeben.

b) Die bereits gegenwärtige eschatologische Gottesherrschaft ist als eine pneumatische Wirklichkeit zu verstehen, als „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). Als solche verwandelt sie den Menschen innerlich, in seinem Herzen, in dem alle seine Kräfte und Vermögen verbunden sind und von wo daher auch alle seine Bestrebungen ausgehen. Sie schenkt ihm in neuer Weise Gemeinschaft mit Gott und versöhnt ihn dadurch mit sich selbst, mit seiner Endlichkeit und Gebrochenheit, indem sie ihm die Erfüllung seiner Sehnsucht nach einem unbedingten Anerkanntsein vermittelt. Das ermöglicht ein neues Verhältnis zur Mitwelt, eine wohlwollende und fürsorgende Zuwendung zu ihr.

c) Als pneumatische Wirklichkeit sprengt das R. G. institutionelle Grenzen. Es darf daher auch nicht mit der institutionalisierten Kirche identifiziert werden, denn die Neuausrichtung des Menschen durch die geistgewirkte Verwandlung seines Herzens erfolgt auch in außerkirchlichen Zusammenhängen. So ist die Kirche zwar „Keim und Anfang des Reiches auf Erden“ (LG 5); da sie aber als sündige Kirche immer auch beeinträchtigt und beschädigt ist durch menschliche Unzulänglichkeiten und Schwächen, streckt sie sich zugl. „verlangend nach dem vollendeten Reich“ aus (LG 5).

d) Die Vollendung des R.s G. kann nur von Gott erhofft werden, denn sie setzt die Überwindung alles dessen voraus, was einer endgültigen, unverlierbaren Gemeinschaft mit Gott jetzt noch im Wege steht: die Versöhnung der Leidenden oder die Brechung der Macht des Todes. Unbeschadet dessen ist das menschliche Tun für das Kommen des R.s G. nicht bedeutungslos. In Anlehnung an I. Kant in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ (1798) lässt sich sagen: Das Handeln von Menschen kann „als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon) angesehen werden“ (Kant 1798: 142), das auf das Kommen des R.s G. und seine Vollendung verweist.