Rechtssoziologie

R. im umfassenden Sinn lässt sich als die Lehre verstehen, die das Recht als einen Teilbereich der Gesamtgesellschaft begreift und in seinen Interdependenzen mit den anderen Gesellschaftsbereichen untersucht. Diese allg.e Beschreibung muss in mehrfacher Hinsicht spezifiziert werden. Weniger relevant ist dabei die institutionelle Zuordnung rechtssoziologischer Forschung, i. S. ihrer Verortung an den juristischen oder den sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Entscheidend sind vielmehr die unterschiedlichen methodischen Verfahren, Perspektiven und Zielsetzungen, die sich unter dem gemeinsamen Obertitel „R.“ versammeln. Grundsätzlich zu unterscheiden sind v. a. drei Ansätze:

1. Recht als plurales Gesellschaftsphänomen

In der ersten Verständnisvariante geht es der R. um die Rückführung des Rechts als einer autonomen normativen Ordnung auf diejenigen Gesellschaftsphänomene, denen sich diese Form sozialer Normativität erst verdankt. Typisch ist daher eine komparative Perspektive, die von einer Pluralität sozialer Normativitäten ausgeht und den Begriff des Rechts nicht exklusiv auf explizite staatliche Rechtssetzung reduziert. Dieses Verständnis ist historisch am engsten mit der Entstehung der R. als eigenständiger Disziplin verknüpft. Namentlich Eugen Ehrlichs 1913 erschienene „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ konfrontiert das staatliche Recht nicht nur mit alternativen normativen Ordnungen, sondern auch mit „Tatsachen des Rechts“ (Ehrlich 1967: 83), i. S. sozialer Üblichkeiten, Konventionen etc., die dem Recht im engeren Sinne notwendig zugrunde liegen sollen. Die R. begründet auf diese Weise zugl. ein notwendig pluralistisches Rechtsverständnis. Entspr. berufen sich moderne rechtspluralistische Konzeptionen, denen in der globalisierten Moderne und den in ihr zu Tage tretenden Phänomenen eines „transnationalen“ Rechts eine erhöhte Plausibilität zuzukommen scheint, auf E. Ehrlichs Ansatz. Die frühe schon gegen E. Ehrlich gerichtete Kritik insb. durch Hans Kelsen hält dem entgegen, dass der Pluralismus des Rechtsverständnisses durch einen Monismus der Methoden erkauft wird: Der rechtssoziologische Versuch, die Differenz von Staat und Gesellschaft aufzulösen, führe im Ergebnis zu einer Beseitigung der grundlegenden Dichotomie von Sein und Sollen. Dieser im weiteren Sinne neukantianischen Kritik zufolge kann die R. die Rechtswissenschaft nicht ersetzen, sondern diese allenfalls bei ihren spezifischen Aufgaben unterstützen. Die Soziologie bleibt im Verhältnis zur Rechtswissenschaft damit auf die Rolle einer „Hilfswissenschaft“ begrenzt (Kantorowicz 1992: 13). E. Ehrlich selbst hat der Kelsen’schen Interpretation seines Ansatzes allerdings vehement widersprochen; eine Verwechslung von Seins- und Sollensregeln sei auch bei ihm nicht intendiert. Auch der zweite bedeutendste klassische Vertreter der R., Max Weber, behält die neukantianische Differenzierung ausdrücklich bei, wenn er für die klare Trennung zwischen der juristisch-normativen und der soziologisch-empirischen Betrachtungsweise argumentiert. Im Unterschied zu E. Ehrlich grenzt M. Weber das Recht von anderen sozialen Ordnungssystemen aber ausdrücklich ab; als Differenzierungskriterium dient ein nur im Recht existierender, der Rechtsdurchsetzung dienender institutionalisierter „Zwangsapparat“ (Weber 1967: 76 f.). Die Rechtsentwicklung erläutert M. Weber zudem als einen Prozess sukzessiver Formalisierung und Rationalisierung.

2. Recht als sozialwissenschaftliches Erkenntnisobjekt

Ein deutlicherer Methodenmonismus charakterisiert die zweite Verständnisvariante. Als R. gelten danach Verfahren, die i. S. der empirisch forschenden Sozialwissenschaften Recht mit Blick auf die kausalen Verknüpfungen mit seiner Umwelt untersuchen. Dabei geht es einerseits um die Einwirkung auf das Recht selbst, i. S. markanter äußerer Faktoren, die rechtliche Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Andererseits geht es um die eigenen Steuerungsleistungen des Rechts, also um die etwaigen durch rechtliche Mechanismen in der Gesellschaft hervorzurufenden Veränderungen. Charakteristisch für diese Perspektive ist, dass weder die angewandte Methode noch die Untersuchungsfragen rechtsspezifisch sind. Das Recht bildet lediglich ein bestimmtes Untersuchungsgebiet, auf das die entspr. ebenso auf andere Gesellschaftsbereiche anwendbaren Untersuchungsdesigns angewandt werden können. Der Anspruch des Rechts, eine charakteristische „Eigengesetzlichkeit“ aufzuweisen (Kelsen 1960: 111), wird zurückgewiesen und durch allg.e sozialwissenschaftliche Erklärungsmuster ersetzt. Rechtliche Entscheidungsfindung ist danach nicht allein durch juristische Entscheidungsprogramme in Form von Normen und speziellen Anwendungsmethoden bestimmt, sondern ebenso durch eine Vielzahl von sozialen Faktoren, deren konkreter Einfluss im Einzelfall wissenschaftlich zu untersuchen ist. Historisch prominent tritt diese Perspektive v. a. in den USA auf, wo sich zunächst durch Roscoe Pound eine „[s]ociological [j]urisprudence“ (Pound 1907: 607) etabliert, die kurz darauf zum sog.en legal realism weiterentwickelt wird. An diese Sichtweise schließen dann unter dem Obertitel der „critical legal studies“ Positionen an, deren Gemeinsamkeit darin liegt, das Recht als lediglich maskierte Form politischer Machtausübung (Macht) entlarven zu wollen. Gegenwärtige Anknüpfungen an den methodologischen Grundgedanken finden sich ferner in Versuchen, die einen „empirical“ oder „realistic turn“ des Rechts und der Rechtswissenschaft einfordern, damit aber weniger eine grundsätzliche Rechtsskepsis zum Ausdruck bringen wollen als vielmehr die pragmatische Anstrengung bilden, die rechtlichen Entscheidungsfindungen an gängige Erkenntnisse und Erkenntnisstandards in den Sozialwissenschaften anzuschließen.

3. Recht als eigenständiger Teil der Gesellschaft

Drittens werden als R. auch Ansätze bezeichnet, die stärker theoretisch-konzeptionell ansetzen und darauf abzielen, die spezielle Eigenleistung des Rechts für die moderne Gesellschaft herauszuarbeiten. In dieser Sicht wird Recht als ein separates Phänomen verstanden, dessen Funktion und Verfahren sich signifikant von anderen Sozialbereichen und deren jeweiligen Techniken unterscheiden. In diesem Sinne nimmt die R. die Eigenrationalität des Rechts als solche ernst und begreift sie nicht als ein weitgehend bloßes Scheinphänomen, das als solches entdeckt und damit zugl. aufgehoben werden soll. Zugl. jedoch bleibt die eigene Position der R. die eines externen Beobachters, der von außen auf die rechtlichen Verfahren und die ihnen eigenen Selbstbeschreibungen blickt. R. in diesem Verständnis ist Beobachtung von, nicht Teilnahme an den rechtsinternen Perspektiven. Sie bleibt eine Außenbeschreibung des Rechts auch dort, wo sie dessen Selbstbeschreibung für ihre eigene Beschreibung mit in Rechnung stellt. Das unterscheidet sie nicht nur von der Rechtsdogmatik (Dogmatik), sondern auch von der Rechtstheorie. Der Sache nach wird damit das neukantianische Projekt des Methodendualismus übernommen und zugl. auf charakteristische Weise weiterentwickelt. Die Argumentation ist nun nicht mehr bewusstseinsphilosophisch grundiert, sondern auf eine Vielzahl funktional spezialisierter gesellschaftlicher Teilbereiche bezogen, denen jeweils entspr.e Eigenrationalitäten zukommen sollen. Als R. oder rechtssoziologisch aufgeklärte Rechtswissenschaft soll dann auch die Aufgabe gelten, das Recht für seine Umwelt mit ihren jeweiligen Eigenrationalitäten und den korrespondierenden Anforderungen zu sensibilisieren. Das schließt eine Perspektive ein, die das soziologisch aufgeklärte Verständnis der Differenzen zwischen dem Recht und seiner Umwelt methodologisch wendet. Mit der Einsicht in die Eigenständigkeit des Rechts geht dann die Einsicht in die Eigenständigkeit seiner Welt- und Wirklichkeitskonstruktion einher, die von einer wiederum eigenständigen juristischen Epistemologie zu analysieren sein soll.