Rechtssicherheit

1. Einleitung

Viele Rechtsnormen verlangen ein Handeln oder Unterlassen. Der Regelungsinhalt muss für den Betroffenen erkennbar und die Norm hinreichend bestimmt sein, damit er sich auf deren Befolgung einrichten kann.

Andere Rechtsnormen gewähren eine Begünstigung. Der Adressat mag sich dann auf die geschaffene Rechtslage einrichten. Allerdings kann sich das Recht alsbald wieder ändern. Eine zunächst vorteilhafte Disposition wird hierdurch entwertet. Gibt es aber Umstände, unter denen sich der Adressat darauf verlassen kann, dass das Recht zumindest für eine gewisse Zeit nicht zu seinen Lasten verändert wird?

Dort wie hier gerät das in Art. 20 GG angelegte Rechtsstaatsprinzip (Rechtsstaat) in das Blickfeld, dessen „wesentliches Element“ (BVerfGE 88,384 [403]) die R. ist.

2. Rechtssicherheit und Bestimmtheit des Rechts

Schon früh hat das BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip die Anforderung abgeleitet, dass eine Rechtsnorm „in ihren Voraussetzungen und ihrem Inhalt so formuliert sein [muss], daß die von ihr Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können“ (BVerfGE 31,255 [264]).

Je gewichtiger die gesetzgeberische Inpflichtnahme des Regelungsadressaten ist und je drastischere Konsequenzen aus einem Normverstoß folgen, desto höhere Anforderungen werden an die Bestimmtheit der Norm und damit die Vorhersehbarkeit ihrer Auswirkungen gestellt (BVerfGE 93,213 [238]). Dies gipfelt in bes. strengen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG für das Strafrecht (BVerfGE 126,170 [194]).

Allerdings verursacht nicht einmal hier jede Auslegungsbedürftigkeit einer Norm deren verfassungswidrige Unbestimmtheit (BVerfGE 93,213 [238]). Der Gesetzgeber kann und soll nicht jeden künftig auftretenden Sachverhalt schon selbst abschließend regeln und damit Verwaltung und Gerichten jeden Spielraum bei der Anwendung einer Norm nehmen. Damit würde der verfassungsrechtliche Selbststand der anderen Gewalten geringgeschätzt und die Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit unmöglich gemacht.

Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe („öffentliche Sicherheit“, „Zuverlässigkeit“, „Stand der Technik“) ist daher ebenso unabdingbar und verfassungsrechtlich akzeptabel (BVerfGE 102,347 [361]) wie der Umstand, dass der Verwaltung durch den Gesetzgeber oftmals ein Ermessen bei der Auswahl von Rechtsfolgen eingeräumt wird. Sogar das Strafrecht überlässt es dem Richter, bei Verwirklichung eines Straftatbestands eine konkrete schuldangemessene Strafe aus einem breiten Korridor auszuwählen (z. B. § 153 StGB: „Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren“).

Dies ändert aber nichts daran, dass der Gesetzgeber der Verwaltung umso genauere Handlungsvorgaben zu erteilen hat je stärker die Normen in Grundrechte eingreifen und die Gerichte stets in der Lage sein müssen, eine Rechtskontrolle durchzuführen (BVerfGE 110,33 [53 ff.]).

3. Rechtssicherheit und Bestand des Rechts

Angesichts periodischer Wahlen in der parlamentarischen Demokratie und sich womöglich ändernder Mehrheiten kann keine Norm (jenseits von Art. 79 Abs. 3 GG) auf immer unveränderbar feststehen. Ansonsten könnte der Gesetzgeber weder auf geänderte Gegebenheiten reagieren noch neue politische Vorhaben umsetzen. Die hieraus erwachsende potenzielle Instabilität des Rechts reibt sich bei begünstigenden Regelungen an dem Wunsch der Regelungsadressaten, möglichst lange von der durch die Norm geschaffenen Rechtslage zu profitieren. Mit Wirkung für die Zukunft darf ein Gesetz stets geändert werden (BVerfGE 68, 193 [222]). Problematisch können aber Neuregelungen sein, die auf einen Zeitpunkt vor ihrem Erlass zurückwirken.

Im Strafrecht gilt aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG ein auf den Zeitpunkt der Handlung abstellendes absolutes Rückwirkungsverbot für Gesetze (BVerfGE 81,132 [135]). Auch daneben bietet das GG Vertrauensschutz gegenüber rückwirkenden Belastungen an (BVerfGE 126,369 [393]), der auf dem objektiven Rechtsstaatsprinzip im Zusammenwirken mit den jeweils betroffenen Grundrechten (BVerfGE 101, 239 [263]) fußt.

Man differenziert zwischen zwei Konstellationen, die von den Senaten des BVerfG unterschiedlich beschrieben werden. Wenn ein Gesetz „in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände“ eingreift (BVerfGE 72,176 [196]) und hierdurch Regelungen für einen abgeschlossenen Lebenssachverhalt verschlechtert werden (z. B. rückwirkende Erhöhung eines Steuersatzes nach Beendigung des Steuerjahrs) handelt es sich um einen Fall der echten Rückwirkung (auch: „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Diese ist wegen der gebotenen R. jenseits von Bagatellfällen (BVerfGE 30,367 [389]) grundsätzlich unzulässig, es sei denn, es liegt entweder schon kein schützenswertes Vertrauen vor, weil die Neuregelung absehbar (BVerfGE 72,200 [260 f.]) oder die bisherige Rechtslage verworren (BVerfGE 126,369 [393 f.]) bzw. verfassungswidrig war (BVerfGE 13,261 [272]). Oder es bestehen erhebliche öffentliche Interessen, die das individuelle Vertrauen des von der Veränderung Belasteten ausnahmsweise überwiegen (BVerfGE 13,261 [272]).

Wirkt der Gesetzgeber hingegen auf „Rechtsbeziehungen ein, die in der Vergangenheit begründet worden, auf Dauer angelegt und noch nicht abgeschlossen sind“ (BVerfGE 72,175 [196]); z. B. Herabsetzung der Pensionsgrenze für noch aktive Beamte), handelt es sich um einen Fall der unechten Rückwirkung (tatbestandliche Rückanknüpfung), die grundsätzlich zulässig ist. Vertrauensschutz setzt sich hier nur durch, wenn bei einer Abwägung das Vertrauen auf den Fortbestand des Rechtszustandes die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl überwiegt (BVerfGE 127,1 [17 ff.]). Der Gesetzgeber kann auch verfassungsrechtlich relevantes Vertrauen durch Übergangsregelungen schützen und so die Abwägung zugunsten der Zulässigkeit der Rückwirkung beeinflussen.

4. Rechtssicherheit in Verwaltung und Rechtsprechung

Auch für die Exekutive ergeben sich aus dem Vertrauensschutzprinzip Restriktionen. Diese kann daher Verwaltungsakte weder ohne Rücksichtnahme auf berechtigtes Vertrauen selbst wieder aufheben (vgl. §§ 48, 49 VwVfG) noch sich in Widerspruch zu ihrem eigenen Handeln setzen. Diese Selbstbindung der Verwaltung wird über Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt. Sie trifft die rechtsprechende Gewalt (Rechtsprechung) nicht, da diese aufgrund von Art. 97 GG allein an das Gesetz gebunden ist: „Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich“ (BVerfGE 87,273 [278]). Allerdings genießen rechtskräftige Urteile einen erheblichen Bestandsschutz, der sich in den hohen Hürden manifestiert, die für eine Durchbrechung der Rechtskraft zu überwinden sind (vgl. § 578 ff. ZPO, 359 StPO).