Realismus

  1. I. Philosophische Grundlegung und Diskussion
  2. II. Realismus als Theorie Internationaler Politik

I. Philosophische Grundlegung und Diskussion

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1. Die Problematik des Wissens

Der Begriff R. kennzeichnet ein Verständnis, bei dem zwischen dem Intelligiblen (als dem Vorstellbaren) und dem tatsächlichen Sein in der Existenz, wie es ist, unterschieden wird. Erfahrung und Erklärungen zur Erfahrung müssen nicht notwendigerweise die Wirklichkeit beschreiben, sondern können oft nur unvollständige Anzeigen zur Wirklichkeit (i. S. einer umfassenden Realität) darstellen. R. meint in dieser Hinsicht eine epistemologische Position vertreten zu können, bei der die Existenz (des Seins) auch unabhängig von der jeweils konkreten Erfahrung als Erscheinung von Wirklichkeitszuständen eingenommen werden kann. Verbunden wird mit dieser epistemologischen Perspektive zugl. ein Wahrheitsanspruch (Wahrheit) auf die Interpretation von Welt, die in ihrer Ganzheit begriffen werden will.

Seit Platons Philosophie ist der R. immer schon ontologisch ausgerichtet gewesen: Die ontologische Frage führt hierbei stets zu einem Dualismus des Wissens, a) insofern hier nach der Methodik des Wissens gefragt wird und b) aber v. a. auch, was dieses Wissen überhaupt ist?

In der Scholastik des Mittelalters wird dieser metaphysische R. gleich in drei Varianten angezeigt und diskutiert:

a) in der platonischen Position, derzufolge die Idee von Etwas vor dem Etwas als Erscheinung stehe (ante rem),

b) in der nominalistischen Perspektive, welche ein Etwas immer nur aufgrund einer konkreten Anschauung von Etwas bezeichnen will (post rem) und schließlich

c) in der aristotelisch-thomistischen Synthese, die von der korrelativen Verbundenheit zwischen Idee und Erscheinung ausgeht (in rebus).

Die Aufklärung bricht mit dieser Erkenntnistrias und geht seit Immanuel Kant entweder den idealistischen Weg einer Erklärung a priori, die sich nicht als ontologisch versteht, oder aber den strikt empiristischen Ansatz der positivistischen Erklärung der Dinge dieser Welt, wie sie in ihrer konkreten Erscheinung auftreten und erfahren werden. Im 20. Jh. hat der methodische Empirismus nach Karl Popper bzw. der Kritische Rationalismus in fundamentaler Abkehr von der ontologischen Beweisführung auf die Bedeutung der Regularien der Induktion verwiesen, jedoch hierbei das heuristische Problem nicht lösen können, eine Begründung dafür zu geben, welches Wissen überhaupt das Richtige ist. Insofern ist die Relation von Subjekt und Objekt, welche die moderne Philosophie traditionellerweise in Gefolge der Lehren von David Hume und I. Kant vornimmt, entweder nur deskriptiv oder aber idealisierend, und damit aus Sicht der Vertreter des R. unbefriedigend. Ein bes.s Problem stellt v. a. die idealisierende Hermeneutik des Kantschen Apriorismus dar, obwohl (oder gerade weil) diese nahe am ontologischen R. zu liegen scheint. Zu sehr wird bei diesem Seinsverständnis über die Dinge dieser Welt geredet und nachgedacht i. S. einer rein formalen Begriffsführung, bei der die Erscheinungsformen nur idealisiert und nicht konkret wahrgenommen werden können. Insofern ist es logisch, wenn man sich dann nur auf eine Art von Common Sense-R. verständigen kann (und will). Es wird dann lediglich das als realistisch anerkannt, wo es eine formale Übereinstimmung der logischen Grundprinzipien des Denkens (z. T. auch ihrer sprachlichen Kriterien) gibt. Damit verbunden ist aber immer noch eine Entontologisierung des Wirklichkeitsverständnisses. Dieses beruht dann eben (doch nur) auf formaler (und d. h. hier: zeitbedingter) Übereinstimmung unter den Diskursakteuren.

2. Die Renaissance der Metaphysik

Die Wiederentdeckung der Metaphysik erfolgt als Absage und Kampferklärung an die Konstellation der postmodernen Relativierungen (Postmoderne) und die ihr zugrunde liegenden Konstruktivismen. Die Kontingenz der Erscheinungsformen wird von der metaphysischen Perspektive aus (wieder) in Zusammenhang mit der Vorstellung von einem Absoluten gebracht. Kontingenz selbst wird nur dadurch erfahrbar, weil (und wenn) es ein Absolutes gibt. R. bedeutet in dieser Hinsicht eine systematische Epistemologie, die sich einer ganzheitlichen Betrachtung öffnet, die wiederum zur Metaphysik führt. Hierbei ist der R. auch durch das Spekulieren-Können über Modelle des Absoluten gekennzeichnet, wie sie in der Unendlichkeit der jeweiligen Realität noch gar nicht stattgefunden haben – aber eben stattfinden könnten. Das Konkrete ist jeweils immer nur so lange konkret (oder erst dadurch konkret ermittelbar), wie man es im Verhältnis zu einem Unkonkreten, eben dem Absoluten, denken kann. Der spekulative R. hat seine Geburtsstunde mit dem sog.en Goldsmith Kolloquium, welches von den Philosophen Graham Harman, Quentin Meillassoux, Ian Hamilton Grant und Ray Brassier 2007 in London organisiert wurde. Auch wenn mittlerweile schon wieder Absetzbewegungen feststellbar sind, bleibt trotzdem die Gemeinsamkeit in der Wiedererneuerung der Ontologie als philosophische Richtung, mit der insb. der Rationalismus der Aufklärung attackiert wird. Die damit verbundene „proliferation of the real“ (Sparrow 2014: 146) ist zugl. auch eine Kampfansage an die klassische Phänomenologie, der vorgeworfen wird, eigentlich nur eine versteckte Form des Idealismus zu sein. Das epistemologische Problem ist die Frage nach der Qualität der Erscheinung in Bezug auf die Realität. Ist die Erscheinung eine Realität? Dahinter lauert die Frage, was die Erscheinung von Etwas überhaupt darstellt? – Was ist dieses Etwas und als was erscheint es dem Betrachter? Die Seinsfrage wird hier ontologisch zugl. auch gestellt als eine Frage nach der angemessenen (richtigen) Relation zwischen einer subjektiven und einer allgemeingültigen Deutung. Was nunmehr wieder in den Blick gerät, ist die epistemologische Rückkehr zu Wahrheitsfragen, die nicht einfach nur relational beantwortet werden sollen. Hierbei werden v. a. zwei Varianten hinsichtlich der heuristischen Voraussetzung diskutiert:

a) Es gibt eine Wirklichkeit, die auch unabhängig vom Denken existiert.

b) Es gibt eine Wirklichkeit, die nur mittels des Denkens er- und begründet werden kann.

Im Fall a) bedarf es weder des Denkens noch der Sprache – die Wirklichkeit ist, was sie ist (unabhängig davon, ob der Mensch sie wahrnimmt, versteht oder auch nicht). Im Fall b) ist die Wirklichkeit relational zum Denken und Sprechen – die Wirklichkeit ist, wie sie ist (d. h. abhängig davon, wie der Mensch sie hermeneutisch überhaupt wahrnehmen kann). Der R. bezieht sich hierbei heuristisch nicht nur auf das Sprachproblem oder die Frage nach der Erscheinung, sondern im eigentlichen, d. h. fundamentalen Sinn, auf das Wirklichkeitsproblem. Grundlegend ist hierbei die Frage, ob es eine Außenwelt gibt und wie sie wahrgenommen werden kann – und zwar in dem Sinne, ob und wie diese Wahrnehmung realistisch ist? D. h., wenn es eine vom Bewusstsein unabhängige Außenwelt gibt, kann diese nur über die analytische Form von Hypothesen erschlossen werden, die wiederum dann grundsätzlich metaphysisch sind. Dem Kantischen Apriorismus und dem Induktivismus der Positivisten (Positivismus) begegnet z. B. Victor Kraft mit dem Vorschlag der Konstruktion – und zwar in dem Sinne, dass eine logische Begriffsbildung von etwas Neuem angestrebt werden müsse.

3. Der Neue Realismus

Der Neue R. ist zwar so neu nicht, wie er propagiert wird, er ist aber deshalb so stark in den Wissenschaftstheorien der Gegenwart (wieder) geworden, weil die lange dominanten szientistischen Theorien des Empirismus und des Kritischen Rationalismus in Bezug auf die Realitätsaussagen allzu oft versagt haben bzw. hohe Fehlerhäufigkeiten aufweisen. Insofern ist es folgerichtig, dass sich die drei Hauptformen des R., a) der ontologische, b) der epistemologische und c) der methodologische eines zunehmend breiteren Diskurses in globaler Perspektive erfreuen. Im Grunde verweisen allerdings b) und c) auf den ontologischen R. bzw. sie kommen nicht an ontologischen Prämissen (etwa die Idee einer Außenwelt) vorbei. Der australische Philosoph David Malet Armstrong gilt hier als einer der wirkungsmächtigsten Vertreter des metaphysischen R. Die Frage der Außenwelt, des Universums, lässt sich seiner Ansicht nach nur über die Physik beantworten – und zwar einer Physik, die selbst metaphysisch wird, weil sie eben oft auch an den Fakten (als Erscheinungen von Etwas, was man nicht versteht), scheitert. Allerdings erscheint sein Grundverständnis allzu plakativ naturalistisch (Naturalismus), wenn er davon ausgeht „reality is nothing but this spatio-temporal system“ (Armstrong 1978: 261). Gegen derart naturalistische Vereinnahmungen der Metaphysik gibt es innerhalb der Debatte zum Neuen R. Widerstände, wie überhaupt die Debatte anzeigt, dass hierunter von verschiedener Seite Verschiedenes gedacht wird. So ist es auch kein Zufall, dass Begriffe wie Semi-R., lokaler R., perspektivischer R. oder struktureller R. die Fragestellungen eher ausufern als zusammenführen lassen. Ungeachtet dessen erscheint der Neue R. seit Beginn des 21. Jh. als eine wirkungsmächtige Neuinterpretation von Welt- und Wahrheitsansprüchen.

II. Realismus als Theorie Internationaler Politik

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Der R. ist eine einflussreiche Theorieschule der Internationalen Politik, die bis heute der dominierende Erklärungsansatz für internationale Politik in den USA, in Südeuropa und in vielen Schwellenländern ist. Während ihr in Deutschland nur noch wenige Wissenschaftler anhängen, erfreut sie sich unter Diplomaten, Politikberatern und Militärs weiterhin großer Beliebtheit. Als „Urvater“ des R. gilt seinen Vertretern der antike griechische Historiker Thukydides mit seinem Werk zum Peloponnesischen Krieg. Der R. stellt das Streben nach Macht und die Machtverteilung im internationalen System ins Zentrum der Analyse. Gemeinsam ist allen realistischen Strömungen die Annahme, dass Staaten die zentralen Akteure der Weltpolitik sind. Allerdings verorten verschiedene Strömungen des R. die Gründe für das Machtstreben der Staaten unterschiedlich, so dass sich diesbezüglich klassischer, ökonomischer, kultureller, struktureller, offensiver und Neoklassischer R. unterscheiden lassen.

Mit Bezug auf die Werke von Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes geht der klassische R. davon aus, dass sich das Verhalten von Staaten auf ein negatives, machtgetriebenes Menschenbild zurückführen lässt. Hans Morgenthau sieht in seinem 1948 erschienen Werk „Politics Among Nations“, einer Gründungsschrift der Disziplin der Internationalen Politik, als Ausweg aus dieser düsteren Weltsicht nur die Klugheit von Politikern. Ihnen obliegt es, die globale Machtverteilung richtig einzuschätzen, die Machtposition des eigenen Staates zu verbessern („nationales Interesse“) und die vielen Konflikte so zu „managen“, dass sie nicht in einen großen Krieg münden.

Allerdings blieb im klassischen R. der Machtbegriff diffus. So erscheint Macht bei H. Morgenthau zugl. als Motiv, Instrument und Ergebnis von Politik. Die Forderung nach der Entwicklung von Forschungsdesigns, die eine objektive Prüfung von Hypothesen erlauben, wurde laut. Als Antwort auf diese Forderung entwickelte sich der strukturelle R. oder auch Neorealismus. Nicht die menschliche Natur, so argumentiert Kenneth Waltz, sondern das anarchische Staatensystem (Anarchie, Anarchismus) sei entscheidend für das Verhalten von Staaten. Je nachdem, ob Macht auf verschiedene Staaten und Allianzen verteilt ist (Multipolarität, z. B. vor dem Ersten Weltkrieg), sich zwei Machtblöcke gegenüberstehen (Bipolarität, wie im Kalten Krieg) oder ein Hegemon die Weltpolitik bestimmt (Unipolarität, nach 1991), ergeben sich unterschiedliche Zwänge für das Verhalten von Staaten. Weil sie nämlich in einem Selbsthilfe-System ohne übergeordnete Instanz („internationale Anarchie“) agieren müssen, sind sie angehalten, stets über genug Macht in Form von militärischen Machtmitteln (capabilities) zu verfügen, um sich selbst zu verteidigen und so ihr Überleben zu sichern. Während die Hauptströmung der Neorealisten, K. Waltz folgend, nur militärischen Ressourcen Bedeutung zumisst, argumentieren ökonomische Realisten wie Robert Gilpin auch mit wirtschaftlichen Fähigkeiten.

Eine weitere Möglichkeit, die Machtanhäufung einzelner Staaten im System auszubalancieren, besteht darin, Allianzen zu bilden, um ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen (balance of power). Allerdings, wendet Stephen Walt ein, balancieren Staaten eher Bedrohungen als bloße Machtressourcen (balance of threat theory), weswegen sich kleinere, schwache Staaten eher bestehenden Allianzen und starken Staaten anschließen als eigene Allianzen aufzubauen (bandwagoning). Auf diese Weise kann S. Walt das bandwagoning-Verhalten vieler Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts besser erklären, führt jedoch mit „Bedrohung“ einen kaum valide messbaren Faktor ein.

Sowohl K. Waltz als auch S. Walt gehen davon aus, dass das Machtstreben von Staaten kein Selbstzweck ist, sondern dem Ziel dient, das Überleben im internationalen System zu sichern. Dieser Position, die als defensiver R. bezeichnet wird, steht der offensive R. gegenüber, als dessen Hauptvertreter John Mearsheimer gilt. Er geht davon aus, dass Staaten auch dann weiter nach Macht streben, wenn dies für ihr unmittelbares Überleben nicht mehr erforderlich ist. Die internationalen Beziehungen werden auf diese Weise noch konfliktgeladener, als es der klassische und der defensive R. annehmen.

Eine alternative Erklärung für die Häufung von Konflikten nach 1991 lieferte Samuel Huntingtons „Clash of Civilisations“ (kultureller R.). Aus seiner Sicht ist mit dem Ende des Kalten Krieges kein unipolares, sondern ein multipolares System entstanden, in dem Konflikte nicht mehr entlang ideologischer oder machtpolitischer, sondern kultureller und religiöser Bruchlinien verlaufen.

Der Neorealismus hatte zwar die Stabilität des bipolaren Systems gut erklären können, nicht aber den Zusammenbruch der UdSSR aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen. Dies stärkte Stimmen innerhalb der Theorieschule, die eine Rückbesinnung auf die klassischen Vertreter des R. forderten. Während der strukturelle R. nach K. Waltz suggeriert, dass Staaten sich außenpolitisch grundsätzlich ähnlich verhalten, versuchen neoklassische Realisten Unterschiede im Verhalten von Staaten mit gesellschaftlichen Faktoren zu erklären. Die Vertreter des neoklassischen R. – bspw. Randall L. Schweller – sind somit innerhalb der Internationalen Politik eher den Theorien der Außenpolitikforschung zuzurechnen. Zwar können durch die Hinzunahme gesellschaftlicher Faktoren Phänomene wie Neutralität oder unterschiedliche Außenpolitik trotz ähnlicher Machtressourcen nun besser erklärt werden; allerdings musste die Waltzsche Forderung nach konsistenten Forschungsdesigns und nach eindeutigen Ursache-Wirkungsmechanismen im neoklassischen R. wieder aufgegeben werden.