Raumordnung und Landesplanung

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1. Begriff und Entwicklung

Als Raumordnungsrecht (R.s-Recht) werden die Rechtsvorschriften bezeichnet, die bes. staatliche Träger dazu ermächtigen, den Gesamtraum der BRD und seine Teilräume durch zusammenfassende übergeordnete R.s-Pläne und durch Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen auch zur Förderung des territorialen Zusammenhalts in der EU zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern. Grundlage der gesamten R. auf Bundes-, Landes- und Regionalebene ist das ROG idF der Novelle 2017 (BGBl I: 1245). Mit diesem Gesetz hat der Bund die ihm durch die Föderalismusreform I (2006) eingeräumte Kompetenz der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG) mit Abweichungsmöglichkeit der Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GG ausgeübt. Das ROG unterscheidet: Ebenen der R. in der EU und dem größeren europäischen Raum (§ 2 Abs. 2 Nr. 6, § 24 Abs. 3 S. 1 ROG), R. des Bundes (§ 1 Abs. 1 S. 1 ROG) einschließlich der R. in der deutschen AWZ, R. der Länder – Landesplanung (L.) für das gesamte Landesgebiet und Regionalplanung als Teil der R. in den Ländern bezogen auf Teilräume eines Landes oder mehrere Länder. Die Länder dürfen auch räumliche oder sachliche Teilentwicklungsprogramme und Teilentwicklungspläne erlassen, z. B. für das brandenburgische Braunkohlengebiet.

Die bisherige Entwicklung der R. lässt sich grob einteilen in die überwiegend kommunal geprägte Frühphase bis 1933, die zentralistische Phase in der NS-Zeit, die von kontinentalem Großraumdenken geprägt war, die Phase der „persuasorischen“ R. der frühen Bundesrepublik, die ab 1967 einsetzende zur Entwicklungsplanung tendierende Planungseuphorie, die mit der Energiekrise 1973 einsetzende Konsolidierungsphase und die durch die deutsche Wiedervereinigung und den gesamteuropäischen Einigungsprozess geprägte Phase des Neubeginns, den das 2008 und 2017 grundlegend überarbeitete ROG programmatisch formuliert.

2. Ebenen und Verfahren

R. findet überwiegend als R. in den Ländern statt (§§ 13–16 ROG und die zahlreichen Vorschriften der L.s-Gesetze). R.s-Planung ist wie die kommunale Bauleitplanung (Baurecht) Gesamtplanung. Beiden gemeinsam ist eine spezifische Koordinations- und Integrationsfunktion. Da die jeweils tieferen Stufen stets Teilräume des Planungsraums jeweils höherer Stufen beplanen, müssen die einzelnen Planungsstufen miteinander verbunden werden (z. B. § 1 Abs. 4 BauGB – Anpassungspflicht). Die kommunale Bauleitplanung ist zugl. Mittlerin überörtlicher R. und fachplanerischer Vorhabenzulassung, z. B. Genehmigung von Anlagen nach dem BImSchG. Zur Erfüllung ihrer Entwicklungs-, Ordnungs- und Sicherungsfunktionen (§ 1 Abs. 1 ROG) ist die R. gemäß § 1 Abs. 2 ROG ausgerichtet auf eine nachhaltige Raumentwicklung, die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen führt. Dazu bedient sich die R. wie im vom Bundeskabinett verabschiedeten R.s-Bericht 2017 niedergelegt, spezifischer Leitbilder wie z. B. „Daseinsvorsorge sichern“ (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2017). Das Gegenstromprinzip steuert das Verfahren der R. (§ 1 Abs. 3 ROG): Die Entwicklung, Ordnung und Sicherung der Teilräume soll sich in die Gegebenheiten und Erfordernisse der Gesamträume einfügen; die Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Gesamtraums soll die Gegebenheiten und Erfordernisse seiner Teilräume berücksichtigen.

Ausgerichtet auf die Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumentwicklung machen die Grundsätze der R. (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 8 ROG) allg.e Aussagen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums, z. B. Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge bei langfristig wettbewerbsfähig und räumlich ausgewogener Wirtschaftsstruktur. Die Grundsätze der R. sind zu berücksichtigen, sie sind nicht zwingende Vorgaben für raumordnerische Abwägungs- und Ermessensentscheidungen (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, § 4 Abs. 1 S. 1 ROG). Das unterscheidet sie von den Zielen der R., die als verbindliche Vorgaben der Landes- oder Regionalplanung von öffentlichen Stellen strikt zu beachten sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 2, § 4 Abs. 1 S. 1 ROG). Die Beachtenspflicht des § 4 Abs. 1 S. 1 ROG gilt auch für die Gemeinden, die dadurch in ihrer kommunalen Planungshoheit empfindlich eingeschränkt werden können. Die Öffentlichkeit und die in ihren Belangen berührten öffentlichen Stellen sind bei der Aufstellung der Ziele der R. zu beteiligen (§ 9 ROG). Von der Bindungswirkung der Ziele der R. kann durch ein förmliches Zielabweichungsverfahren in begrenztem Maße befreit werden (§ 6 ROG), z. B. anlässlich kommunaler Planung einer Einzelhandelsagglomeration.

Fachplanungen wie z. B. nach dem BImSchG, den Straßengesetzen oder dem NABEG werden durch spezialgesetzlich normierte R.s-Klauseln (z. B. § 48 Abs. 2 BBergG) gebunden. Die Fachgesetze bestimmen entweder eine materielle Pflicht zur Beachtung der Ziele der R. und L. (z. B. in § 30 Abs. 5 KrWG) oder sie fordern das Benehmen der für die R. zuständigen Stellen der Fachplanungen oder eine sonstige Beteiligungsform (z. B. § 60 Abs. 1 FStrG). Wegen der organisatorischen und finanziellen Schlagkraft der Fachplanungen, insb. der Straßenplanungen, erfüllt die R. ihre Koordinationsfunktion vielfach nur unvollkommen.

Nach traditionellem Verständnis haben die Ziele der R. ebenso wenig wie die Grundsätze der R. unmittelbare Rechtswirkung für den Bürger. Die verwaltungsexterne Unverbindlichkeit gilt gerade als der spezielle Unterschied zwischen den R.s-Plänen und den in den privaten Rechtskreis eingreifenden Festsetzungen des Bebauungsplans sowie der Planfeststellungsbeschlüsse der Fachplanungen und deren Nutzungsregelungen. Diese traditionelle Sicht gilt nicht mehr, wenn gemäß § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB öffentliche Belange einem Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB, z. B. Windenergieanlagen, entgegenstehen, sofern hierfür an anderer Stelle durch Ziele der R. eine Ausweisung z. B. als Eignungsgebiet erfolgt ist. Rechtsschutz Privater gegen Grundsätze der R. ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn sie in Form einer Rechtsverordnung oder Satzung ergehen. Soweit aber raumordnerische Ziele Inhalt und Schranken des Grundeigentums unmittelbar bestimmen, sei es durch eine raumordnerische Festlegung, die das entspr.e Grundstück unmittelbar erfasst (§ 35 Abs. 3 S. 2 BauGB), sei es weil Grundstücke von der Ausschlusswirkung nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB (Konzentrationszone) betroffen sind, ist der Normenkontrollantrag Privater (auch Nachbarn) gegen die entspr.e raumordnerische Festlegung zulässig. Unabhängig von der Normenkontrolle nach § 47 VwGO besteht die Möglichkeit der verwaltungsgerichtlichen Inzidentkontrolle z. B. anlässlich der Erteilung einer Genehmigung für eine Windkraftanlage im Außerbereich. Gemeinden können grundsätzlich einen Antrag auf Normenkontrolle gegen eine förmliche Festlegung eines Ziels der R. erheben. Sie können sich insoweit i. d. R. auf die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) berufen. Das gilt auch dann, wenn sich eine Gemeinde im Rahmen des interkommunalen Abstimmungsgebots gegenüber einer Planung der Nachbargemeinde darauf beruft, dass ihr durch Ziele der R. bes. Funktionen zugewiesen worden sind, z. B. im Rahmen der zentralörtlichen Gliederung des Landes.

R. im Bund regelt R.s-Pläne für den Gesamtraum der BRD und für die deutsche AWZ. Bei letzterem ist das zuständige Bundesministerium verpflichtet, mit den angrenzenden Staaten und deutschen Ländern zusammenzuarbeiten. § 17 Abs. 2 ROG ermächtigt zur Aufstellung länderübergreifender R.s-Pläne zum Hochwasserschutz sowie zur Aufstellung von R.s-Plänen mit Festlegungen zu länderübergreifenden Standortkonzepten für See-, Binnen- sowie Flughäfen. Im Zuge der Energiewende haben die Nutzungskonflikte durch den Ausbau der erneuerbaren Energien insb. durch Offshore-Windenergieanlagen und der dafür erforderlichen Stromtrassen an Intensität zugenommen, was die Bedeutung der Planung für die AWZ erhöht. Die Federführung beim Netzausbau liegt aber nicht bei der R. der Länder, sondern bei der Bundesfachplanung (§§ 5, 15 Abs. 1 S. 2 NABEG). § 17 Abs. 3 ROG ermächtigt den Bund einzelne Grundsätze der R. in einem R.s-Plan zu konkretisieren und zwar im Einvernehmen mit den fachlich betroffenen Bundesministerien und im Benehmen mit den Ländern und angrenzenden Staaten.

3. Europäische Ebene

Mit dem europäischen Raumentwicklungskonzept ist ein rechtlich unverbindlicher aber wegen der aus unionalen Fonds fließenden Mittel faktisch einflussreicher Rahmen für den Binnenraum der EU und die anrainenden Räume geschaffen worden, ein Rahmen der die EU-Regionalpolitik einbindet z. B. durch INTERREG B (Europäische territoriale Zusammenarbeit der Europäischen Strukturpolitik) oder durch Europäische Verbünde für territoriale Zusammenarbeit. Art. 3 Abs. 3 S. 3 EUV enthält als Ziel der Union die Förderung des territorialen Zusammenhalts. Die Vorschriften des Titels XVIII AEUV – „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ – schaffen im Zusammenspiel mit den raumbedeutsamen Politiken der EU, insb. Umwelt- und Energiepolitik, die rechtlichen Voraussetzungen für eine europäische Raumentwicklungspolitik. Diese kann die 2006 von der informellen R.s-Ministerkonferenz verabschiedete und 2011 aktualisierte „Territoriale Agenda 2020“ mit Leben erfüllen.

4. Aktuelle Entwicklungen

Trotz der in § 1 Abs. 2 ROG vorgegebenen Leitvorstellung der gleichwertigen Lebensverhältnisse entwickeln sich die ca. 100 Regionen Deutschlands zunehmend gegenläufig in Wachstumsregionen und Schrumpfungsregionen, die hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl, Arbeitsplätze, des Wohnungsmarktes und der Daseinsvorsorge auseinander driften. Die vom Bund einberufene Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist 2019 ohne gemeinsame Beschlüsse beendet worden. R. und L. sowie Fachplanungen und die kommunale Bauleitplanung sollten nicht sektoral, sondern integriert geplant und umgesetzt werden, z. B. durch regionale Entwicklungskonzepte. Dazu sollte der partizipative Interessenaustausch zwischen Bevölkerung, NGOs, Wirtschaft, Fachplanungsträgern und Gemeinden ausgebaut werden. Die R. des Bundes könnte organisatorisch und finanziell gestärkt werden, um die Integration der Gemeinschaftsaufgaben, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Abstimmung mit der unionalen Kohäsionspolitik zu verbessern.