Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR)

Version vom 8. Juni 2022, 09:17 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR))

1. Begriff und Entwicklung

Gemäß Art. 3 Abs. 2 EUV bietet die EU als eines ihrer Ziele „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist“. Der Begriff RFSR wurde durch Vertrag von Amsterdam (1997) eingeführt, der zugl. die bereits 1975 begonnene und im Vertrag von Maastricht (1992) durch die ZBJI primärrechtlich verankerte Europäische Innen- und Rechtspolitik durch die „Vergemeinschaftung“ von Asyl, Einwanderung u. a. Politiken betreffend den freien Personenverkehr auf eine neue Grundlage stellte. Der Vertrag von Lissabon (2007) bezog mit der Auflösung der Säulenstruktur auch die bis dahin im intergouvernementalen Bereich verbliebene PJZS ein. Die Grundsätze des RFSR sind in Art. 67 AEUV aufgeführt. Dass der RFSR „ohne Binnengrenzen“ sein soll verdeutlicht die Notwendigkeit, den Binnenmarkt der EU als Wirtschaftsgemeinschaft mit Elementen einer europäischen Innenpolitik zu verbinden. Dies führt zwangsläufig zu einer Vertiefung der Integration (Europäischer Integrationsprozess), und dies in Bereichen mit nach wie vor bestehenden Souveränitätsvorbehalten der Mitgliedstaaten. Letzteres führt auch dazu, dass der „Raum“ wegen der durch die Protokolle 19–22 zu den Verträgen primärrechtlich verankerten (Art. 51 EUV) Ausnahmeregelungen für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich nicht die gesamte EU vollständig erfasst.

2. Materien

Der RFSR erfasst Materien aus dem Öffentlichen Recht, dem Zivilrecht und dem Strafrecht und somit aus allen Rechtsgebieten. Grundlegend für die Personenverkehrsfreiheit als einer der Grundfreiheiten des Binnenmarkts (Europäischer Binnenmarkt) ist die Abschaffung der Binnen-Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten durch die Übernahme des Schengen-Besitzstands (Schengen). Dies muss mit der Sicherung der EU-Außengrenzen einhergehen. Dafür wurde die FRONTEX geschaffen, die bislang allerdings allein für die Unterstützung der Mitgliedstaaten zuständig ist (zur Grenzschutzpolitik vgl. Art. 77 AEUV). Europarechtliche Vorgaben für das Asylrecht (Asyl) enthält das auf Art. 78 AEUV gestützte „Asylpaket“. Art. 79 AEUV sieht die Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik vor. Von den in Art. 81 AEUV vorgesehenen Kompetenzen zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug wurde in einer Reihe von Verordnungen Gebrauch gemacht (Europäisches Prozessrecht). Diese sollen v. a. den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung realisieren und die Vollstreckung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen ermöglichen (Art. 81 Abs. 2 lit. a AEUV). Durch unionsrechtliche Kollisionsnormen (Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV) wird das Internationale Privatrecht der Mitgliedstaaten harmonisiert. Den „effektiven Zugang zum Recht“ (Art. 67 Abs. 4, Art. 81 Abs. 2 lit. e AEUV) fördert der vereinfachte Zugang zu den Spruchkörpern in anderen Mitgliedstaaten u. a. durch die Gewährung von Prozesskostenhilfe und unterstützt das Europäische Justizielle Netz in Zivilsachen. Die Angleichung des materiellen Zivilrechts kann nicht auf Art. 81 AEUV gestützt werden, erfolgte und erfolgt aber auf der Basis der Kompetenzen zur Herstellung des Binnenmarktes, insb. Art. 114 AEUV. Die polizeiliche Zusammenarbeit (Art. 87–89 AEUV) ist für die grenzüberschreitende Verfolgung, aber auch Prävention von Straftaten erforderlich. Dazu wurde 1995 durch das Europol-Übereinkommen das Europäische Polizeiamt gegründet, dessen Rechtsnachfolgerin die 2016 durch die VO (EU) 2016/794 gegründete Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung ist. Aufgabe der 2002 errichteten Europäischen Stelle für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust) ist v. a. die Förderung und Verbesserung der Koordinierung der Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden. Darüber hinaus kann ihr seit dem Vertrag von Lissabon die Kompetenz übertragen werden, strafrechtliche Ermittlungsverfahren einzuleiten bzw. strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen vorzuschlagen (Art. 85 AEUV). Die Strafverfolgung in der EU bleibt zwar grundsätzlich eine Aufgabe der Mitgliedstaaten. Allerdings bestehen auch insoweit Vorgaben des Unionsrechts (z. B. Art. 50 EuGRC: Doppelbestrafungsverbot „ne bis in idem“; Verfahrensgarantien wie z. B. Recht auf Dolmetscherleistungen) und wurde mit dem Europäischen Haftbefehl ein Instrument geschaffen, das bes.s gegenseitiges Vertrauen in die Qualität der Justiz der Mitgliedstaaten voraussetzt. Art. 86 AEUV sieht die Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vor, was – allerdings im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit zwischen 20 Mitgliedstaaten – durch die VO (EU) 2017/1939 realisiert wurde. Im materiellen Strafrecht sieht das Unionsrecht grundsätzlich (Ausnahme Art. 325 Abs. 4 AEUV) bislang nur Sanktionsvorschriften ohne kriminalstrafrechtlichen Charakter (Bußgelder) vor. Art. 83 AEUV ermächtigt allerdings zum Erlass von Richtlinien zum Zweck einer Mindestangleichung von Straftatbeständen und Strafen. Darüber hinaus erfordert die Effektivität des Unionsrechts, dass die Mitgliedstaaten Verstöße dagegen ggf. auch mit Kriminalstrafe sanktionieren (Europäisches Strafrecht).

3. Probleme und Perspektiven

Der Binnenmarkt verlangt einen RFSR und mit einheitlichen Regelungen eine Vertiefung der Integration in Bereichen wie dem Strafrecht, aber auch dem Familienrecht, in denen in den Mitgliedstaaten – grundlegend oder je nach der konkreten politischen Konstellation veränderlich – unterschiedliche Vorstellungen bestehen und die als „politische Grundentscheidungen“ für den betreffenden Staat, aber auch für den einzelnen Menschen von bes.r Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 123,267 [359–363]). Daher behalten sich die Mitgliedstaaten manche Bereiche gänzlich vor (vgl. Art. 72; Art. 79 Abs. 5 AEUV). Für andere besteht das Einstimmigkeitsprinzip (z. B. Art. 81 Abs. 3; Art. 86 Abs. 1 S. 2 AEUV) oder die Möglichkeit von Einsprüchen (sog.e Notbremse, z. B. Art. 83 Abs. 3 AEUV). Soweit in politisch brisanten Materien wie dem Asylrecht die qualifizierte Mehrheit genügt (vgl. Art. 78 Abs. 2 AEUV), ist die Befolgung durch die überstimmten Mitgliedstaaten auch nach Bestätigung durch den EuGH keineswegs gewährleistet (vgl. EuGH Rs. C-643/15 und C-547/15). Der „Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ (Art. 80 AEUV) wurde bereits bei der Schaffung des Dublin-Verfahrens und wird jetzt bei der Bewältigung von dessen Scheitern weitgehend missachtet. Die Grenzen gegenseitigen Vertrauens und damit der für einen RFSR grundlegenden gegenseitigen Anerkennung haben sich im Asylrecht (vgl. EuGH Rs. C-411/10 und C-493/10) und beim Europäischen Haftbefehl (EuGH Rs. C-404/15 und C-659/15; EuGH Rs. C-216/18) gezeigt. Die unterschiedliche Bereitschaft zur Gestaltung eines einheitlichen RFSR zeigt sich nicht nur in den Ausnahmeregelungen für einige Mitgliedstaaten, sondern auch darin, dass manche Lösungen nur durch Verstärkte Zusammenarbeit (Art. 20 EUV, Art. 326–334 AEUV) der dazu bereiten Mitgliedstaaten möglich waren. Generell ist bei Harmonisierungsmaßnahmen und entspr.en Forderungen an die Mitgliedstaaten zu fragen, inwieweit die den Mitgliedstaaten angeblich gemeinsamen Werte (vgl. Art. 2 EUV) wirklich gemeinsam sind und in einer auf diesen Werten beruhenden Union auch gemeinsam sein müssen und inwieweit der gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV zu achtenden jeweiligen nationalen Identität Rechnung getragen werden kann und ggf. muss. Hier die richtige Balance zu finden ist für das Gelingen eines RFSR entscheidend.