Politische Theologie

Allg. lässt „p. T.“ sich definieren als „die Reflexion desjenigen Zusammenhangs, in dem Theologie und Religion, falls sie es nicht ohnehin sind, politisch werden, das heißt politisch-ideologische und politisch-praktische Folgen haben“ (Maurer 1983: 117). Diese nur den deskriptiven, nicht aber auch den normativ-operativen Aspekt sowie die kriteriologische Funktion der p.n T. in den Blick nehmende Definition wird weder den historischen Kontexten des Begriffs noch den unter diesem Stichwort verhandelten theologischen Fragen gerecht.

1. Das philosophische Stigma

Der Ausdruck „p. T.“ geht zurück auf verschiedene Schulen der hellenistischen Philosophie und die ihnen gemeinsame Unterscheidung dreier Arten von Theologie: der theologia mythikē (theologia fabularis), phyisikē (naturalis), politikē (civilis).

Die theologia tripertita wurde das erste Mal bei dem Stoiker Panaitios erwähnt und war über Quintus Mucius Scaevola und Marcus Terentius Varro in Rom zu kanonischer Geltung gelangt. In der Tradierung durch den Panaitios-Schüler Scaevola wurde dabei entgegen der urspr.en Bevorzugung der theologia naturalis aufgrund euhemeristischer Einflüsse der theologia civilis der Vorrang eingeräumt.

Obwohl in der christlichen Theologie erstmals schon bei Tertullian genannt und dann auch von Eusebius kritisch erwähnt, bleibt die Kenntnis dieser „dreigeteilten Theologie“ bis zum Ende des 18. Jh. auf die Auszüge beschränkt, die Augustins „De Civitate Dei“ überliefert.

2. Augustinus Varrokritik

Im Kontext seiner Replik auf den für die römische theologia civilis bezeichnenden Vorwurf, der Niedergang des Imperiums (410 Plünderung Roms) sei ursächlich auf die christliche Absage an die alten Götter zurückzuführen, setzt Augustinus sich u. a. mit den unter den zeitgenössischen Repräsentanten der altrömischen Religion in hohem Ansehen stehenden „Antiquitates Rerum Divinarum“ des Varro auseinander: Indem Varro in diesem angeblich der Staatstheologie verpflichteten Werk deren Praxis in den öffentlichen Kulten so beschreibe, dass ihre innere Verwandtschaft mit den moralischen Monstrositäten und metaphysischen Absurditäten der von ihm gleichzeitig scharf kritisierten mythischen Fabel- und Theatertheologie nicht zu übersehen sei, gebe er demjenigen, der hinter dem Buchstaben des Werkes dessen Geist zu erfassen verstehe, seine heimliche Verachtung der p.n T. ebenso zu erkennen wie seine uneingestandene Favorisierung der theologia naturalis. Indem selbst Varro die politische als Teil der philosophisch längst abgeschriebenen mythischen Theologie zu begreifen lehre, sei die restaurative Rom-Ideologie des zeitgenössischen Heidentums schon auf dem Feld der heidnischen Vernunft selber als unhaltbar erwiesen. Dass Varro die p. T. jedoch nicht offen zu verwerfen wage, mache die „Antiquitates“ zu einem exemplarischen Dokument der dämonischen Allianz von Geist und Macht, die um der Erhaltung des Status quo willen vor bewusstem Betrug des Volkes auch in Sachen der Religion nicht zurückschrecke. Augustinus Kritik dürfte für die Bedeutungslosigkeit des Terminus in der Theologie bis ins 20. Jh. ausschlaggebend gewesen sein.

3. Das augustinische Zitat

Nachdem der Begriff im Mittelalter, obwohl aus „De Civitate“ bekannt, kaum erwähnt wird, begegnet er – wiederum im Rahmen des augustinischen Zitats der römischen theologia tripertita – seit dem 16./ 17. Jh. zwar öfter, bleibt aber auch jetzt zumeist historisch konnotiert und systematisch marginal. Angesichts der Verheerungen der religiös-politischen Bürgerkriege dieses Zeitalters und im zunehmenden Gegensatz zum Versuch ihrer Befriedung nach dem Prinzip cuius regio, eius religio, das den konfessionell-staatskirchlichen Absolutismus schon früh auf eine einprägsame Formel bringt, steht der humanistisch inspirierte Rekurs auf das augustinische Varro-Zitat der antiken theologia naturalis im Kontext des Bemühens um eine überkonfessionelle „natürliche Theologie/ Religion“, d. h. um einen „dritten Weg“ zwischen konfessionell-dogmatischen Verfeindungszwängen und dem obrigkeitlichen Diktat öffentlicher Religion.

4. Kampfbegriff des Atheismus

Im Zuge der atheistischen Ideologiekritik und ihres Mythologievorwurfs gegenüber jedweder Gestalt religiös-metaphysischer Rede wird der Ausdruck „p. T.“ im 19. Jh. zum denunziatorischen Kampfbegriff.

5. Staatsdenken der Gegenrevolution

Im Bekenntnis zum Christentum hatte Edmund Burke in seinen „Betrachtungen über die Französische Revolution“ schon 1790 diejenigen seiner Landsleute als „political theologians, and theological politicians“ (Burke 2001: 156) bezeichnet, die die Ereignisse des Jahres 1789 in Frankreich (Französische Revolution) theologisch und ethisch zu rechtfertigen suchten, damit aber, wie er meinte, eine nicht unbeträchtliche Gefahr auch für die Verfassung und Krone Englands darstellten.

Trotz E. Burkes nachhaltigem Einfluss auf den europäischen Konservatismus der ersten Hälfte des 19. Jh. ist bei den – heute als „politische Theologen“ schlechthin geltenden – katholischen Staatstheoretikern der Restauration in Frankreich (Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, der frühe Félicité Robert de Lammenais), Spanien (Juan Donoso Cortés) und Deutschland (u. a. Adam Müller, Joseph von Görres) der Begriff „p. T.“ nicht zu finden.

5.1 Carl Schmitts politische Theologie

Der Begriff findet sich erst wieder bei dem französischen Publizisten und Traditionalisten Louis Veuillot. Unter Berufung auf den spanischen Diplomaten und Laientheologen J. Donoso Cortés nimmt er den Terminus erstmals positiv in Anspruch. In Reaktion auf die innerkirchliche Kritik des dem politischen Denken seines Gewährsmannes zugrundeliegenden Traditionalismus sieht er sich allerdings genötigt, die um der Entschiedenheit und Transparenz ihrer theologischen Analogien von ihm gerühmte „politische oder praktische Theologie“ von der eigentlichen, dogmatisch zwar unangreifbaren, hinsichtlich der politischen Implikationen des Dogmas aber ahnungslosen „Schultheologie“ zu unterscheiden.

In einer berühmt gewordenen Abhandlung des Staatsrechtlers Carl Schmitt, seiner unter dem Titel „Politische Theologie“ erschienenen Souveränitätslehre (Souveränität) von 1922, mit der dieser Terminus erstmals wissenschaftliche Publizität erlangt, begegnet L. Veuillots Unterscheidung sinngemäß ein zweites Mal, und zwar wiederum im Kontext einer Würdigung des Werkes von J. Donoso Cortés. Dessen dem katholischen Dogma widersprechende traditionalistische Radikalisierung der tridentinischen Erbsündenlehre verteidigt C. Schmitt mit dem Hinweis auf deren politisch-polemische, nicht dogmatische Intention: Das die politischen Optionen des atheistischen Anarchismus (Anarchie, Anarchismus) fundierende Axiom von der natürlichen Güte des Menschen zwinge den „eine religiöse und politische Entscheidung von höchster Aktualität“ propagierenden Verteidiger der Ordnung zur Formulierung einer theologisch-anthropologischen Gegenthese, die im Bezugsrahmen des grundlegenden politischen Aktes, der Unterscheidung von Freund und Feind, entworfen, nicht am Kriterium dogmatischer Authentizität zu messen sei. So fatal diese Ehrenrettung sich in den Augen des spanischen Ultramontanen wohl ausgenommen hätte, so bezeichnend ist sie für C. Schmitt selbst. Was im Werk dieses Weimarer Antidemokraten unter dem Namen „p.r T.“ firmiert, orientiert sich ausschließlich an der erklärten politischen Notwendigkeit, der souveränen Entscheidung des starken Staates, d. h. seiner innen- und außenpolitischen Feindbestimmung, hinsichtlich ihres konkreten Inhalts Plausibilität und Gefolgschaft zu sichern. C. Schmitts Diagnose der Gegenwart als einer „gottunfähig“ (C. Schmitt 1950: 10) gewordenen Epoche, in ihren Antrieben und Wunschbildern dem Mythos verfallener Massen entspr., bleiben die Legitimationsmythen politischen Handelns jeder dem Evangelium verpflichteten theologischen Nachfrage entzogen; ihre Wahrheit bemisst sich einzig und allein an ihrer sozialen Akzeptanz, an der Frage ihrer Funktionalität im Dienste der jeweils durchzusetzenden politischen Entscheidung. So ist „p. T.“ hier keineswegs nur die wissenschaftliche Kurzformel eines Forschungsprogramms für gewisse analytisch erhebbare und dann historisch erklärbare strukturelle Analogien zwischen zentralen theologischen Begriffen einerseits und zentralen juristischen Begriffen andererseits; „p. T.“ heißt in letzter Instanz vielmehr die Motivation konkreter politischer Praxis aus dem ideologiegeschichtlich üppig ausgestatteten Arsenal politisch relevanter Legitimationsbestände (Legitimation), die den Göttern des varronischen Pantheon funktional durchaus äquivalent sind.

5.2 „Neue Politische Theologie“

Die gegenwärtige theologisch affirmative Rede von p.r T. kommt einer Neuschöpfung des Begriffs gleich. Nach dem Zweiten Weltkrieg in Theologie und Kirche beinahe vergessen oder verdrängt, lag er in der kurzen gesellschaftlichen Reformphase, zu deren Symbol das Jahr 1968 wurde, gleichsam in der Luft. So stieß Johann Baptist Metz, als er Mitte der 60er Jahre sein theologisches Programm entschlossen unter diesem Stichwort vortrug, in Kreisen einer politisch sensibilisierten theologischen und kirchlichen Öffentlichkeit auf positive Resonanz, musste sich aber bald auf die belastenden historischen Konnotationen dieses Terminus hinweisen lassen. Anders als Dorothee Sölle, die diese begriffsgeschichtlichen Bedenken aufnahm und ihre Arbeit fortan als Beitrag zu einer „Theologie der Befreiung“ (Sölle 1995: 188 f.) präsentierte, verwies J. B. Metz auf den strikt theologischen Maßstab seines Konzepts und sprach schon bald von „neuer Politischer Theologie“ (Metz 1997), die er als eine „nach Auschwitz“ (Metz 1992: 14) ausbuchstabiert, um sich damit von der klassischen p.n T. abzugrenzen.

Der Begriff ist gegenwärtig in die Kulturwissenschaften abgewandert und wird dort nicht selten auch als Synonym für „politisierte Theologie“ i. S. d. Islamismus benutzt.