Politikverflechtung

In modernen Föderationen (Föderalismus) sind die staatlichen Kompetenzen auf Bund und Gliedstaaten aufgeteilt, doch arbeiten deren Regierungen und Verwaltungen vielfach zusammen. In Deutschland wird diese Zusammenarbeit als „P.“ bezeichnet. In der Politikwissenschaft präzisierte man diesen Begriff. Wenn Bund und Länder oder Länder untereinander freiwillig zusammenarbeiten, bezeichnet man dies als Kooperation. Von P. spricht man, wenn sie durch die Verfassung oder in der Sache angelegte wechselseitige Abhängigkeiten gezwungen sind, Aufgaben gemeinsam zu erfüllen.

1. Theorie

Diesen präzisen Begriff definierte Fritz Wilhelm Scharpf in seinen Studien zu den Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen. Er entwickelte auch eine Theorie, die Hypothesen über Ursachen, Entscheidungsmuster und Folgen der P. enthält. Demnach drohen Politikblockaden, weil Konflikte um Politikinhalte, Macht oder Finanzen eine Einigung zwischen den Vertretern des Bundes und der Länder erschweren, aber keine Gebietskörperschaft allein handeln kann. Da Regierungen aber Blockaden verhindern wollen, vermeiden sie Entscheidungen, die den Bund oder einzelne Länder signifikant benachteiligen oder in bestehende Strukturen bzw. Besitzstände eingreifen. Eine solche Politik erweist sich aber in vielen Fällen als wenig effektiv. Verteilungsprobleme können ebenso wenig gelöst werden wie komplexe Koordinationsprobleme.

P. führt also nicht zum politischen Stillstand, aber sie beeinträchtigt die Gestaltungsfähigkeit der Politik. Das trifft bes. für die Gesetzgebung des Bundes zu, die als P. zu betrachten ist, sofern der Bundesrat zustimmen muss. Hier verschärfen sich die Verhandlungsprobleme, wenn Bund-Länder-Konflikte durch Parteipolitik überlagert werden und Oppositionsparteien (Opposition) über ihre Beteiligung an Landesregierungen die Stimmenmehrheit im Bundesrat kontrollieren. Dann treffen die Logik des Parteienwettbewerbs und die Logik der Bund-Länder-Verhandlungen aufeinander und behindern sich gegenseitig. Die Akteure müssen sich einigen, obwohl sie zueinander in Konfrontation stehen. Gleichwohl scheitern nur wenige Gesetze wegen eines Vetos des Bundesrats. Die Bundesregierung antizipiert bei der Formulierung ihrer Gesetzesinitiativen potentielle Widerstände der Landesregierungen, ganz i. S. d. von F. W. Scharpf akzentuierten Strategie der Konfliktvermeidung. Gesetze in den Bereichen der Finanz- oder Sozialpolitik, die einzelne Länder belasten, sind allerdings nur zu verwirklichen, wenn die benachteiligten Länder entschädigt werden.

Die so erklärten Schwierigkeiten des Regierens in der P. werden auch von Politikern häufig beklagt. Doch eine Entflechtung gelingt selten. Sie erfordert eine Umverteilung von Macht zugunsten des Bundes oder der Länder. Über solche Reformen können sich Regierungen schwerlich einigen, weshalb sie sich in der „Politikverflechtungsfalle“ (Scharpf 1985) befinden.

2. Varianten

Diese Theorie beschreibt und erklärt das Regieren im deutschen Bundesstaat in prägnanter Weise, da Bund und Länder in wichtigen Bereichen zusammenarbeiten müssen. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff P. eine bes. Struktur-Prozess-Konstellation modellhaft darstellt. Er erfasst Verhandlungen, die notwendig sind, um Aufgaben zu erfüllen, obgleich die Regierungen konträre Interessen verfolgen und jede Regierung gegen ihre Interessen gerichtete Entscheidungen verhindern kann. In der Praxis verlaufen Verhandlungen unter verschiedenen Bedingungen und erbringen unterschiedliche Ergebnisse. In jener Gesetzgebung, die der Zustimmung des Bundesrats unterliegt, werden sie durch Parteipolitik überlagert. In den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG dominieren Verteilungskonflikte zwischen Ländern. Die Fernstraßenplanung ist ein Beispiel für eine hierarchische P., da dem Bund formal die Kompetenz obliegt, er die Länder aber beteiligt und mit ihnen über ihre Projektanmeldungen verhandelt. Die KMK kann als horizontale P. betrachtet werden, genauso wie die sachlich notwendige Zusammenarbeit benachbarter Länder. In dieser Konstellation ist eine Einigung oft schwieriger als in den anderen Formen, in denen die Bundesregierung eine Führungsrolle ausübt oder die Bundeskompetenz einen Schatten der Hierarchie erzeugt, der die Länder zu Konzessionen veranlassen kann.

P. ist meistens organisatorisch differenziert. Vielfach werden Bund-Länder-Verhandlungen in den Fachverwaltungen vorbereitet, die nicht selten durch Expertengremien unterstützt werden. Parteipolitik oder Machtinteressen der Regierungen treten in administrativen Prozessen in den Hintergrund. Im Gesetzgebungsprozess trägt der Vermittlungsausschuss zur Versachlichung und Kompromissfindung bei.

Auch der Wandel des Parteiensystems wirkt sich inzwischen auf die P. aus. In Bund und Ländern gibt es mittlerweile vielfältige Koalitionen, weshalb die Konfrontation zwischen den sog.en A- und B-Ländern inzwischen einer Pluralität der Regierungen gewichen ist. Das erhöht die Chance für Verhandlungslösungen, macht es aber der Bundesregierung schwerer, die Position der Bundesratsmehrheit zu antizipieren. Die Gefahr von Blockaden ist nicht geringer geworden.

In der Bezeichnung Joint Decision Making verbreitete sich das Konzept der P. in der vergleichenden Politikwissenschaft. F. W. Scharpf erklärte mit seiner Theorie in den frühen 1980er Jahren die Ineffektivität der europäischen Politik sowie die Stagnation im Europäischen Integrationsprozess. Später zeigte die Europaforschung, dass die europäische P. je nach Politikfeld variiert und effektive Entscheidungen nicht generell verhindert.

Auch in die vergleichende Föderalismusforschung fand das Konzept Eingang. Für die USA und Kanada präzisiert es die Merkmale, nach denen sich die „intergovernmental relations“ (Painter 1991) von der P. im deutschen Bundesstaat unterscheiden. Bund und Gliedstaaten verhandeln dort i. d. R. informell und freiwillig. Bei zweckgebundenen Finanzhilfen werden z. T. befristete Ausnahmen von Programmvorgaben gewährt (waivers) oder Gliedstaaten können vereinbarte Programme durch eigene ersetzen (opt-outs). In der Schweiz dominieren horizontale Formen der P., wenn Kantone öffentliche Einrichtungen gemeinsam erstellen und betreiben oder alle Kantone eine Harmonisierung ihrer Leistungen vereinbaren. Hier erzeugt die Konsensdemokratie ganz andere Bedingungen für Verhandlungen zwischen Regierungen als in Deutschland.

Die vergleichende Forschung entwickelte F. W. Scharpfs theoretisches Konzept weiter. Ausgehend von diesem Modell ermittelte sie vielfältige Ausprägungen von P. mit verschiedenen Wirkungen für das Regieren. Die These der P.s-Falle, der zufolge das Bemühen um eine Kompetenztrennung vergeblich erscheint, gibt zudem Anlass, nach alternativen Verfahren der Mehrebenenkoordination (Mehrebenensystem) zu suchen.