Personprinzip

Das P. ist eines der Sozialprinzipien, mit denen in der modernen Sozialethik argumentiert wird und die insb. zu dem konzeptionellen Grundbestand der christlichen Sozialethik katholischer Provenienz gehören. Es ist das ethische Grundprinzip sozialer Ordnung und erhebt die Entfaltung der Person bzw. personaler Freiheit zum zentralen Maßstab der Gestaltung sozialer Zusammenhänge. Dementsprechend stehen sämtliche soziale Institutionen, Strukturen, Prozesse und Regelsysteme unter dem ethischen Anspruch, der personalen Entfaltung des Menschen zu dienen. Das Zweite Vatikanische Konzil formuliert das P. in seiner Pastoralkonstitution GS von 1965 konzis wie folgt: „Wurzelgrund nämlich Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muss auch sein die menschliche Person […]“ (GS 25).

Der Begriff der Person verweist unmittelbar auf die Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte. Inwieweit das P. innerhalb eines konkreten sozialen Zusammenhangs zu realisieren ist, kann deshalb nur in Rückbezug auf den menschenrechtlichen Diskurs inhaltlich beantwortet werden.

1. Historische Entwicklung und theoretische Grundlagen

Sowohl die Vorstellung, dass die soziale Ordnung eine menschliche Gestaltungsaufgabe ist, als auch die Tatsache, dass die menschliche Person und ihre freiheitliche Entfaltung zu deren entscheidendem Maßstab erhoben werden, weisen das P. als dezidiert neuzeitlich aus. Vorneuzeitlich hingegen herrschte das Bild einer (von Gott) vorgegebenen, weitgehend statischen sozialen Ordnung. Freiheiten und Rechte innerhalb dieser Ordnung genoss der Einzelne nicht als Individuum, sondern als Angehöriger seines Standes oder einer Korporation (z. B. Zunft). Das Leitprinzip vorneuzeitlicher Sozialphilosophie war deshalb das Gemeinwohl (lateinisch bonum commune).

In der Neuzeit hingegen artikuliert sich ein Freiheits- und Rechtsverständnis, das individualistisch und egalitär ist. Es begegnet ideengeschichtlich zunächst in der Philosophie der Aufklärung und ereignisgeschichtlich in den Bürger- und Menschenrechtserklärungen im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der Französischen Revolution. Es wurzelt in dem modernen Konzept der menschlichen Person, das im Kontext der Aufklärungsphilosophie entstand und paradigmatisch von Immanuel Kant entfaltet wurde.

Es gibt verschiedene Gründe für die verspätete Rezeption dieses neuzeitlichen Personkonzepts im katholischen Raum. Im historischen Kontext spielen die weltanschaulichen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche einerseits und dem Liberalismus bzw. dem modernen Staat andererseits eine erhebliche Rolle. Aus diesen Auseinandersetzungen, die mit der Französischen Revolution begannen und das ganze 19. Jh. prägten, entwickelte sich der bis weit in das 20. Jh. hinein einflussreiche katholische Antimodernismus bzw. Integralismus.

In der Theologie wurde im Zuge dessen ein explizit auf die Vormoderne zurückgreifendes Wissenschaftsparadigma durchgesetzt: die Neuscholastik (Scholastik). Das neuzeitliche Personkonzept aber ist mit dem scholastischen Denkkonzept schon deshalb inkompatibel, weil letzteres nicht anthropozentrisch, sondern kosmozentrisch ist. Außerdem schien den meisten Theologen des 19. Jh. I. Kants Verständnis der Person als autonomes Subjekt sowie seine Gleichsetzung von Personalität und Selbstbewusstsein sowohl mit der trinitätstheologischen Rede von dem einen Gott in drei Personen als auch dem christologischen Dogma von der einen Person Jesu in zwei Naturen unvereinbar zu sein. Und schließlich wurde I. Kants autonomieethisches Konzept von der Selbstgesetzgebung des Willens als Widerspruch zu dem biblischen Bild der von Gott gegebenen Gebote gesehen.

Alle diese Gründe verhinderten auch in der Sozialethik zunächst eine positive Rezeption des neuzeitlichen Personkonzepts. Die ersten Theorieentwürfe katholischer Sozialethik folgten vielmehr dem Theorieansatz der Neuscholastik in Form eines ahistorischen Naturrechtskonzepts (Naturrecht). Erst seit Beginn des 20. Jh. hielt der neuzeitliche Personbegriff verstärkt Einzug in die katholisch-theologische Literatur. Diese Entwicklung wurde wesentlich dadurch befördert, dass sich durch die Beiträge der Wertphilosophie (Max Scheler) und der Dialogphilosophie (Martin Buber, Ferdinand Ebner) das Verständnis von Personalität gegenüber dem kantischen und idealistischen Konzept weitete.

Eine erste einflussreiche theoretische Neujustierung katholischer Sozialethik erfolgte in dem von Heinrich Pesch zu Beginn des 20. Jh. begründeten Solidarismus. Ohne das Personkonzept ausdrücklich oder gar systematisch in seine Theoriekonstruktion einzubeziehen, deutete er das Verhältnis von Einzelnem und staatlicher Gemeinschaft doch bereits weitgehend als eines von Zweck und Mittel. Ende der 30er Jahre des 20. Jh. hat dann Theodor Steinbüchel in seinem Bemühen um eine Vermittlung von Scholastik einerseits und Wert- und Dialogphilosophie andererseits als erster Personalität systematisch als Angelpunkt seines moraltheologischen und sozialethischen Theorieansatzes entfaltet. In der katholischen theologischen Ethik war er damit seiner Zeit weit voraus.

Schneller erfolgte die Rezeption des modernen Personkonzepts zunächst auf anderen Gebieten der systematischen Theologie. Den wichtigsten Beitrag hierzu leistete Karl Rahner, der das kantische Verständnis menschlicher Autonomie bzw. personaler Freiheit zum Ausgangspunkt seines transzendentaltheologischen Ansatzes machte. Indem K. Rahner zeigte, dass der Autonomie des Menschen, seinem Selbstvollzug, als Möglichkeitsbedingung immer schon der Aspekt der Selbsttranszendenz innewohnt, und indem er „das umgreifende Sein“ bzw. „die ursprüngliche Einheit von Sein überhaupt“ als den „Horizont“ und das „Woraufhin“ dieser Selbsttranszendenz reflektierte (Rahner 1965: 217), dekonstruierte er den in der überkommenen katholischen Theologie behaupteten Gegensatz von Autonomie und Theonomie.

K. Rahner hat damit zugl. die Grundlage dafür gelegt, dass das Konzept der Person als autonomes moralisches Subjekt auch in Moraltheologie und Sozialethik rezipiert werden konnte. Auf dem Gebiet der theologischen Ethik haben als erste Alfons Auer und Franz Böckle ein konsequent autonomieethisches Konzept vertreten. Dieser Ansatz ist konzis zusammengefasst in F. Böckles Begriff der „theonomen Autonomie“, der zum Ausdruck bringt, dass Autonomie und Theonomie keineswegs in einem Verhältnis des Gegensatzes, sondern vielmehr in einer Beziehung der Voraussetzung und Erfüllung zueinander stehen.

Allerdings geht das P. in der katholischen Sozialethik nicht allein auf diesen autonomieethischen Ansatz in kantischer Tradition zurück. Eine signifikant andere Linie stellt der sog.e christliche Personalismus dar. Von bes.r Bedeutung innerhalb dieser Bewegung, die keine einheitliche philosophische Denkschule darstellt, war Jacques Maritain, dessen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise einen eminenten Einfluss hatte und maßgeblich dazu beitrug, dass es in den 60er Jahren in der katholischen Soziallehre und auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu einer Rezeption des Personbegriffs und einer Affirmation des Menschenrechtsethos kam. In seinem bereits 1936 vorgelegten Buch „Humanisme Intégral“ unterschied J. Maritain allerdings den von ihm propagierten „theozentrischen oder wahrhaft christlichen Humanismus“ scharf von dem in der Neuzeit seiner Ansicht nach dominierenden „anthropozentrischen Humanismus“ (Maritain 1950: 22). Indem J. Maritain seinen Personalismus genau von diesem Gegensatz zwischen Theozentrik und Anthropozentrik her entwarf, anstatt ihn wie K. Rahner, A. Auer oder F. Böckle in seiner Dialektik offenzulegen und zu dekonstruieren, blieb er in ausdrücklicher Distanz zu dem neuzeitlichen Personkonzept.

2. Systematische Entfaltung und Konkretion

Die Spannung zwischen einem integralen und einem autonomen Personkonzept spiegelt sich auch in den von diesen jeweils ausgehenden Interpretationen des P.s. Das P., das die Entfaltung der menschlichen Person zum leitenden Maßstab sozialer Ordnung erklärt, ist zunächst einmal ein formales Prinzip, dessen materialer Gehalt entscheidend durch das ihm zugrundeliegende Konzept der Person bestimmt wird. Der integrale Ansatz steht dabei weniger in der Gefahr, einen reduktionistischen Personbegriff zu konstruieren, weil der Anspruch der Integralität gerade darin besteht, das Gesamt der Wirklichkeit menschlicher Existenz abzubilden. Demgegenüber wohnt dem Konzept der autonomen Person tendenziell eine größere Gefahr inne, die Personalität auf die Rationalität des Menschen zu reduzieren.

Andererseits tendiert ein integraler Ansatz, zumal wenn er sich wie bei J. Maritain ausdrücklich von dem Autonomie-Konzept absetzen möchte, eher dazu, ein bei allem Bemühen um Integralität zwar facettenreiches, aber doch essentialistisches Personkonzept zu entwickeln, das sich insb. nach vorne hin gegenüber den sich in der Zeit wandelnden Diskursen über Menschsein und Menschenwürde abschließen könnte. Ein Beispiel hierfür liegt vor, wenn von einem integralen Personkonzept aus teilweise immer noch gegen die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern argumentiert wird.

Während ein autonomieethischer Ansatz vor einer solchen Gefahr besser gewappnet sein dürfte, ergibt sich hier möglicherweise die entgegengesetzte Versuchung, in bestimmten Diskurskontexten die dem Personbegriff innewohnende Dimension der moralischen Unbeliebigkeit und Unhintergehbarkeit aufzuweichen, die man als dessen Menschenwürdekern bezeichnen könnte. Dieses Problem zeigt sich in manchen bioethischen Debatten (Bioethik), etwa wenn der verbrauchenden Embryonenforschung das Wort geredet wird, indem Embryonen aufgrund ihres frühen Entwicklungsstadiums ohne die aktualen Eigenschaften der Rationalität oder Handlungsfähigkeit einfachhin das personale Menschsein und damit auch das unbedingte Lebensrecht und die Menschenwürde abgesprochen werden.

Die skizzierten Gefahren kann die Sozialethik nicht a priori, sondern nur durch eine hermeneutische und kritische Herangehensweise an ihre Fragestellungen vermeiden. Dies meint, dass Sozialethik als Hermeneutik der Lebenswirklichkeit zunächst versucht, die Phänomene des sozialen Lebens der Menschen zu verstehen, und sie erst in einem zweiten Schritt normativ auslegt. Die Sozialprinzipien und andere sozialethische Kategorien, etwa soziale Gerechtigkeit, bilden den Rahmen und die grundlegende Orientierung für diese normative Auslegung. Kritisch ist eine Sozialethik, insoweit sie sich diesen normativen Rahmen, der durch verschiedene theologische und philosophische Traditions- und Entwicklungsstränge gebildet wird, nicht vorbehaltlos zu eigen macht, sondern ihn im Gespräch mit den anderen Human- und Sozialwissenschaften immer wieder neu befragt und erst aus diesem Diskurs heraus inhaltlich konkretisiert. Das gilt auch für das P., das wie die anderen Sozialprinzipien formal und offen formuliert ist. Bereits aus dem Verständnis der Person als „Zweck an sich selbst“ ergibt sich allerdings inhaltlich das Verbot der Instrumentalisierung des Menschen, wie I. Kant es in der Selbstzweckformel seines kategorischen Imperativs formuliert.

Insofern der Personbegriff sowohl historisch als auch systematisch in einem engen Begründungs- und Verweisungszusammenhang mit der Idee der Menschenwürde und dem Menschenrechtsethos steht, erfolgt auch die inhaltliche Konkretisierung des P.s unter Rekurs auf den Menschenwürde- und Menschenrechtsdiskurs. Das Instrumentalisierungsverbot verweist dabei auf die individuellen Freiheitsrechte, wie sie von dem durch die Aufklärungsphilosophie inspirierten klassischen Liberalismus artikuliert und politisch durchgesetzt wurden. Bei diesen klassischen Freiheitsrechten geht es historisch zunächst einmal um den Schutz des bürgerlichen Freiraums autonomer Selbstbestimmung vor willkürlichen Eingriffen des Staates (z. B. Presse- und Meinungsfreiheit) sowie um justizbezogene Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe (z. B. die habeas-corpus-Rechte).

Wenn das P. die Entfaltung personaler Freiheit zum Leitmaßstab macht, dann konstituieren die Menschenrechte die Rahmenordnung dafür, dass dieser Maßstab im sozialen Raum auch wirklich zur Geltung kommt. Was zu den notwendigen Entfaltungsbedingungen personaler Freiheit und damit zum Inhalt des P.s gehört, ist Gegenstand eines unabgeschlossenen und unabschließbaren Diskurses, der seit den ersten Menschenrechtserklärungen geführt wird.

Deshalb ist der Katalog der Menschenrechte im Lauf der Zeit immer erweitert worden. Schon früh hat es etwa Bestrebungen gegeben, die Menschenrechte mit dem Demokratieprinzip (Demokratie) zu verbinden. Neben den liberalen Freiheitsrechten sind demokratische Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte (Partizipation) auf diese Weise zwar von Anfang an Gegenstand des Menschenrechtsdiskurses gewesen, aber erst im 20. Jh. auf breiter Front realisiert worden. Auch die konsequente Umsetzung der menschenrechtlichen Gleichheit von Mann und Frau ist erst spät und in einem langen Prozess erreicht worden. Die zweite Generation der Menschenrechte bilden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Anspruchs- und Teilhaberechte wie etwa die Rechte auf Arbeit, Ernährung, Wohnen, Gesundheit und Bildung. Als dritte Generation werden heute kollektive Rechte der Völker diskutiert wie die Rechte auf Entwicklung, saubere Umwelt, oder einen gerechten Anteil an den Schätzen von Natur und Kultur.

In dieser stetigen Fortentwicklung des menschenrechtlichen Diskurses artikuliert sich die Erkenntnis, dass die Realisierung von personaler Freiheit von einer Vielzahl sozialer Voraussetzungen abhängt. Diese müssen thematisiert und konzeptionell rezipiert werden, um zu einem nicht bloß formalen, sondern gehaltvollen Verständnis des P.s zu kommen. Das induktive Vorgehen, das bei der Hermeneutik der Lebenswirklichkeit und dem fortschreitenden, nach vorne hin offenen Menschenrechtsdiskurs ansetzt, unterläuft dabei den überkommenen Streit zwischen autonomieethischem und integralem Personkonzept bzw. daran anknüpfenden unterschiedlichen Interpretationen des P.s. Denn zum einen impliziert dieser Ansatz die Anerkennung des durch den klassischen Liberalismus und dessen Autonomiedenken erreichten historischen Gewinns individueller Freiheit. Ein Zurück hinter das neuzeitliche Autonomiedenken und das Konzept individueller Menschenrechte kann es insofern nicht geben. Zugl. ermöglicht der gleichermaßen kritische wie offene Ansatz einer hermeneutischen Sozialethik den Blick darauf, dass das klassische, rein individualistische Autonomieverständnis nicht hinreicht, um personale Entfaltung in der Gesellschaft vollumfänglich für jede und jeden zu erreichen. Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt für die oben skizzierte Ausweitung des Menschenrechtsverständnisses wie auch für neuere Diskussionen des Autonomiebegriffs, etwa in dem Konzept relationaler Autonomie. Indem eine moderne Sozialethik auch diese Impulse aufnimmt, kommt sie zu einem umfassenderen – in anderen Worten: integralen – Verständnis der Person und des P.s, das nicht auf Abgrenzung zum neuzeitlichen Autonomie- und Freiheitsdenken, sondern vielmehr auf dessen bessere Einlösung und Erfüllung zielt.