Pazifismus

Unter Rückgriff auf den christlich-mystischen Spiritualismus des 16. Jh. (Mennoniten, Quäker) reagiert der P. als bürgerliche Friedens- und Freiheitsbewegung an der Wende vom 19. zum 20. Jh. im euro-atlantischen Raum auf einen zum Bellizismus gesteigerten politischen Absolutismus, der die bellum-iustum-Lehre der augustinischen ordo-Konzeption aufkündigt und sich ein Recht zum Krieg vorbehält. Im ausdifferenzierten, von religionsmoralischen Ge- und Verboten des Dekalogs emanzipierten politischen System wird ein Legitimitätsdefizit kritisiert: Indem das Regel-Ausnahme-Schema die gesamtgesellschaftliche, den Herrscher einbindende Moral ersetzt, wird Politik zum Kampf um solche Ideologien, die Regeln definieren, sowie um Ämter, die zum Ausnahmehandeln befugen. Nachdem das interne Friedensproblem durch gewaltmonopolistische Herrschaft (Gewaltmonopol) gelöst zu sein schien, übernahmen politische Bewegungen die Funktion, das ungelöste Problem gewaltsam ausgetragener zwischenstaatlicher Konflikte bewusst zu machen. Die seit 1843 in Europa stattfindenden internationalen Friedenskongresse standen denn auch unter dem Eindruck eines Zielkonflikts zwischen nationalstaatlicher Einigung und Demokratisierung auf der einen Seite und Friedenssicherung auf der anderen Seite. Die Verdrängung des Moralcodes durch den Machtcode und eine Zielverschiebung vom Frieden hin zum Fortschritt brachte dann Spielarten des P. hervor, die auf die korrektive Kraft des Rechtssystems (Rechts-P. bzw. revolutionärer P.; Alfred Fried), auch des Wirtschaftssystems (pazifistische Freihandelsbewegung; Richard Cobden) oder des Religions- bzw. Erziehungssystems (pazifistischer Humanismus) setzten; und in Reaktion auf den Sozialdarwinismus warb Berta von Suttner für internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Weltpolizei und die Förderung einer den Krieg überwindenden Gesinnung.

Der gemeinsamen Idee eines mit Frieden assoziierten gesellschaftlichen Fortschritts stehen allerdings Unterschiede in der Definition jener zentralen Probleme gegenüber, auf die pazifistisch reagiert werden soll: Wird der Krieg als Mittel der Konfliktlösung generell abgelehnt, etwa aus religiösen (Tötungsverbot), transzendentalphilosophisch-ethischen (Instrumentalisierungsverbot) oder utilitaristisch-zweckrationalen (Ineffizienz) Erwägungen, so wird von aktivem P., von radikalem P., von konsequentem P. oder von Mittel-P. gesprochen. Scheint hingegen das zentrale Problem in einem ungerechten Frieden zu liegen, so artikulieren sich gemäßigter P., organisatorischer P. oder Ziel-P., die zur Instituierung globaler demokratisch-rechtstaatlicher Verhältnisse, die den Krieg als Institution überwinden, teilweise auch die Anwendung militärischer Gewalt hinnehmen. Unterschiede in der Akzeptanz von Gewalt rühren aus dem Wechsel der Leitunterscheidung vom Zweck-Mittel-Schema zum Theorie-Praxis-Schema: Als Kriterium legitimen Gewaltgebrauchs gilt dann weniger das Proportionalitätsgebot der bellum iustum-Lehre, also die Verhältnismäßigkeit der Mittelwahl; zentral wird jetzt die Entschlossenheit, mit der ein Modell gerechten Friedens zu verwirklichen gesucht wird. Der vom atomaren Patt und der Abschreckungsdoktrin der MAD geprägte Kalte Krieg der Nachkriegszeit kondensierte die beiden Strömungen des P. zur Einheitsdoktrin waffentechnologisch bedingter Kriegsführungsunfähigkeit. Überdies bot das pazifistische Konzept Sozialer Verteidigung Aktionsformen sozialen Widerstands und Ungehorsams (Ziviler Ungehorsam) als Alternativen zu einer Abschreckungsdoktrin an, deren Scheitern im Extremfall zum Genozid führt.

Mit Ende des Ost-West-Konflikts 1989 und der Hoffnung in eine Neue Weltordnung drängten Ziel-P. und Just-Peace-Doktrin alle Varianten des Mittel-P. in den Hintergrund. Sog.e Neue Kriege, internationaler Terrorismus und Failed States dienten der Rechtfertigung eines kämpferischen P., der politische, ökonomische, rechtliche und pädagogische Bedingungen des Liberalen Friedens durch zivil-militärisch gestützte Strategien des Regime-Change, des Peace-Building sowie des State- und Nation-Building durchzusetzen sucht. Innerhalb der P.-Diskussion während des Balkankonflikts der 1990er Jahre profilierte sich diese Variante des P. als politische Gegenposition zur jetzt als fundamentalistisch kritisierten Ablehnung militärischer Konfliktlösungsmittel. Von den klassisch-modernen Varianten des Ziel-P. unterscheidet sich dieser postmoderne P. bzgl. der Definition der zentralen Probleme: Da die Globalisierung den früheren kategorialen Unterscheidungen von Innen/Außen, Krieg/Frieden, Kombattanten/Nicht-Kombattanten, Zivil/Militär die Grundlage entzogen habe, würden nun auch für den Kampf gegen Gewalt, Ungerechtigkeit und Unfreiheit die Legitimitätsschranken des klassischen Völkerrechts entfallen. Also wären die – mit Immanuel Kants Republik gleichgesetzten, einem künftigen Weltinnenrecht vorgreifenden OECD-Staaten – befugt, ihre Soldaten als Weltpolizisten einzusetzen.

Von rechtsethischer Seite wird auf Fehldeutungen des kantischen Rechts-P. als Einwand gegen ein solches Programm liberaler Selbstermächtigung hingewiesen. Logisch-epistemologische Argumente eines pragmatischen Einzelfall-P. verweisen auf die von Werten beeinflusste Faktenanalyse von Worst-Case-Szenarien, die den rechtsentlasteten Interventionismus legitimieren sollen. Die Entscheidung fällt dann im Zweifelsfall für den von Art. V der UN-Charta geforderten Gewaltverzicht aus. Dies stützt und ergänzt die Position eines an Mahatma Gandhi anknüpfenden paradoxen P., der die Konfusion von Fakten und Werten ebenso wie die misslingende Transformation von Ursache-Wirkungs- in Mittel-Zweck-Relationen zur Delegitimierung des sog.en Aufrechnungsarguments nutzt. Für eine globalisierte Welt, in der um weltmonopolistische Vormachtstellungen kämpfende staatliche und nichtstaatliche Akteure zunehmend zu außerrechtlichen Mitteln greifen, in der auch Terror und die Gegenterrorkriegsführung eskalieren, gewinnt so das Non-Violence-Konzept M. Gandhis an Aktualität. Dieses teilt zwar mit dem postmodern-politischen P. eine Situationsdefinition, in der die Leitunterscheidungen des westlich-abendländischen Rationalismus nicht mehr plausibel erscheinen. Propagiert wird statt eines waffengestützten Voluntarismus jedoch ein selbstreflexives, den Reaktionszirkel bedenkendes Modell: Angesichts einer zur Eskalation prädestinierten Gewalt, die sich stets als Gegengewalt legitimiert, wird an scheinbar evidente Begriffe wie Akteur und Aktion Hand angelegt: Ein seine Verstrickung in Gewalt reflektierender Akteur wird vom Verursacher zum Wahrheitssuchenden (Sayagrahi), eine selbstreflexive Aktion wird vom Bewirken zum Nichtverletzen (Ahimsa).