Patriotismus

1. Der Begriff und sein Kontext

P. kommt vom griechischen patriá, was Abstammung, Volk oder den Familienclan bezeichnet; entspr. war ein patriótes ein „Landsmann“. Über das Lateinische gelangte der Begriff in die romanischen Sprachen, im 16. Jh. dann ins Deutsche. Seit der frühen Neuzeit legte sich über den einst rein beschreibenden Begriffsgehalt auch ein bewertender: Patriot ist jener Landsmann, der über die bloße Abkunft hinaus die wechselseitig verbindenden Ordnungsprinzipien der gemeinsamen Gesellschafts- oder Staatsordnung wertschätzt und in Geltung hält. In den Reformationskriegen konnten das ethnische oder kulturelle Gemeinsamkeiten diesseits der trennenden Religion sein, in Unabhängigkeitskriegen die Unterordnung individueller Interessen unter gemeinsam getragene Aufstandsrisiken. Seit dem 18. Jh. wird P. als eine lobenswerte, auf das Gemeinwohl und die Verbesserung der öffentlichen Wohlfahrt abzielende Haltung gegenüber dem Gemeinwesen verstanden. Bei vorherrschender Sesshaftigkeit wird auf diese Weise die „Vaterlandsliebe“ zu einem mit P. deckungsgleichen Begriff. Dabei kann durchaus offenbleiben, wie weit das als Vaterland empfundene Gebiet reicht oder wie es politisch organisiert ist. Umgekehrt wird P. zu einem Begriff ohne Sitz im Leben, sobald „Vaterland“ keine positiv gerahmte persönliche Erfahrungstatsache mehr ist, sondern nur noch ein bloßes Wort, dessen Gebrauch vielleicht auch noch negative Empfindungen auslöst.

Dass es dazu kommen kann, hat mit der Doppelgeschichte von Sache und Begriff des P. zu tun. Dank der Ablösung von Fürstensouveränität durch Volkssouveränität und des Wandels der Rolle von Regierten weg von Untertanen hin zu Staatsbürgern gewann die Denkfigur des P. im 19. Jh. große Entfaltungsspielräume. Im Zuge der sozialen Konstruktion von Nationen als „immer schon“ bestehend, auch ausgestattet mit dem Recht auf kulturelle Identität und einen eigenen Staat, erlangte nämlich der P. kollektive und individuelle Motivationskraft. Sie gründete in großen Geschichtserzählungen und reichte bis weit in die Zukunft. Man empfand sich in weit mehr als nur eine biologische Abfolge von Generationen hineingestellt. Oft schrieb man sich und seinesgleichen auch den Auftrag zu, das im Lauf der Geschichte Erreichte an nachrückende Generationen weiterzugeben, dank des wertvollen eigenen kulturellen Erbes auch eine gewisse – im Fall Europas: weltweite – mission civilisatrice zu erfüllen, sowie geographische Räume nach dem legitimierenden „Lebenswillen des eigenen Volkstums“ zu ordnen. Auf diese Weise ging P. nahtlos in Nationalismus und Chauvinismus über, dgl. in Sozialdarwinismus und Rassismus. Zwar lässt sich rein definitorisch P. vom Nationalismus abgrenzen: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet“ (Rau 1999). Doch im realen Gefühlsleben von Einzelnen oder Gruppen gesellt sich leicht zur Wertschätzung des Eigenen die Abwertung des Anderen sowie die Konstruktion des Fremden nicht als potentieller Freund, sondern als vermutlicher Feind.

2. Deutsche Besonderheiten

Weil P. als reale Empfindung immer auf ein konkretes Land bezogen ist, hängt die Ausprägung solcher Vaterlandsliebe stark von der Geschichte und von den in ihr entfalteten Zügen eines Landes ab. Länder mit einer Geschichte, die v. a. als Reihe von Erfolgen erinnert wird (wie die USA, Frankreich oder das Vereinigte Königreich) tun sich bes. leicht mit der Pflege von P. Gut gelingt dessen Kultivierung auch Völkern, die sich zugl. als kulturell zusammengehörig wie auch als von anderen in der Geschichte schlecht behandelt, gar unterdrückt empfinden, doch in der Gegenwart die Möglichkeit zur Ausgestaltung selbstbestimmten Gemeinwohls erlangt haben. Das gilt etwa für Polen und Tschechen oder die jüdischen Staatsbürger Israels. Anders verhält es sich mit einem zutiefst traumatisierten Staatsvolk wie den Deutschen.

Diese können die Schuld am Verspielen des bis 1914 Erreichten und an der moralischen Diskreditierung des eigenen Landes samt seiner Kultur ab 1933 niemand anderem als den Anführern des eigenen Volks zuschreiben. Sie lebten nach 1945 jahrzehntelang in erneut getrennten Staaten. Oft waren sie sich nicht einmal über den Fortbestand einer gemeinsamen Nation einig. Zudem wurde zu einem zentralen Bestandteil bundesdeutscher Selbstverständigung die Deutung eigener Identität und Verantwortung gerade von deutschen Staats- und Individualverbrechen her, nämlich als dauerhafte Abkehr von diesen und als versuchsweise Wiedergutmachung. Obendrein war der seit den Befreiungskriegen und der Reichseinigung in voller Blüte stehende P. der Deutschen unübersehbar nicht nur für schlechte Zwecke ausgenutzt worden, sondern hatte seinerseits schon für politische Unvernunft, fatales Mitläuferverhalten sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit blind gemacht.

Weil dies alles in Deutschlands öffentlicher Kultur gerade nicht verdrängt wird, ist hier der P. notwendigerweise anders ausgeprägt als anderswo. Er ist keine selbstverständlich nutzbare Ressource politischen Redens und Handelns, auch keine Haltung, gegen die es nicht gleich Einwände gäbe. Im noch besten Fall ist deutscher P. ein mit Vernunftgründen gewappnetes Grundgefühl, wonach es durchaus auch schön sein könnte, ein Deutscher zu sein. Doch alternativ bekunden nicht selten Vertreter intellektueller und politischer Milieus, P. sei ihnen fremd. Ihnen erscheint der Begriff „Vaterland“ weitgehend inhaltsleer und als Ausdruck eines ethnisch und kulturell eingeschränkten Horizonts derer, die ihn als persönlich wichtigen Bezugspunkt erachten. Nicht selten gipfelt diese kritische Distanz in der konsequenten Ablehnung des eigenen Landes.

Unter solchen Umständen entstand Bedarf daran, zwar dasjenige positiv zu benennen, was die – dem Anspruch nach: politisch geläuterten – Deutschen zusammenhalten könne, aber größtmögliche Distanz zu allem einzunehmen, was zu Deutschlands Traumatisierungen geführt hat. Von Dolf Sternberger, einem der Mitbegründer bundesdeutscher Politikwissenschaft, wurde in den 1970er Jahren das Konzept des „Verfassungspatriotismus“ (Sternberger 1990) entwickelt. Jürgen Habermas machte es für die deutsche Linke attraktiv. Inzwischen wurde es zum Kern bundesdeutscher Zivilreligion. Wie im 18. Jh. wird P. als eine lobenswerte Haltung gegenüber dem eigenen Gemeinwesen verstanden, die sich aber nur dann und gerade solange einnehmen lässt, wie sich das eigene Land durch eine gute Verfassung auszeichnet. Solchen P. legt somit an den Tag, wer die grundgesetzliche Bindung politischen Handelns an die Menschenwürde bejaht und zur Richtschnur auch des eigenen Handelns macht; wer Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Demokratie und Solidarität wertschätzt sowie sich in deren Dienst stellt; und wer Nationalismus, Chauvinismus oder gar Rassismus als Degenerationen von P. bekämpft. Auf diese Weise sichert der Verfassungs-P. Freiheit und Humanität, hat eine klar rationale Grundlage und macht – so der Anspruch – die Gründung des Gemeinwesens auf Gefühle, Symbolik oder Propaganda entbehrlich. Und weil letztlich jedes in einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) lebende Staatsvolk genau diese Form von P. leben kann und somit derlei P. nicht länger an ein bestimmtes Land mit genau dessen Geschichte und Kultur gebunden ist, eignet sich der Verfassungs-P. sogar als kosmopolitisches Ordnungsprinzip. Innerdeutsch wird er auch deshalb von vielen als bestmögliches Integrationsmittel der entstandenen Einwanderungsgesellschaft (Migration) verstanden. Er soll dann als jene „Leitkultur“ dienen, die man als „deutsche Kultur“ gar nicht fassen könne, ja aufgrund der Erblasten deutscher Geschichte auch gar nicht als eine spezifisch deutsche Kultur auszugestalten versuchen solle.

Allerdings greift eine solche Auffassung von deutschem P. zu kurz. Erstens sind das GG als geschriebene sowie unser Staatswesen als gelebte Verfassung nur die Spitzen eines großen Eisbergs an kulturellen Voraussetzungen, von deren verlässlichem Fortbestehen die ganze Plausibilität und auch reale Existenz einer fdGO abhängt. Zweitens ändert auch die Ratsamkeit von Verfassungs-P. nichts daran, dass weltweit sehr viele Menschen zu einer positiven Grundhaltung zum eigenen Land nicht entlang rationaler Argumente gelangen, sondern weil sie dort aufwuchsen und sich deshalb zugehörig fühlen. Der Bestand an noch nicht durch freiheitliches Verfassungsdenken geläutertem P. wächst deshalb immer wieder nach. Drittens muss ein Einwanderungsland, das sich durch Zuwanderer stärken, nicht aber seinen gesellschaftlichen Zusammenhalt verlieren will, den Neubürgern die eigenen kulturellen Ordnungsprinzipien samt deren Voraussetzungen nahebringen. Dafür aber braucht es mehr als die Zurschaustellung des verfassungsmäßigen Ertrags solcher Voraussetzungen. Viertens leuchtet es den aus aller Welt neu Zugewanderten viel weniger ein als den Nachkommen von generationenlang Deutschen, die innere Haltung zum neuen Heimatland v. a. durch die Abarbeitung an dessen traumatisierender Geschichte prägen zu lassen. Also bietet der Verfassungs-P. nur scheinbar einen Ausweg aus der Notwendigkeit, zu einer Deutschlands multiethnische und multikulturelle Gesellschaft (Multikulturalismus) zusammenhaltenden Rahmen- oder Leitkultur zu finden.

3. Inhalte eines aufgeklärten Patriotismus in Deutschland

Die Inhalte des unter solchen Umständen in Deutschland erforderlichen aufgeklärten P. lassen sich wie folgt umreißen. Erstens braucht es einen auf unsere fdGO bezogenen Verfassungs-P., nämlich eine offen bekundete und allem politischen Handeln zugrunde gelegte Zuneigung zu jener politischen Ordnungsform, die Deutschland unter allen Staatsformen, mit denen unser Land es je versucht hat, am besten bekommen ist. Verfassungs-P. ist somit kein „linkes Gegengift“ zu einem gleichsam rechten nationalen P.; er ist vielmehr des letzteren wesentlicher Mitbestandteil. Zweitens äußert sich deutscher P. im politischen Handeln und Sprechen aus einem Gesamtverständnis der deutschen Geschichte und Kultur. Deutschlands Geschichte (Deutsche Geschichte) und deren Lehren umfassen nämlich sehr viel mehr als die zwölf Jahre des Nationalsozialismus samt seiner Vorgeschichte, und natürlich umfassen sie auch viel mehr als die 40 Jahre der SED-Diktatur (DDR) und ihrer deutschen Wurzeln. Drittens gehört zum P. der Deutschen die Verbundenheit mit ihrer jeweiligen Heimatregion, die innere Bindung an deren Mundart, Landschaft und Bräuche. Unter Einwanderern wird das auf lange Zeit die innere Bindung an ihre Herkunftsländer einschließen. V. a. in solcher Heimatliebe, die unter eingebürgerten Migranten hoffentlich mehr und mehr die neue Heimat einbeziehen wird, wurzelt nämlich jener alltagspraktische P. der meisten Leute, denen der intellektuelle Zugang zum P. über Verfassungsprinzipien oder entlang von Lehren aus der deutschen Geschichte fremd und gesucht erscheint. Regionalen P. sollte man aber nicht wieder vom auf die Nation bezogenen P. abkoppeln lassen, zumal der Nationalstaat auf absehbare Zeit das am besten bewährte Gehäuse von Demokratie und der verlässlichste Rahmen von sozialstaatlicher Solidarität (Sozialstaat) bleiben wird. Viertens umschließt P. auch in Deutschland eine nicht nur tatkräftig ins Werk gesetzte, sondern immer wieder auch in ganz selbstverständlicher Weise bekundete Zuneigung zum eigenen Land und zu dessen Bürgern, zu Deutschlands Kultur und zu den Geltungsansprüchen dieses Landes als einer freiheitlichen, demokratischen und friedliebenden Nation. Dem Zusammenhalt jeder Gesellschaft ist nämlich sehr geholfen, wenn P. dieser Art nicht nur empfunden, sondern auch immer wieder zum Ausdruck gebracht wird, etwa in den Symbolen eines Landes. Natürlich wird deutscher P. nie wieder so geistig flach sein dürfen, wie er es früher einmal war, oder wie der P. in anderen, selbst unzweifelhaft freiheitlichen Staaten heute noch zu sein pflegt. Er muss vielschichtig sein und Dinge umschließen, die sich nicht von allein zusammenfügen. Gerade einen aufgeklärten P. muss man somit – ganz im Wortsinn – „kultivieren“, und zwar nicht allein in Deutschland.