Partikularismus

  1. I. Philosophische Aspekte
  2. II. Politische und rechtliche Aspekte

I. Philosophische Aspekte

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Der Begriff des P. kann politiktheoretisch auf zwei miteinander verknüpften Ebenen unterschieden werden: Zum einen handelt es sich um einen politischen Kampfbegriff, zum anderen um einen Begriff aus der politischen Philosophie. Beide Ebenen sind insofern miteinander verbunden, da der P.-Begriff auch in der politischen Philosophie in erster Linie zur Abgrenzung nicht-universalistischer Positionen verwendet wird und damit eine genuin politische Dimension aufweist.

1. Als politischer Begriff

Im Kontext innerstaatlicher Auseinandersetzungen wird der Begriff des P. zur politischen Markierung von Positionen verwendet, welche die Einheit der staatlichen Ordnung im Namen einer angestrebten politischen Unabhängigkeit (Separatismus) in Frage stellen oder die innerhalb einer föderal gegliederten Ordnung (Föderalismus) eine Interessenpolitik betreiben, in der die Interessen einer Teilgemeinschaft über die Interessen des Gesamtstaates gestellt werden. Hintergrund beider Tendenzen ist zumeist die Annahme einer partikularen, von der übergreifenden Ordnung sich absondernden Gemeinschaft, die sich entweder Kraft eines gemeinsamen Willens oder sonstiger angenommener Merkmale (Ethnie, Kultur, Sprache, Religion, wirtschaftliche Leistungsethik) definiert.

2. Als Begriff der politischen Philosophie

Als Begriff der politischen Philosophie wird P. überwiegend als Fremdzuschreibung gebraucht. Er erscheint dabei als Teil jenes Begriffsuniversums, das mit der philosophischen und politischen Aufklärung im 18. Jh. entsteht und in dem die universale Gültigkeit von Prinzipien der Vernunft (Vernunft – Verstand) behauptet wird. Als „partikularistisch“ können vor diesem Hintergrund nun alle Positionen bezeichnet werden, die dem philosophischen Vernunftuniversalismus kritisch gegenüberstehen. Daher ist diese Entwicklung eng verbunden mit dem Konflikt zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen seit Anheben des modernen Universalismus, der sich politisch insb. in der Amerikanischen und der Französischen Revolution verkörpert. Während bei Jean-Jacques Rousseau dieser Gegensatz noch als politischer Interessenkonflikt gefasst wird, erscheint er im deutschen Idealismus bei Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zunehmend als philosophische Spannung, die es begrifflich zu vermitteln gilt. Insb. stellt sich die Frage, ob und wie ein einzelner, das Allgemeine verkörpernder Staat noch einmal in übergreifende, vernünftige Strukturen eingebunden werden kann oder nicht.

In der gegenwärtigen Debatte der politischen Philosophie wird der Begriff des P. nahezu ausschließlich als Fremdzuschreibung verwendet, um die Kritik an Positionen des liberalen Universalismus zu bezeichnen. Die positiv besetzten Gegenbegriffe, die auch in der Selbstbeschreibung dieser universalismuskritischen, als partikularistisch beschriebenen Positionen auftauchen, sind hingegen Pluralismus, Differenz, Werte, Identität und Gemeinschaft. Diese nicht-universalistischen Positionen der politischen Philosophie sind breit gefächert: Am wichtigsten ist die Diskussion des Kommunitarismus, die sich als Kritik an der universalen Philosophie des amerikanischen Liberalismus von John Rawls entwickelt hat. Charles Taylor hat in seiner Theorie des Multikulturalismus die Bedeutung partikularer Gemeinschaftsformen für die Bildung und die Stabilisierung individueller Entscheidungspräferenzen herausgestellt. Alasdair MacIntyre hat die Aufklärungsphilosophie für ihren kontextlosen Universalismus kritisiert und vertritt eine aristotelisch geprägte, an partikularen Gemeinschaften orientierte Tugendethik. Ebenso haben Michael Sandel und Michael Walzer die universale Gerechtigkeitstheorie (Gerechtigkeit) des Liberalismus dafür kritisiert, dass er der für jede politische Ordnung notwendigen Idee des Guten keinen angemessenen Platz einräume. Daneben versuchen Positionen wie die von David Miller, das Problem der Verankerung liberaler Prinzipien in einer partikularen politischen Kultur durch einen civic nationalism zu lösen, der die partikulare Identität der politischen Gemeinschaft für die Geltungsstabilisierung in Dienst nimmt. In eine andere, radikale Richtung geht dagegen Samuel Huntingtons Theorie des „Clash of civilizations“, welche die neue Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes unter Rückgriff auf ältere Positionen wie Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee als Kampf partikularer, vornehmlich religiös geprägter Kulturen begreift, die sich durch universalistische Begriffe wie „Menschheit“ oder Vernunft nicht mehr vermitteln ließen.

Eine prominente Absage an den politikphilosophischen Universalismus erteilt auch der Diskurs der Postmoderne. Richard Rorty entwirft so eine Kritik des universalen Allgemeinen, welches in gegenwärtigen, durch Pluralismus und Differenz geprägten gesellschaftlichen Ordnungen als ein neues Absolutes auftrete. Mit dieser dogmatischen Selbstverabsolutierung bedroht jedoch der universalistisch-rationalistische Liberalismus jene Freiheit, die er selbst proklamiert. Ähnliche Positionen sind bspw. von François Lyotard vertreten worden, der anstelle einer universalistischen Rationalität auf die partikulare Logik der Differenz zurückgreift und damit die politische Ordnung nur mehr als ein Patchwork der Minderheiten denkbar werden lässt. Ebenso rationalismuskritisch argumentiert Jean-Luc Nancy mit seiner Verbindung der Begriffe von Singularität und Pluralität. In der neueren ethischen Debatte wurde jüngst von Jonathan Dancy der Versuch einer explizit partikularistischen Ethik unternommen, die sich gegen die universalistische Annahme absoluter Prinzipien wendet und damit auch den Begriff des P. als Selbstbeschreibung übernimmt.

II. Politische und rechtliche Aspekte

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1. Nationalstaatlicher Partikularismus

Ausgehend von „partikulär“ (sich auf das Besondere beziehend) ist der Begriff „nationalstaatlicher P.“ vor dem Hintergrund jener insb. in der deutschen Verfassungsrechtslehre dominierenden Vorverständnisse zu sehen, anhand derer sich Vorrang und Eigenständigkeit nationalstaatlicher Herrschaftsorganisation in internationalen, überstaatlichen Kontexten begründen und legitimieren lassen. Er soll jene theoretischen Annahmen, Begründungszusammenhänge und Schlussfolgerungen in den Blick nehmen, mit denen sich unter Rückgriff auf demokratietheoretische Erwägungen Eigenständigkeit und Vorrang nationalstaatlicher Herrschaftsorganisation in globalen Zusammenhängen gegenüber supranationalen Herrschaftsformen wie der EU rechtfertigen lassen. Der Begriff hat zugl. eine empirische Dimension, indem er – nicht ausschließlich, aber auch – auf Strukturen und Phänomene der Verfassungswirklichkeit Bezug nimmt. Er steht damit letztlich in engem Zusammenhang zum Begriff der „nationalen Identität“. Er weist jedoch über den – je nach theoretischem Zugriff – in unterschiedlicher Bedeutung vorausgesetzten Begriff der „nationalen Identität“ hinaus, indem er weitere anthropologische, staats- und politiktheoretische Voraussetzungen und Begründungszusammenhänge einbezieht. Ihm kommt somit eigentliche Bedeutung vor dem Hintergrund der – zumindest im europäischen Kontext gegebenen – Offenheit moderner Verfassungsstaatlichkeit zu und damit insb. im Zusammenhang mit der unter dem Gesichtspunkt demokratischer Selbstbestimmung (Autonomie) geführten Debatte über die Grenzen der europäischen Integration. Entspr. dem Dualismus von Liberalismus und Kommunitarismus lässt sich Kritik an diesen Ansätzen insb. von der Warte pluralistischer Demokratietheorie (Pluralismus) formulieren.

2. Inhaltlicher Abriss

Für das Begriffsverständnis bedeutsam sind im Ausgangspunkt kommunitaristische Theoriegrundlagen, welche den kulturellen und geschichtlichen Kontext jeder menschlichen Gemeinschaft und die Bedeutung entspr.er Vorprägungen für die Identität des Einzelnen betonen. Das Gemeinwesen basiert demnach immer auch auf geteilten Werte- und Gerechtigkeitsvorstellungen (Werte; Gerechtigkeit). Ausgehend hiervon lassen sich bestimmte Anforderungen an die politische Öffentlichkeit und den Diskurs als demokratietheoretische Funktionsbedingungen formulieren. Öffentlicher Diskurs, Verständigung und demokratische Willensbildung sind von kulturellen, geschichtlichen und sprachlichen Vorverständnissen abhängig. Gesetze sind letztlich Ausdruck dessen, was ein Volk, eine Nation, im Kern verbindet. Sie sind Ausdruck seiner spezifischen nationalen und kulturellen Identität.

Demgegenüber wird andernorts stärker auf ein a priori Gemeinwohlverständnis (Gemeinwohl; ausgehend von Jean-Jacques Rousseau), funktionelle Argumente im Zusammenhang mit der Unterwerfung unter das Mehrheitsprinzip und den Gedanken der – letztlich als Konstitutionsbedingung der staatlichen Einheit vorwegzudenkenden – (relativen) Homogenität des Staatsvolks rekurriert (insb. in der Tradition Carl Schmitts).

In einer globalisierten und durch zunehmende Interessenverflechtung gekennzeichneten Welt erscheint demokratische Herrschaftsorganisation als „partikulare“, nicht beliebig und ohne Legitimationseinbußen auf universale, Staat und Nation übergreifende Zusammenhänge – wie etwa die EU – übertragbare Herrschaftsform.

3. Rechtsprechung der europäischen Verfassungsgerichte

Von diesen Vorverständnissen ist auch die Rechtsprechung des BVerfG zu den durch das GG gezogenen Grenzen der europäischen Integration, insb. infolge der Entscheidungen zu den Verträgen von Maastricht (BVerfGE 89,155 ff.) und Lissabon (BVerfGE 123,267 ff.) geprägt. Dort wird einmal die relative Homogenität des Staatsvolkes als demokratietheoretische Funktionsbedingung (Maastricht) hervorgehoben, zuletzt indessen stärker auf kommunitaristische Vorverständnisse Bezug genommen (Lissabon). Eine föderale Gestalt der EU, einzelstaatliche Kompetenzreservate und tragende unionale Verfassungsprinzipien wie jenes der Subsidiarität werden so aus einzelstaatlicher Verfassungssicht gegenüber Änderungen des europäischen Primärrechts abgesichert.

Partikularistische Vorverständnisse haben ferner Niederschlag in der Auslegung der europäischen Grundfreiheiten und Menschenrechte gefunden. So billigt der EGMR in seiner Entscheidung zum Verbot der Gesichtsverschleierung in Frankreich (Urt. v. 01. 07. 2014 – 43835/11 [Rn. 129 ff.] – SAS/Frankreich) unter Berufung auf die unmittelbare demokratische Legitimation des parlamentarischen Gesetzgebers den Konventionsstaaten bei der Beschränkung europäischer Grundrechte einen weiten – mit einer zurückgenommenen gerichtlichen Kontrolle einhergehenden – Ermessensspielraum zu, da der nationale Gesetzgeber in bes.r Weise dazu berufen sei, über „örtliche Bedürfnisse und Zusammenhänge“ zu entscheiden und diese mit den Garantien der EMRK abzuwägen. Dies führt dazu, dass infolge einer letztlich demokratietheoretischen Begründung die EMRK als europäischer Grundrechtstandard unter Rücksichtnahme auf nationale Mehrheitsverhältnisse von Staat zu Staat unterschiedlich starke Beschränkungen erfahren darf. Im Ergebnis mag damit ein gewisses Maß an Fexibilität verbürgt und Unitarisierungstendenzen entgegengewirkt werden, die mit einer zentralen Spruchinstanz in Grundrechtsfragen sonst prinzipiell einhergehen. Zugl. wird jedoch ein Einfallstor für Beschränkungen der Konventionsgarantien geschaffen, das gerade in weltanschaulich und politisch aufgeladenen Kontexten zu kaum vorhersehbaren Entscheidungen führen kann und in einem Spannungsverhältnis zu den universellen Annahmen steht, auf denen die EMRK als europäischer Menschenrechtskatalog beruht.