Parlament, Parlamentarismus

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1. Begriff und Geschichte

Parlamentarismus (Ps.) ist zunächst ein polemischer Begriff, den Napoleon III. 1851 in Umlauf bringt, um seine politischen Gegner verächtlich zu machen. Charakterisiert werden sollte damit die Schwäche der mehrheitsabhängigen gegenüber einer in eigener Autorität gründenden starken politischen Führung. Ähnlich verächtlich benutzten den Begriff auch in Deutschland die alten Mächte zur Verteidigung ihrer Position gegen Mitbestimmungsansprüche aus der bürgerlichen Gesellschaft. Erst ausgangs des 19. Jh. bezeichnet er eine konstitutionelle Regierungsweise, unter welcher Herrschaft an die Mitwirkung und Zustimmung einer Volksvertretung gebunden ist. Klarheit über die Verwendung des Begriffs bestand allerdings nicht. Vielmehr wurde er zeitlich parallel sowohl auf Organe ständischer Repräsentation (die nicht auf Volkswahl beruhten), als auch auf solche angewendet, die sich, auf das Volkssouveränitätsprinzip gestützt, bestimmenden Einfluss auf die Regierung erworben hatten. Ältere Tradition hat dagegen der aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff „Parlament“ (P.), der sich im Französischen und Englischen bereits im 12. und im Mittelhochdeutschen im 13. Jh. nachweisen lässt. Bezeichnet wurden damit i. d. R. institutionalisierte Formen beratender Versammlung mit dem Monarchen (Monarchie), wie sie in der Formel „King in Parliament“ ihren Ausdruck fanden. Ps. als Terminus zur Kennzeichnung einer spezifischen Herrschaftsform ist dagegen ein Produkt der Neuzeit, welches auf der Durchsetzung der Bezeichnung „P.“ für repräsentative Vertretungskörperschaften beruht. In Deutschland ist dieser Prozess auch 1848 und danach noch umstritten.

Der aktuelle Begriffsgebrauch meint Institutionen repräsentativer Demokratie, die aus freien und gleichen Wahlen hervorgehen sowie rechtlich umschriebene Aufgaben bei Gesetzgebung, Etataufstellung und -vollzug, bei politischer Kontrolle und unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen auch bei der Regierungsbildung besitzen. Wesentlich ist dabei das Prinzip der Gleichheit, das für Wähler wie Abgeordnete gilt und im Übrigen auch Voraussetzung für deren freies Mandat ist. In ihren Aufgaben sind P.e von Aufträgen und Weisungen unabhängiges Staatsorgan, welches seine eigenen Angelegenheiten in selbständiger Zuständigkeit regelt. Verfassungspolitisch ist darauf abzuheben, dass das P. im partizipativen Kommunikations- und Entscheidungsprozess zwischen ihm, Regierung und Öffentlichkeit als Machtzentrum grundsätzlich eine eigenständige Rolle wahrnimmt, um Effizienz, Transparenz und Partizipation zu gewährleisten.

Diese normative Definition schließt Institutionen aus, die sich in der Moderne zwar des Begriffs bedienen, aber seine pluralistisch-demokratischen Implikationen verleugnen. Vertretungskörperschaften ideologisch geschlossener autoritärer bzw. totalitärer Einparteien- oder Blockparteiensysteme dienen als Institutionen zu deren Durchsetzung (z. B. „sozialistischer Ps.“), aber nicht als Repräsentanten von Pluralität in der Gesellschaft und zur Machtbalancierung im politischen System. Nach Wladimir Iljitsch Lenin erfordert Demokratie zwar Vertretungskörperschaften, aber keineswegs P.s. Diese Vertretungskörperschaft hat als alleiniges oberstes Staatsorgan den politischen Willen der Partei zu vollziehen. Bloße Existenz einer Vertretungskörperschaft dürfte daher kein hinreichendes Kriterium für die Mitgliedschaft in der weltweit agierenden Interparlamentarischen Union sein. Ps. und Demokratie können nur unter der Geltung der genannten normativen Kriterien gleichgesetzt werden. Denn ideologische wie ökonomische Zutrittsbedingungen zur Repräsentation schaffen grundsätzlich „feudalistische“ Körperschaften. Substanz, nicht bloße Form kennzeichnet die Institution, wie auch historische Entwicklungsprozesse Schritte zu deren Finalität sind und nicht schon das Ergebnis. Das lehrt nicht nur das englische Beispiel, sondern auch der verfassungspolitische Revolutionierungsprozess in den 1980er und 1990er Jahren, in dem sich sozialistische Vertretungskörperschaften ihrer ideologischen Fesseln entledigten oder durch gesellschaftliche Kräfte i. S. substantieller Parlamentarisierung auf die Seite geschoben worden sind.

Gleichwohl hat es historisch vielfältige Beratungs- und Vertretungskörperschaften gegeben: in der griechischen und römischen Antike, in den Hof-, Land- und Reichstagen der Monarchien Europas, in Konzilien und Synoden der Kirche und in den Kapiteln der Orden (in denen die Oberen sogar gewählt worden sind), oder in den Ständeversammlungen als wohl bedeutsamsten Wegweisern in die Moderne. Der dem zugrundeliegende Leitspruch „Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet“ (Congar 1980) meinte eben nicht alle (omnes), sondern bestimmte Privilegierte. Im beispielgebenden Fall Englands entsteht im Feudalismus die beratende Curia Regis, die in der Magna Carta 1215 v. a. Mitsprache bei der Steuererhebung gewann und sich sukzessive zum Great Council mit den beiden Kammern House of Lords und House of Commons wandelte. Dessen Vertreter wurden zum „Parliamentum“, dem Treffen mit dem König, hinzugezogen. Nicht ohne Rückschläge führte die wechselvolle Geschichte mit der Glorious Revolution zur Bill of Rights 1689, welche die parlamentarischen Kompetenzen von der „power of the purse“ (Haushaltsbewilligung und -kontrolle) über Petitionsrechte, Gesetzgebungsbefugnis und Regierungskontrolle bis zu einer zentralen Position im politischen System derart stärkte, dass Walter Bagehot (1867: 13–15) in Unterhaus und Kabinett die „efficient“, in Krone und Oberhaus aber nur noch die „dignified parts of the constitution“ sah und die Durchsetzung der parlamentarischen Regierungsweise bezeugte; allerdings noch ohne demokratische Basis: Das Unterhaus wurde von einer homogenen Klasse plutokratisch beherrscht. Nur 7 % der erwachsenen Bevölkerung waren wahlberechtigt. John Stuart Mill (1861) setzte sich diskursorientiert für eine großzügige Erweiterung des Wahlrechts ein, freilich um den Preis der Reduzierung des Unterhauses auf kommunikative und dekorative Funktionen. W. Bagehot dagegen propagierte effektive parlamentarische Mitregierung, aber unter Ausschluss der Volksmassen vom Wahlrecht.

Offensichtlich bestimmte das Maß des Vertrauens ins Volk die angestrebte Reichweite der P.s-Macht. Die zeitgenössischen Wahlrechtsreformen reduzierten zwar das demokratische Defizit, beseitigten es aber nicht. Gleichwohl ist England leuchtendes Beispiel für den europäischen Parlamentarisierungsprozess, weil dort nicht nur, wie sonst überall, von den mittelalterlichen Vertretungskörperschaften ständische Privilegien gegen die Fürstenmacht verteidigt, sondern auch deren Souveränitätsanspruch durch die P.s-Souveränität ersetzt worden ist. Diese dehnte seine Hoheit auf Gesetzgebung und Haushaltskontrolle aus, erzwang die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Unterhaus und etablierte das P. als Zentrum der Politik. Das Kabinett der nominellen „ministers of the crown“ war in Wirklichkeit dem P. verantwortlich und sukzessive an dessen Mehrheit gebunden. Dieses Vorbild gewann bestimmenden Einfluss auf die europäische und nordamerikanische Entwicklung. Allerdings war in England die Osmose von Legislative und Exekutive schon Mitte des 18. Jh. vollzogen, während andernorts, vielfach unter Trivialisierung eines Charles de Montesquieus, eine Gewaltentrennungsdoktrin stärker fortwirkte.

In Deutschland blieben im Grunde zunächst beide Ansätze rudimentär. Sie wurden korrigiert durch das verfassungsleitende monarchische Prinzip, das dem deutschen Konstitutionalismus seine eigentümliche Struktur gab. So wie er Staat und Gesellschaft einander entgegensetzte, stellte er auch den Monarchen mit seiner Regierung dem P. als Artikulationsorgan der bürgerlichen Gesellschaft dualistisch gegenüber. Es ging dabei gerade nicht um Gewaltenteilung, sondern um möglichste Erhaltung der Einheit der Staatsmacht und die Beschränkung gesellschaftlich-parlamentarischer Mitbestimmungsansprüche. Das Prinzip der „vorwaltenden Kronmacht“ (Hintze 1970: 78) widerstritt der Gewaltenteilung im Grundsatz. Es durchbrach sie normativ und praktisch vielfältig, v. a. auch bei der Gesetzgebung. Insofern erweist sich das monarchische Prinzip geradezu als „Gegenlehre“ (Huber 1963: 11). Nach den politischen und rechtlichen Grundsätzen des monarchischen Konstitutionalismus blieb das P. von der konkreten Macht im Staate ausgeschlossen und auf eine periphere, mehr abwehrende als gestaltende Mitwirkung beschränkt. Damit war das P. auf „negative Politik“ (Weber 1958: 327) frühzeitig fixiert. Erst die WRV von 1919 löste diesen negativen Ps. auf, der aber verhaltensdispositionell noch in die Republik übergriff und deren Scheitern mitbewirkte. Die Verfassung hatte sich zwar vorbehaltlos für Volkssouveränität als Legitimationsprinzip entschieden, dem Reichstag aber noch nicht die zentrale politische Position moderner P.e zugestanden, indem sie dem Reichspräsidenten wichtige Kompetenzen zuschrieb und ein „hinkendes“ parlamentarisches Regierungssystem (Thoma 1930: 504) konstituierte. Konsequente Überwindung der konstitutionalistischen Tradition gelang erst durch das GG von 1949 sowie durch den selbstbewussten Griff der Parteien nach der Macht in der parlamentarischen Praxis.

Moderne P.e vertreten, verfassungspolitisch in ein System von checks and balances eingebunden, das Volk in seiner Pluralität auf einer durch die Wahlakte begrenzten Vertrauensbasis auf Zeit. Volkssouveränität ist das begründende Prinzip, das sich im Wahlakt ausdrückt, allerdings einer beständigen rechtlich-formalen wie kommunikativen Untermauerung bedarf. Von einer Identität der Regierenden und Regierten kann keine Rede sein, da diese eine Homogenität voraussetzt, die dem Pluralismus der Gesellschaft und der Freiheit der Individuen widerspricht. Nur das Konkurrenzmodell der Demokratie ermöglicht Ps. sowie eine „Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“ (Schumpeter 1946: 428), Machtwechselchance und Minderheitenschutz (Minderheiten) eingeschlossen. Parlamentarische Repräsentation wird zu einem Vorgang, der die Verbindung der „Vertretung der Teilinteressen mit dem Gesamtinteresse“ (Rausch 1995: 299) ermöglicht und anzielt und nicht nur, wie im Ständewesen, die Vertretung sozial definierter gesellschaftlicher Großgruppen. Diese Grundsätze lassen jenseits des Nationalen Spielraum für unterschiedliche institutionelle Formen, die nicht zuletzt von konkreten historischen Erfahrungen und Bedingungen sowie von der politischen Kultur eines Landes geprägt sind. Die Unterschiede liegen nicht in der demokratischen Legitimität, sondern in der Organisation des Legitimationsprozesses.

2. Typen parlamentarischer Systeme

Im Modell direkter demokratischer Legitimation von P.en und Regierung werden beide Institutionen in je eigenen Wahlgängen bestellt. P.s-Abgeordnete und Spitze der Regierung (i. d. R. ein Präsident) besitzen durch diese Bestellungsakte voneinander unabhängige Legitimität. Derart konstruierte Regierungssysteme (heute zumeist präsidentielle) beziehen ihr Selbstverständnis und ihre Organisation stärker aus der Idee der Machtteilung. Formell stehen sich P. und Regierung als „seperated institutions sharing powers“ (Neustadt 1990: 29) gegenüber; jedoch hängt ihre Funktionsweise erheblich von der Herausbildung einer informellen Substruktur ab, welche die dogmatische Eigenständigkeit auf eine kooperative Ebene sublimiert, v. a. wenn sich politisch unterschiedliche Mehrheiten in den Institutionen gegenüberstehen. In den USA spricht man im Blick auf Weißes Haus und Capitol von divided bzw. unified government mit jeweils strukturbildenden Konsequenzen von institutioneller Kooperation über präsidiale Machtkonzentration bis zur wechselseitigen Blockade. Doch haben beide Staatsorgane aufgrund ihrer eigenständigen demokratischen Legitimation keinen wechselseitigen Einfluss auf ihren Fortbestand (P.s-Auflösung bzw. Amtsenthebung), abgesehen von der Möglichkeit des rechtsförmigen Impeachment. Kompatibilität von Amt und Mandat ist ausgeschlossen, sodass die Weichen für die Entwicklung je eigenen institutionellen Selbstverständnisses jenseits parteipolitischer Orientierung gestellt sind.

Das Gegenmodell beschränkt unmittelbare demokratische Legitimation durch Wahl auf das P. Diesem fällt die Aufgabe der Regierungsbildung zu. Deren Spitze wird durch parlamentarischen Wahl- bzw. Vertrauensakt, also indirekt, demokratisch legitimiert. Die Regierung besitzt keine autonome, sondern abgeleitete, übertragene Legitimität. Für dieses Modell hat sich die Bezeichnung parlamentarisches Regierungssystem eingebürgert. Normativ konstituieren es zumindest folgende Kriterien:

a) Das P. ist (direkt oder indirekt) Kreationsorgan der Regierung.

b) Zwischen dem P.s-Auflösungsrecht der Regierung und dem Amtsenthebungsrecht des P.s besteht eine Balance: Beide passen zusammen wie „Kolben und Zylinder einer Maschine“ (Loewenstein 1959: 86).

c) Regierungsamt und Abgeordnetenmandat sind miteinander vereinbar (Kompatibilität).

Verfassungspolitische Kriterien treten gleichberechtigt hinzu. „Wirkmächtiges Geheimnis“ (Bagehot, 1867: 12) dieses Systems liegt in der Verschmelzung von Legislative und Exekutive: Die regierende Mehrheit bildet – grundsätzlich auch als Koalition – eine Funktionseinheit. Ihr Führungspersonal besetzt die Kabinettsposten, und ihr Programm – ggf. ein Koalitionsvertrag – ist zugl. Basis des Regierungsprogramms. Das Gesamt-P. als politische Handlungseinheit wird i. d. R. zur Fiktion. An seiner Stelle übernimmt die Funktion der Machthemmung im Dienste eines gouvernement modéré nach der richtig verstandenen Doktrin C. de Montesquieus im Wesentlichen die Opposition. Machtbalance schaffen außerdem – wie im Präsidentialismus – der offene, plurale politische Willensbildungsprozess sowie – in föderalistischen Systemen – die vertikale Gewaltenteilung zwischen Zentral- und Gliedstaaten (Föderalismus). Daraus entstehen komplexe Beziehungen zwischen Kabinett, regierender Mehrheit und Opposition, in denen es durchaus auch um Kooperation, Koordination und um Mitsteuerung durch Kommunikation geht. Parlamentarisches Regierungssystem bedeutet v. a. parlamentarische Parteiregierung, deren angemessene Funktionsweise unter dem Aspekt demokratischer Legitimität gewährleistet sein muss. Da Regierung und Verwaltung autonome demokratische Legitimation vorenthalten bleibt, wird wechselseitige solidarische Durchlässigkeit der Willensbildung zwischen Kabinett und Mehrheit zur Sicherung und Übereinstimmung der politischen Intentionen ebenso bestimmendes und dringendes Postulat wie die Sicherung der Durchsetzungskraft der Leitungsfunktion des Kabinetts gegenüber der Verwaltung.

Faktisch treten in einem solchen Regierungssystem drei Kraftpole mit ihren entspr.en Kraftfeldern zutage: Regierung, Mehrheitsfraktion(en) und Opposition. Nach außen bestimmt der Dualismus zwischen regierender Mehrheit (Mehrheitsprinzip) und Opposition den politischen Prozess, bes. deutlich in einem konzentrierten Parteiensystem.

Diesen Typus des parlamentarischen Regierungssystems hat das Unterhaus geformt, nicht zuletzt bestimmt von der Dominanz eines Zweiparteiensystems, strukturiert durch das Mehrheitswahlrecht. Auch der Deutsche Bundestag gehört ihm zu, trotz unterschiedlicher politisch-kultureller und historischer Voraussetzungen. Die praktische Erscheinung dieses Systemtyps ist durchaus variabel, ob es sich um den P.s-Stil als „Rede-“ oder „Arbeits-P.“ oder auch eine Mischform zwischen beiden (Steffani 1979: 61–104) oder um Machtvarianten i. S. d. prime-ministerial-government bzw. der Kanzlerdemokratie wie auch eine eigenständige Rolle der Parlamentarier handelt.

Ein dritter Typus ist der Semipräsidentialismus französischer Prägung mit der einerseits eigenständigen, durch Direktwahl legitimierten Position des Präsidenten wie der Nationalversammlung, der Abhängigkeit des Regierungschefs von beiden Institutionen samt der Möglichkeit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit beider Amtsinhaber, die entspr.e machtpositionelle Konsequenzen nach sich zieht, bis zur cohabitation zweier unterschiedlicher Politikkonzepte. Zugl. kommen der Regierung erhebliche Eingriffsrechte zu, welche die Unabhängigkeit der Nationalversammlung beschneiden und einen „rationalisierten Parlamentarismus“ (Kimmel 2013: 156) provozieren. Mit der früheren französischen Idee der Versammlungsregierung stimmt dieser eingedämmte Ps. nicht mehr überein.

Reduzierten Ps. zeitigt das Schweizer Direktorialsystem als ausgeprägte Konkordanzdemokratie im Dienste der Vielfalt der Ethnien im Lande, die es um der Integration willen zu beteiligen und nicht zu überstimmen gilt. Zudem relativiert es durch die Instrumente des obligatorischen wie des fakultativen Referendums parlamentarische Gestaltungsmacht.

3. Parlamentsfunktionen

Die Funktionen eines P.s sind abhängig vom Begründungsprinzip legitimer Herrschaft sowie vom Organisationsmodell des Legitimationsprozesses. Die Entscheidung für Demokratie als legitime Herrschaftsordnung und für ein parlamentarisches Regierungssystem als Legitimationsmodell impliziert offenbar die stärksten Funktionszumutungen. Aufgrund dessen ist es zentrales Organ „demokratischer Gesamtleitung“ (Hesse 1995: 245) oder „politischer Führung“ (Schäfer 1977: 14). Die formalen verfassungsrechtlichen Kompetenzen allein beschreiben also Aufgaben und Bedeutung nicht hinlänglich.

Die Gesamtaufgabe lässt sich im parlamentarischen Regierungssystem in die Funktionen Regierungsbildung (die im Präsidentialismus entfällt), Kontrolle, Gesetzgebung und Kommunikation/Repräsentation differenzieren; Kommunikation als komplexer Prozess schließt natürlich Artikulation und Repräsentation mit ein. Moderner Ps. rechtfertigt sich aus der Erfüllung seines Funktionsspektrums im Zusammenklang. Systemtheoretisch (Systemtheorie) wäre er als multidimensionales Optimierungsmodell zu betrachten. Im Übrigen werden im parlamentarischen Verfahren immer mehrere Funktionen zugl. wahrgenommen: Gesetzgebung z. B. deckt stets auch Kommunikation und Kontrolle mit ab. Auch hier empfiehlt sich eine moderne, der dynamischen Entwicklung entspr.e Betrachtungsweise.

3.1 Regierungsbildung

Die Kompetenz zur Regierungsbildung ist system- und stilbildend. Sie begründet ein parlamentarisches Regierungssystem, sowie die Differenzierung des P.s in regierende Mehrheit und Opposition, die der Regierung von Grund auf mit gegensätzlichen Interessen gegenübertreten. Dies prägt den parlamentarischen Stil, wie die Wahrnehmung der anderen Funktionen.

Regierungsbildung erschöpft sich keineswegs in der Kanzlerwahl, bei der Wählerentscheide inzwischen weithin binden. Sie besitzt über die Besiegelung der Mehrheitsfindung (Koalitionsbildung) hinaus zwei wichtige Dimensionen: zum einen die Personalrekrutierung für Kanzler- und Ministerpositionen, welche in aller Regel ohne parlamentarische Sozialisation unerreichbar bleiben; zum anderen die Sicherstellung der Regierungsstabilität. Schon W. Bagehot sah darin „its greatest duty“ (Bagehot 1867: 166). Daraus erwächst ein Zwang zu wechselseitiger Solidarität in der Funktionseinheit „regierende Mehrheit“. Wo diese Solidarität in Zweifel fällt, kündigen sich Wandlungsprozesse an: Sind die Zweifel politisch, handelt es sich i. d. R. um den Zerfall einer Koalition; sind sie strukturell und tendieren dazu, nicht nur Solidaritätsbindungen abzustreifen, sondern auf verantwortungsscheue Distanz zur Regierungsbildung zu gehen, könnte sich ein Wandel oder sogar eine Krise des Systems andeuten.

Konzentration bzw. Dekonzentration des Parteiensystems sind primäre Funktionsbedingungen dieses Systemtyps. Wachsende Tendenzen zu Vielparteiensystemen aufgrund gesellschaftlicher Segmentierung führen zu institutionellem wie verhaltensdispositionellem Wandel mit der Folge erschwerter Mehrheitsbildung. Minderheitsregierungen würden die enge Verknüpfung von parlamentarischer und exekutiver Sphäre schwächen und damit auch die Stärke des P.s.

In den USA, wo die Unabhängigkeit beider Institutionen verfassungsrechtlich fixiert ist, erodiert seit Ende des 20. Jh. im Kongress jene ausgeprägte institutionelle Identität, die seinen Rang als machtbalancierendes Element im System bestimmt. Unter der Bedingung des unitied government begreift sich die Mehrheitspartei zunehmend nicht mehr als Teil eines independent branch of government, sondern als Präsidialpartei. Gepaart mit Ideologisierungsprozessen führt dies nicht nur zur Stärkung der Exekutive, sondern auch zu osmotischem Wandel des Systems.

Unabhängig vom Systemtyp intervenieren u. U. aktuelle Tendenzen und Interessen in das Spannungsverhältnis von P. und Regierung. Diese Prozesse erscheinen wandlungsoffen, gelegentlich auch von personellen Faktoren gesteuert.

3.2 Kontrolle

Parlamentarische Kontrolle basiert auf der Verantwortlichkeit der Regierung. Unterschiedliche Verfahrensmittel von der Informationserhebung (Enquete-Recht) über den Versuch, die Regierung zur Stellungnahme zu zwingen (Interpellationsrechte) bis zu ihrem Sturz durch (konstruktives) Misstrauensvotum stehen zur Verfügung. Als primär politisches Instrument unterliegt die Kontrolle auch politischem Gestaltwandel. Die fortschreitende Entwicklung zum Sozialstaat mit seinem ausufernden Normbedarf führt zum Widerstreit zwischen dem in Gesellschaft und Exekutivbereich angehäuften Sachverstand und der sich im P. artikulierenden politischen Intention. Gegenüber der Fülle des Handelns der Leistungsverwaltung kann das P. nur punktuell effektive Kontrolle leisten. Potentiell bleibt freilich jeder Verwaltungsvorgang seinem Zugriff ausgeliefert. Solange es frei ist, über die Aktualisierung dieser Zugriffsmöglichkeit zu entscheiden, scheint die Kontrollfunktion nicht strukturell in Frage gestellt. Ihre tiefgreifendste politische Modifizierung erfährt sie durch die Differenzierung der parlamentarischen Interessen gegenüber der Regierung in gouvernementale und oppositionelle. In der BRD zeigt sich jedoch immer wieder, dass der Gewinn gouvernementalen Charakters für die Mehrheit nicht unabdingbar zum vollständigen Verlust ihres parlamentarischen führt. Die Modifizierung der Beziehungen von P. und Regierung erlaubt im Vergleich zum konstitutionellen Dualismus z. T. sogar eine politische Verschärfung der Kontrollfunktion, weil die Mehrheit Zugriff auf die Verwaltung gewinnt. Insofern vollzieht sich Kontrolle an mehreren Fronten: generell zwischen Politik und Sachverstand, wo sie in der Tat auch noch gesamtparlamentarisch in Erscheinung tritt; zwischen dem Kabinett als politischer Führung und der Verwaltung; intern zwischen dem Kabinett und der eigenen parlamentarischen Mehrheit; schließlich zwischen regierender Mehrheit und Opposition. Die parlamentarischen Kontrollinstrumente werden jedoch vornehmlich von der Opposition genutzt, um die Regierung zur öffentlichen Begründung und Verteidigung ihrer Politik zu zwingen.

Inzwischen erschöpft sich der Kontrollbegriff nicht mehr nur im überkommenen Verständnis als Aufsicht und kritisches Negieren: Zum einen steht die demokratische Regierung im Vergleich zum monarchischen Konstitutionalismus in einem gänzlich gewandelten Legitimationskontext; zum anderen bliebe angesichts zunehmender Komplexität nachträgliche Intervention angesichts der geschaffenen Tatsachen oft ohne Effekt. Insofern hat sich ein kooperativer und präventiver Kontrollbegriff durchgesetzt, in dem weniger (im Nachhinein) „kontrollierend“ als vielmehr „regulierend“, d. h. richtungweisend, auf die Regierungsarbeit Einfluss genommen wird.

3.3 Gesetzgebung

Institutionell ist das P. wichtigstes Organ im Gesetzgebungsverfahren (Gesetzgebung). Allerdings zog die immense Ausdehnung und Vertiefung der Staatsaufgaben statt genereller Normen i. S. abstrakter Grundsätze inzwischen gleich stark oder sogar überwiegend Maßnahme- und Einzelfallgesetze nach sich, die – wie solche Einzelfälle selbst – stark wandlungsunterworfen sind. Allzuständigkeit des P.s und des Abgeordneten wird dadurch zur Fiktion. In der Gesetzesvorbereitung nimmt die Verwaltung durchaus auch begleitet von Interessen und Sachverstand aus der Gesellschaft eine Schlüsselstellung ein, unterliegt aber ihrerseits der politischen Leitung des Kabinetts. Eine realistische Positionsbestimmung des P.s kann nur anhand solcher Materien erfolgen, die sich auf Grundfragen der politischen, sozialen und rechtsstaatlichen Gestaltung erstrecken. Nur hier bieten sich Ansatzpunkte für politische Intentionen, die sich grundsätzlich noch immer als durchsetzungsfähig erweisen. Diese Positionsbehauptung ist dem Trend zu Spezialisierung und Arbeitsteilung, der Etablierung sachrationaler technisch-wissenschaftlicher Infrastrukturen und der Herausbildung eines neuen, sich in Spezialisierung und Arbeitsteilung entfaltenden Abgeordnetentyps, der sich vom klassischen Honoratioren gründlich unterscheidet, zu verdanken.

Vorläufer und Vorbild solcher Expertisen und ihrer Infrastruktur ist der Kongress der USA, der oft speziell als legislature bezeichnet wird, weil sein Einfluss sich primär aus der Gesetzgebungs- und Haushaltskompetenz ableitet. Formell kommt dem Präsidenten keine Gesetzesinitiative zu. Praktisch werden aber entspr.e Anregungen in seiner State of the Union-Botschaft erwartet und finden sich Abgeordnete, die präsidiale Initiativen übernehmen, während dem Weißen Haus anderseits als Element der Balance das Vetorecht bleibt. Im parlamentarischen Regierungssystem ist von der legislatorischen Interessenkongruenz von Regierung und P.s-Mehrheit auszugehen. Daher führen Statistiken, die von der Marginalisierung des Gesetzgebers sprechen, in die Irre. Regierungsvorlagen sind i. d. R. Mehrheitsvorlagen; gescheiterte Vorlagen, als parlamentarische ausgewiesen, sind Oppositionsvorlagen.

3.4 Repräsentation und Kommunikation

Darunter ist die umfassende Aufgabe ständiger Sicherung der Legitimität staatlichen Handelns insb. unter kommunikativen Aspekten zu verstehen. Wo das P. als einziges Staatsorgan auf unmittelbare demokratische Wahl zurückgreifen kann, ist diese Aufgabe von bes.r Bedeutung. Repräsentation lässt sich als Kommunikationsprozess zwar nicht in der Realität, wohl aber analytisch nach zwei Richtungen entfalten: Die Aufgabe, durch Diskussion und Formulierung politischer Aussagen der Öffentlichkeit Informationen zu vermitteln, Begründungen und Verantwortungen zu verdeutlichen und ihr dadurch Partizipation zu ermöglichen, kann als Willensbildungsfunktion bezeichnet werden. Umgekehrt lässt sich die Aufgabe, den politischen Willen der Bevölkerung zu artikulieren bzw. Eingaben aufzunehmen, zu prüfen und zu verarbeiten, als Artikulationsfunktion verstehen. Repräsentation in diesem Zusammenhang vergegenwärtigt das Volk und die Vielfalt seiner Interessen. Handlungsorientiert wird sie zu einem sozialen Prozess – hier zwischen Parlament(ariern) und Bürgern, die vertreten werden. Kommunikation ist dessen funktionale Voraussetzung. Die Repräsentationsfunktion wird gelegentlich dahin missverstanden, dass das P. die Sozialstruktur der Bevölkerung spiegelbildlich wiederzugeben hätte. Seine Repräsentationsleistung erweist sich aber am Grad der erzielten sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Friedens. Jedoch zeigt die stetige Diskussion um die ungleichmäßige Berücksichtigung nicht organisations- bzw. schwach konfliktfähiger Interessen wie zunehmend auch um Defizite wesentlicher Problemerkenntnis und -bewältigung die Notwendigkeit, die politische Führungsrolle der P.e wieder stärker zu akzentuieren. Allein der globale Themenwandel im 21. Jh. erzwingt politisch neue Prioritätensetzung und deren Legitimation.

Sachrationaler Strukturwandel und Tendenzen kommunikativer Selbstbeschränkung beeinträchtigen allerdings die Öffentlichkeit des P.s. Anders als bei Gesetzgebung und Kontrolle genügt bei der Repräsentation der Befund grundsätzlicher und potentiell durchgreifender Leistungsfähigkeit nicht. Da die Öffentlichkeitspflicht als Legitimationspflicht verfassungsrechtlich konsequent gestaltet ist, – das BVerfG postuliert eine ununterbrochene „Legitimationskette“ – muss sie souveräner parlamentarischer Disposition entzogen bleiben. Der Drang zu Effizienz, so begründet er ist, konfligiert mit der demokratisch begründeten Forderung nach Transparenz.

3.5 Legitimation als Prozess

Alle Funktionen sind auf das Ziel zu beziehen, Legitimität zu sichern, die auf angemessener Problemlösung, Kommunikation und Partizipation beruht. Idealtypisch zielt ein Teil der P.s-Funktionen auf Evidenz, ein anderer auf Effizienz. Als Gesamtaufgabe des P.s lässt sich daher bestimmen: Legitimation durch Kommunikation und Effizienz. Da aber auch Leistungsfähigkeit kommunikativer Vermittlung bedarf, erscheint die Zuspitzung erlaubt: Legitimation durch Kommunikation.

In welchem Stil diese Aufgabe vollzogen wird, ist politisch eine sekundäre, analytisch aber durchaus interessante Frage, weil sie Schwerpunktbildung und Zuordnungen ermöglicht. Permanenter Bezugspunkt der wissenschaftlichen Diskussion ist die Unterscheidung von Rede- und Arbeits-P., die ihre Evidenz zwischen Forumsfunktion und Gesetzgebungsexpertise in sich trägt und im Grunde schon in den Konzepten J. S. Mills und W. Bagehots angelegt ist. Ebenso evident sind Unterhaus und Congress als reale Bezugspunkte. Die Akzeptanz von „Zwischenformen“ (wie dem Bundestag) verdeutlicht zugl. die Konzession eines Kontinuums von unterschiedlichen, politisch-kulturell geprägten Ausformungen zwischen den beiden Polen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der einflussreichen Unterscheidung Nelson Polsbys zwischen „Transformative Legislatures“ und „Arenas“ mit dem Unterschied eindeutiger Akzentuierung der Gesetzgebungskompetenz als Determinante der Machtposition (Polsby 1975: 277). Eine dritte Typologie Active v Marginal Legislatures (M. Mezey 1979) arbeitet ebenfalls mit der Position in der Gesetzgebung einerseits, sowie anderseits mit der Unterstützung in der politischen Kultur. Sie lässt sich insofern jenseits der hier vorgenommenen Ps.-Definition auch auf nichtdemokratische Systeme oder defekte Demokratien anwenden. Keine dieser Typologien ist trennscharf, keine verhindert den Zugang zur Vielfalt der Praxis.

4. Herausforderungen

4.1 Grundsatzkritik

Grundsätzliche Zweifel an der Legitimationsleistung des Ps. und an seiner Existenzberechtigung begründen die wirkmächtigsten Ansätze der P.s-Kritik seit Generationen. Im Grunde liegen sie im Konflikt mit der pluralistischen Gesellschaft und der P.s-Aufgabe, aus der Vielfalt der Interessen die Brücke zum Gemeininteresse zu schlagen. Wenn „Diskussion und Öffentlichkeit“ für die kompromisslose Suche nach Wahrheit durch parteipolitisch und interessenspezifisch ungebundene Abgeordnete auf der Basis gesellschaftlicher Homogenität stehen sollen, sind sie historisch nie realiter die „geistige[n] Grundlage[n] des Parlamentarismus“ (Schmitt 1969: 5) gewesen – und können es nicht sein. Wenn ohne Unabhängigkeit von Parteien und Interessen Diskussion nicht wahr und Öffentlichkeit nicht vernünftig sein kann, entfällt die Legitimationskraft des modernen Ps., da seine Wesensbestimmung darin liegt, Konflikte zu kanalisieren und Integration zu bewirken – also Arena des Pluralismus statt Resonanzboden von Homogenität zu sein. Nach der auf diesen Schultern stehenden späteren linken und neomarxistischen Kritik dienen die Legitimationsmechanismen des Ps. nur der „Veröffentlichung von Herrschaft“ (Agnoli 1968: 66): Höchst erfolgreich manipulierten sie das Bewusstsein der Massen zuungunsten ihrer objektiven und primären Interessen und dienten „friedlich-manipulative[r] Integration“ (Agnoli 1968: 63), statt Herrschaft zugunsten eines herrschaftslosen Zustands zu überwinden, in dem es dann keiner Legitimität mehr bedarf. Die Leistungsfähigkeit des Ps. wird gerade dort übersteigert, wo sie in Wirklichkeit größere Defizite aufweist: bei der Kommunikation mit den „Massen“.

4.2 Publizität und Komplexität im Wandel

Kommunikative Legitimation setzt adäquate Beziehungen zwischen P. und Öffentlichkeit voraus, und zwar unter den Aspekten parlamentarischer Responsivität für die Interessen der Bevölkerung einerseits wie der politischen Führung als Vermittlung von Entscheidungsperspektiven andererseits. Die allumfassende bürgerliche Öffentlichkeit (die in Wirklichkeit ebenso sozial begrenzt gewesen ist wie die Mitgliedschaft im P.) findet in der pluralen Massendemokratie nicht mehr ihresgleichen. Sie ist vielfältig differenziert, von Interessen, Aufmerksamkeits-, Zuwendungs- und Vermittlungsbereitschaften abhängig. Die sozialen Medien (Social Media) vertiefen die Individualisierung und damit die Tendenz zu segmentierten Öffentlichkeiten. P.en kommt in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit kein kommunikatives Privileg zu. Spezifische Zumutungen an Responsivität, ob von Individuen oder Gruppen ausgehend, sind, wenn sie nicht einem aktuellen Mainstream dienen, an spezieller Kommunikationspartnerschaft interessiert und nicht an genereller Öffentlichkeit – und umgekehrt. Zugang zur Öffentlichkeit unterliegt zudem massenmedialen Selektions- und Interpretationskriterien sowie der Onlineresonanz von Abgeordneten, Fraktionen und der Gesamtinstitution. Das Ergebnis sind Marginalisierung der parlamentarischen Kommunikation und mit ihr Fehlvorstellungen von der parlamentarischen Legitimationsleistung, deren sachrationale Dimension die kommunikative unterbaut.

Mit Wandel und Wachstum der Aufgaben des Staates nahmen Kompliziertheit und Komplexität der zu regelnden Materien erheblich zu. Die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Rationalität stellt sich mit großer Schärfe. P.e sind dabei primär politisch steuernde Institutionen, woraus sich ihr Rang wie ihre Herausforderung ergeben. Positionsbehauptung kann nicht durch die Verabsolutierung und damit Rationalitätsentleerung des Politischen gelingen. Vielmehr umgreift und begrenzt das Rationalitätsprinzip das Politische. P.e reagieren zur Sicherung ihrer Konkurrenzfähigkeit durch Einrichtung wissenschaftlicher Beratungsdienste, Differenzierung ihrer Entscheidungsstrukturen, nichtöffentliche Verfahrensweisen (Ausschüsse) sowie durch Verfachlichung, Spezialisierung und Arbeitsteilung der Abgeordneten. Was der Leistungssicherung dient, vermindert die Attraktivität im öffentlichen Diskurs: ein legitimatorisches Paradoxon.

Die Gegenthese lautet, dass P.e der hohen Differenzierung und Komplexität der Moderne gar keine hinreichenden Steuerungs-, Kontroll- und Intellektualitätskompetenzen entgegensetzen könnten. Verantwortung bliebe ihnen noch als „öffentlicher Mythos“ (Andersen/Burns 1996: 227). Die „Postdemokratie“ (Crouch 2008) werde im Diskurs der politisch-administrativen, ökonomischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten zugunsten effektiver Problemlösung regiert. Träfe dies zu, erodierten von den drei Säulen der parlamentarischen Demokratie Effizienz, Transparenz und Partizipation die beiden letzten.

Diese Komplexitätskapitulation übersieht ein wesentliches Faktum: dass nämlich im parlamentarischen Regierungssystem die Regierung dem P. zugehört und zusätzlich dichte Kommunikation mit der P.s-Mehrheit pflegt. Auch haben sich Institutionen übergreifende Verhandlungs- und Informationsstrukturen gebildet, die, wenn nicht das P., so doch Parlamentarier in Entscheidungsbildungsprozesse einbeziehen, bis hin zu „Fachbruderschaften“ aus Abgeordneten, Ministerialen und Interessenvertretern. Empirische Studien gehen daher von grundsätzlicher Positionsbehauptung aus: „there is no evidence for a decline of legislatures“ (Koß 2019: 233). Im Übrigen ist die Einflussnahme wirtschaftlich-sozialer Interessenträger wie auch aktiver Bürgergruppen auf die Entscheidungsfindung demokratische Normalität. Ein „souverän“ entscheidendes P. wäre kein demokratisches.

4.3 Politikverflechtung

Herrschaft differenziert sich und wird auf unterschiedlichen konkurrierenden, aber doch koexistierenden Ebenen ausgeübt mit entspr.en Folgen für ihre Legitimation (Politikverflechtung). Der nationale Ps. sieht sich durch teils neue sub- und supranationale Entwicklungen modifiziert. Neben dem Trend zur Zentralisierung bestehen auch Prozesse der Dezentralisierung und Konstituierung konkurrierender Entscheidungssysteme. Auch der Deutsche Bundestag hat nicht nur Kompetenzen der Landtage an sich gezogen, sondern musste solche auch an die EU abtreten. In anderen europäischen Ländern verstärkte sich die Tendenz zur Regionalisierung (Regionalisierung, Regionalismus). Dabei überlappen sich die Funktionsbereiche. Die Problembearbeitung erfolgt keineswegs entlang der Ansiedlung parlamentarischer Institutionen auf regionaler, nationaler oder supranationaler Ebene. So greift etwa die Regionalpolitik der EU von der supranationalen Ebene direkt in die regionale ein und tangiert nebenbei auch noch die regionalpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der nationalen. Wenn z. B. in der EU die zunehmend als Waffe gegen bürokratische und technokratische Zwänge wiederentdeckte parlamentarische Repräsentation – auch im Instrument der Subsidiaritätsklage – erhalten bleiben soll, stellt sich das in diesem Ausmaß völlig neue Problem der Beziehungen und Rückkoppelungen zwischen den drei derzeit in Europa politisch entscheidenden parlamentarischen Entscheidungsebenen. Es entfaltet sich in weithin informellen, vorentscheidenden Kommunikationsprozessen, welche darauf hinauslaufen, jenseits aller Kompetenzregelungen (oder Nichtregelungen) alle Entscheidungsebenen möglichst an allen Entscheidungen zu beteiligen. Solche Politikverflechtung führt zu ungewöhnlicher Verdichtung des Interaktionsfeldes der beteiligten Akteure und sicher zur Verminderung der Transparenz ihrer Aktionen und Positionen. In diesem Kontext hat das BVerfG Kompetenzaushöhlungen, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens rechtlich oder faktisch unmöglich machen, für unzulässig erklärt und substanzielle Mitentscheidung des Bundestages verlangt. Große Aufmerksamkeit verdienen auch die Räume, die sich das mächtiger gewordene Europäische Parlament weiterhin im spezifischen Gefüge der EU erkämpfen kann. Wie diese wird es aber eine Institution sui generis bleiben.