Norm

  1. I. Philosophie
  2. II. Soziologie
  3. III. Rechtswissenschaft

I. Philosophie

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1. Wort und Begriff der Norm

Norma bedeutete im Lateinischen urspr. das beim Bau benutzte Winkelmaß bzw. die Richtschnur, also Werkzeuge der quantitativen Messung. Bereits Cicero verwendete das Wort dann aber in einem abstrakten Sinn als Maßstab der Natur für das Gesetz, („secundum naturam, quae norma legis est“ [2004, II 62: 140]), also vergleichbar dem lateinischen regula und dem griechischen kánon. Der Begriff ist seither durch seine Doppeldeutigkeit zwischen dem Beschreiben des „Normalen“, „Regelmäßigen“ (z. B. „Qualität ist bei uns die N.“), und dem Vorschreiben bzw. Statuieren des Notwendigen (z. B.: „Diese N. muss befolgt werden!“) gekennzeichnet. Zwischen dieser deskriptiven und präskriptiven Bedeutung liegt noch eine konventionelle für das freiwillige Aufstellen von Standards wie die DIN, bei welchen die Befolgung freigestellt ist, aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen aber nicht selten ein faktischer Anpassungsdruck besteht. Ein Verhalten kann also in dreifacher Weise als normwidrig oder normgemäß qualifiziert werden: als (un-)normal, (un-)konventionell und pflichtwidrig/pflichtgemäß. Da das Regelmäßige und das Konventionelle nur veränderlich und beliebig oder zufällig sein können, nicht aber notwendig, färbt deren Kontingenz auch auf den präskriptiven N.-Begriff ab. Das Normierte wird also vielfach als ebenso veränderlich sowie beliebig oder zufällig angesehen werden wie das Normale. Im Fall eines derartigen Verständnisses schließt bereits die Wahl des N.-Begriffs in Systemen oder Theorien göttliche, naturrechtliche oder objektiv-ethische Formen der Verpflichtung aus.

2. Wort- und Begriffsgeschichte

Wort und Begriff wurden im Deutschen erst im 17. Jh. gebräuchlich, spielten aber bis zum beginnenden 19. Jh. weder in der Praxis noch in der Philosophie oder Theorie eine zentrale Rolle. Seit der Mitte des 19. Jh. erfuhr der Begriff der N. einen steilen Aufstieg, der durch den neu auftauchenden, allg.en wie rechtstheoretischen Positivismus mitbewirkt wurde. Wegen des Zweifels an ethischen und religiösen Begründungen blieben, dieser Auffassung zufolge, nur das Regelmäßige und das von Menschen autoritativ Normierte als Quelle der Verpflichtung übrig. Der erste Rechtsphilosoph, bei dem die N. zur zentralen Kategorie wurde, war offenbar Friedrich Julius Stahl. Anders als Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel verstand er das Recht nicht als auf Freiheit und subjektive Rechte gegründet, sondern als „eine Ordnung, das ist eben eine verwirklichte, stets befolgte Norm“ (Stahl 1878: 197). Von den Rechtsideen und Rechtsprinzipien sollen sich die N.en durch ihre „Geltung“ unterscheiden. F. J. Stahl kannte immerhin noch eine ethische Dimension des Rechts. Karl Binding sah in seinem Monumentalwerk „Die Normen und ihre Übertretung“ (Binding 1922) die verhaltensleitende Verpflichtung als N. an. Für Rudolf von Ihering ist die N. der „abstrakte Imperativ für das menschliche Handeln“ (Ihering 1893: 331). Die N. wird hier also noch als eine Regel und somit eine allg.e Verpflichtung verstanden, etwa ein Parlamentsgesetz oder eine Verordnung. Im Neukantianismus, etwa bei Hermann Lotze, Wilhelm Windelband, Emil Lask und Heinrich Rickert, wurde der Begriff des Wertes fundamental, während der Begriff der N. sekundär blieb. Gustav Radbruch verwendet ihn etwa nur als peripheren Zusammenfassungsbegriff der „Normenarten“ (Radbruch 2011: 41) von Recht, Moral und Sitte. Allerdings sollen Wert und N. die gleiche Existenzform der Geltung haben. Georg Jellinek spricht von der „normativen Kraft des Faktischen“ (Jellinek 1960: 338) und behauptet, dass alles Recht urspr. nichts als faktische Übung war. Mit der Verbindung von Positivismus und Neukantianismus wird das Verhältnis von N. und Wert umgekehrt und der Begriff der N. zum Zentralbegriff: Für jeden Sprechakt des Sollens sind nach Hans Kelsen übergeordnete N.en als Deutungsschemata notwendig. Den Abschluss des auf diese Weise entstehenden, pyramidenförmigen N.en-Systems soll eine „Grund-N.“ als transzendental-logische Voraussetzung bilden. Dabei wird der N.-Begriff auf einzelne Verpflichtungen ausgedehnt, soll also z. B. das richterliche Urteil und den Verwaltungsakt umfassen. Auch andere rechtliche Äußerungen bzw. Sprechakte, etwa Erlaubnisse, Ermächtigungen, Statusänderungen sollen N.en sein. Die N. soll nicht nur der Sinn eines Willensaktes, sondern auch der Inhalt eines Denkaktes sein können. Damit wurde der N.-Begriff maximal ausgedehnt. Er schließt sämtliche Sprech- und Denkakte in sozialen Ordnungen wie dem Recht, der Moral usw. ein. Dies wird allerdings nicht allg. akzeptiert. Wohl die meisten Theoretiker verstehen unter N. nach wie vor nur Regeln, also neben der Beschreibung des Regelmäßigen und Konventionellen nur allg.e Verpflichtungen oder jedenfalls nur Verpflichtungen. Neuerdings wird ähnlich, wie es Herbert Lionel Adolphus Hart für Regeln vorgeschlagen hat, die Ermöglichung durch N.en betont. Das Problem des N.-Begriffs liegt in seiner extremen Entdifferenzierung mit der Folge einer großen Umfassendheit und Vagheit. Mittlerweile handelt es sich nur noch um einen sekundären Zusammenfassungsbegriff ohne klare Referenz. Jeder Versuch, ihn für die Wissenschaft bzw. Theorie fruchtbar zu machen, muss deshalb problematisch bleiben.

3. Die Arten von Normen und ihre Begründung

Aufgrund seiner Umfassendheit und Vagheit kann der N.-Begriff mit allen Phänomenen der Natur sowie allen Denk- und Sprechakten sozialer Ordnungen verbunden werden. So gibt es N.en des Rechts, der Moral, der Ethik, des Brauchs, der Technik, der Medizin bis hin zur DIN. Bei letzteren handelt es sich um einen vom Deutschen Institut für Normung erarbeiteten freiwilligen Standard, in dem materielle und immaterielle Gegenstände vereinheitlicht sind. Ein Beispiel sind die genormten Papiergrößen DIN A0–8 nach DIN 476. DIN-N.en entstehen auf Anregung gesellschaftlicher Akteure, v. a. der Wirtschaft. Auf internationaler Ebene gibt es z. B. die ISO-N. und die europäischen N.en EN. Unterscheiden lassen sich weiter Rechts- und Kultur-N.en und innerhalb der Rechts-N.en zwingende und dispositive N.en Was über das Normale bzw. Regelmäßige hinausgeht und menschliche Freiheit einschränkt, bedarf der Begründung. Konventionelle N.en sind zumindest pragmatisch, verpflichtende N.en, etwa solche der Moral oder des Rechts, sind ethisch rechtfertigungsbedürftig.

II. Soziologie

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Eine N. ist eine sanktionsbewehrte Erwartung an das Handeln (Handeln, Handlung). Spätestens seit Émile Durkheim sind N.en der zentrale Gegenstand der Soziologie, weil sie den Menschen äußerlich entgegentreten und ihn zugl. zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Diese makro- und mikrosoziologische Annahme prägt die N.-Forschung bis heute. Zu klären ist, was die Funktion, die Entstehung, die Wirkung, die zukünftige Entwicklung und die Bedeutung von N.en für das Soziale darstellt.

Die Funktion von N.en besteht, dies hat bes. deutlich Talcott Parsons herausgearbeitet, in der Regulation sozialen Handelns, weil sie Werte konkretisierende Aufgabenstellungen haben. N.en können in dieser Perspektive aus Werten abgeleitet werden. Die Entstehung von N.en ist in der N.-Diskussion umstritten. Einerseits gibt es eine verhaltenstheoretische N.en-Diskussion, wie sie etwa von Karl-Dieter Opp geführt wird, in der die Entstehung auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül zurückgeführt wird und N.en einen Nutzengewinn darstellen. Eine andere Erklärungsstrategie besteht in der Unnötigkeit von konkreten Abstimmungen für Situationen. Zu klären ist dann allerdings, wie die Abstimmung von N.en und Situationen erfolgt: Wann passt eine N. auf eine Situation? Dieser Prozess kann nur geklärt werden, wenn man sich an den Wirkungen von N.en orientiert. Wirkungen von N.en bestehen in der Ähnlichkeit der Definition der Situation durch die Anwendung gleicher N.en. Dadurch werden ähnliche Situationen erkennbar und eine unterschiedliche Situationsdefinition unwahrscheinlich. Im Zuge von Modernisierung und Individualisierung wird eine Pluralisierung und Individualisierung von N.en vermutet, ohne dass dies die Bedeutung von N.en für das soziale Zusammenleben einschränkt. Die Bedeutung von N.en für die Soziologie liegt auch darin, dass N.en über die Möglichkeit der N.-Interpretation auch Freiheitsgrade im Sozialen schaffen, so dass N.en Freiheit beschränken und zugl. ermöglichen.

N.en verlangen nach einer Sozialisationstheorie (Sozialisation) der Aneignung von N.en, um über den rein äußerlichen Zwang hinausgehend auch den innerlichen Zwang der N.-Akzeptanz und der N.-Setzung artikulieren zu können. N.en reduzieren durch ihre kontrafaktische Geltung Komplexität, denn sie sind enttäuschungssicher. N.en strukturieren Rollen vor, weil diese als Bündel von Verhaltenserwartungen definiert werden.

N.en sind der empirischen Forschung nur indirekt, über das Vorliegen positiver oder negativer Sanktionen zugänglich. Dieser Zusammenhang macht die N.-Forschung zur Sanktionsforschung.

Die Zentralität von N.en für die Soziologie kommt insb. in dem Konzept des homo sociologicus von Ralf Dahrendorf zum Ausdruck, denn der homo sociologicus steht in direktem Gegensatz zum homo oeconomicus. Dabei wird unterschieden zwischen verschiedenen Geltungsanforderungen an N.en. Im Rückgriff auf Hans Peter Dreitzel unterscheiden wir Muss- (etwa Gesetze), Soll- (bspw. Sitten) und Kann- (bspw. Bräuche) N.en mit einem abnehmenden Grad von Verbindlichkeit. Daraus resultieren verschiedenartige Sanktionsmöglichkeiten von sehr verbindlichen Sanktionierungen durch jeden bis hin zur relativ geringen Sanktionierung im Rahmen von interpersonalen Aushandlungsprozessen.

Beispielhaft hat insb. É. Durkheim an der Tatsache des Selbstmordes (Suizid) in seiner empirischen Studie die Bedeutung unterschiedlicher Konzepte von N.-Losigkeit für das Selbstmordhandeln ausgewiesen. Dort werden N.en über das Konzept der Anomie operationalisiert, weil Anomie einen Zustand der N.-Losigkeit signalisiert. Unterschiedliche Formen der N.-Losigkeit erzeugen unterschiedliche Typen des Selbstmordhandelns. Über das Selbstmordhandeln wird auf die N.en oder auf die typische Form der N.-Losigkeit zurück geschlossen.

III. Rechtswissenschaft

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1. Begriffsverwendungen

Als Rechtssatzbegriff wird N. meist auf technische N.en gemünzt, der Begriff Rechts-N. selten verwendet. Einige Rechtsvorschriften erklären den Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne durch ihn: „Gesetz ist jede Rechtsnorm“ (§ 4 AO, ähnlich Art. 2 EGBGB, § 12 ZPOEG, § 7 EGStPO). Rechts-N. ist dann Oberbegriff über Verfassung, Parlamentsgesetz, Rechtsverordnung, Satzung etc. Gemeint sind nur Sätze des Außenrechts, d. h. solche, die Private berechtigen und verpflichten können; Sätze des sog.en Innenrechts (insb. Verwaltungsvorschriften als Rechtssätze der Verwaltung für die Verwaltung) sind rechtliche N.en, zählen aber nicht zu den Rechts-N.en, die der Gesetzgeber als „Gesetz“ bezeichnet. Diese Verwendung von Rechts-N. als Oberbegriff verschiedener Arten von Außenrechtssätzen liegt auch dem dogmatischen Begriff der N.en-Kontrolle zugrunde, der die Überprüfung der Gültigkeit bestimmter Rechts-N.en durch Oberverwaltungsgerichte oder Verfassungsgerichte bezeichnet. Prototyp der Rechts-N. ist der abstrakt-generelle Rechtssatz. In diesem Sinne grenzt die Rechtsdogmatik die N. von der Einzelfallentscheidung (bspw. Gerichtsentscheidung, Verwaltungsakt) ab; anders als diese soll sich die N. auf eine Vielzahl von Fällen und von Adressaten beziehen und so abstrakt-generell sein. Allerdings können N.en durchaus konkret und individuell sein und sind es häufig auch (bspw. Einzelfallgesetz, Maßnahmegesetz, Bebauungsplan). Die Qualifikation als N. richtet sich vorrangig nach formalen Kriterien (Selbstbezeichnung, Verfahren, äußere Form). Insofern es auf den Inhalt nicht ankommt, gibt es neben verhaltenssteuernden N.en (primären N.en) auch Meta-N.en (sekundäre N.en), die sich auf primäre N.en beziehen: secondary rules, die anerkennen, ändern, ermächtigen, ferner erläutern, verweisen, derogieren, fingieren; in diesem Sinne ist § 4 AO eine sekundäre N. Zum Teil werden sekundäre N.en mangels Sollensanforderung nicht als Rechts-N.en, sondern als Rechtssätze bezeichnet. Rechtssatz (oder Rechtsvorschrift) kann auch die gesatzte, d. h. verschriftlichte Rechts-N. bedeuten. Allerdings ist der Sprachgebrauch uneinheitlich; nicht selten werden Rechts-N., Rechtssatz und Rechtsvorschrift synonym gebraucht. Von der Rechtsquelle lässt sich die Rechts-N. durch den Ableitungszusammenhang unterscheiden: Aus bestimmten in einer Rechtsordnung anerkannten Rechtsquellen (bspw. Richterrecht) kommen einzelne Rechts-N.en.

2. Funktionen der Rechtsnorm

Die N. ist Maßstab für eigenes und fremdes Entscheiden (Entscheidung): Handlungs- und/oder Kontrollmaßstab. Maßstab ist die Rechts-N. dadurch, dass sie für Handlungen und/oder deren Kontrolle Rechtsfolgen setzt: Gebot, Verbot, Erlaubnis oder Freistellung. Damit ist sie das Grundelement einer jeden Rechtsordnung. Ihre Hauptfunktion ist die Lösung von Interessenkonflikten im äußeren Zusammenleben; daher verkörpert die N. in aller Regel eine Interessenabwägung und verfolgt so nicht einen, sondern mehrere Zwecke, eine komplexe Teleologie (was in der Anwendung Beachtung finden muss). Auf eine Sanktionsbewehrung kommt es in rechtswissenschaftlicher (anders als in soziologischer) Perspektive nicht an; es gibt auch unsanktionierte N.en (leges imperfectae). Verhaltens- und Sanktions-N.en (Sanktion) können in einer konkreten Rechts-N. in eins fallen. Gleiches gilt für Handlungs-N. (auch: „Funktions-N.“) und Kontroll-N.: Soll erstere das Verhalten der primären N.-Adressaten (z. B. der Staatsorgane) leiten, so die zweite das Verhalten der Kontrollorgane als sekundärer N.-Adressaten (insb. der Verfassungsgerichte). Die Unterscheidung dieser N.-Funktionen, die im selben Rechtssatz auftreten, hat ihren Sinn in einer Differenzierung der Regelungsintensität: Die Kontrolle soll, etwa aus Gewaltenteilungs- bzw. Legitimationsgründen, hinter der Handlungsleitung zurückbleiben. „Die Bindung des Handelnden geht weiter als die Funktion des Kontrollierenden, weil sie in einem gewissen Umfang der Kontrolle notwendig entzogen ist. Im Zweifel hat der Handelnde vor dem Kontrollierenden recht und das hat seinen guten Sinn.“ (Forsthoff 1955: 232) – ein Ergebnis, das sich auch durch Hinzunahme einer Kompetenz-N. begründen lässt.

Gemeinsam ist (primären) Rechts-N.en der Anspruch auf Verbindlichkeit: Sie umschreiben keine Verhaltensregelmäßigkeit oder bloße Verhaltenserwartung, sondern sind präskriptiv. Gerade weil N.en verbindliche Maßstäbe sind, lassen sie sich auch als politische Steuerungsinstrumente (Steuerung) nutzen. Die immer neuen Nachsteuerungsbedarfe moderner Gesellschaften lassen diesen Aspekt in den Vordergrund treten: Das Gesetz wird weithin nicht als Ordnung eines Lebensbereichs verstanden, sondern als Mittel zu einem konkreten Zweck. Dies gilt auch für das GG, wie die hohe Änderungsfrequenz indiziert. In allen Fällen dient die Rechts-N. der gesellschaftlichen Kommunikation und Motivation.

3. Arten von Rechtsnormen

Rechts-N.en können ungeschrieben oder geschrieben sein. Als ungeschriebene Rechts-N.en kommen solche des Gewohnheitsrechts, Allgemeine Rechtsgrundsätze, N.en des Richterrechts, des wissenschaftlichen Rechts und des Naturrechts in Betracht. Was als Rechts-N. dient, bestimmt jede Rechtsordnung explizit oder implizit durch ihre Rechtsquellenlehre für sich. So wendet der IGH nach Art. 38 IGH-Statut Völkervertrags- und -gewohnheitsrecht an, ferner die „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“, und nutzt „richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen“ (Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut); mit Zustimmung der Parteien entscheidet er „ex aequo et bono“ (Art. 38 Abs. 2 IGH-Statut). Geschriebene Rechts-N.en sind auf Unionsebene (Europarecht) das Primärrecht (EUV, AEUV und EuGRC), das Sekundärrecht (insb. die in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden Verordnungen und die von den Mitgliedstaaten umzusetzenden Richtlinien, Art. 288 AEUV) sowie das „Tertiärrecht“ (auf der Basis von Sekundärrecht erlassene N.en der Unionsorgane, Art. 290 f. AEUV). In Deutschland gibt es in Bund und Ländern Verfassung, Parlamentsgesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen, Geschäftsordnungen; hinzu kommen weitere N.-Arten, bspw. allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge oder Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es besteht kein numerus clausus der N.-Arten: Verfassungsändernder und einfacher Gesetzgeber können neue N.-Typen einführen. Hinsichtlich des Rangverhältnisses rezipiert die Rechtsordnung die traditionelle Hierarchievorstellung vom Geltungsvorrang der je höheren N.-Schicht bei Anwendungsvorrang der jeweils niederen N.: In casu muss vorrangig das die Verfassung konkretisierende Gesetz oder die das Gesetz konkretisierende Rechtsverordnung angewendet werden.

Hinsichtlich des Gegenstandes gibt es neben Verhaltens-N.en im engeren Sinne (also materiellen Maßstäben) N.en mit formellen Anforderungen wie Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften. In der Rechtstheorie werden Konditional- und Finalprogramme (Zweckprogramme) unterschieden: Konditionalprogramme sind N.en, die dem Tatbestand (als der Gesamtheit der Voraussetzungen) eine Rechtsfolge (d. h. eine normative Konsequenz) zuordnen – „eine der großen evolutionären Errungenschaften der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Luhmann 1993: 196). Final- oder Zweckprogramme bestehen in einer bloßen Zwecksetzung. Während sie für Niklas Luhmann keine Rechts-N.en sind („Programme des Rechtssystems sind immer Konditionalprogramme“ [Luhmann 1993: 195]), ist der rechtswissenschaftliche Sprachgebrauch laxer und findet Finalprogramme bspw. in zahlreichen Rechts-N.en des Planungsrechts.

Uneinheitlich ist auch die Unterscheidung von Regel und Prinzip. Wenn Regeln Rechts-N.en sind, die in binärer Weise Anwendung finden, weisen Prinzipien die Dimension des Gewichts und damit der Abwägbarkeit auf, sind aber ebenfalls Rechts-N.en. N.-Qualität haben sie auch, wenn man sie als bes. abstrakte, generalklauselartig (Generalklausel) formulierte Rechtsvorschriften versteht. Vielfach wird der Prinzipienbegriff aber der N. entgegengesetzt: Prinzip ist dann ein hinter den N.en stehender Grundgedanke, guide; oder es ist zwar kein Rechtssatz, aber als ratio legis oder durch richterliche Ausprägung positives Recht.

4. Normsetzung und Normanwendung

N.-Setzung und N.-Anwendung lassen sich – zumindest phänomenologisch – unterscheiden, müssen aber entgegen dem bestehenden Hiatus zwischen Rechtsanwendungslehre (juristischer Methodenlehre) und Rechtsetzungslehre zusammen gedacht werden. N.en können nur dann als gesellschaftliche Kommunikations- und Motivationselemente wirken, wenn ihre Entstehungs- und Wirkungsbedingungen beachtet werden. Sie leben von der Umsetzungsbereitschaft und -fähigkeit ihrer primären und sekundären Adressaten, die Teilnehmer eines gesellschaftlichen Kommunikations- und Motivationsprozesses sind. Kommunikation und Motivation sind angewiesen auf die Ambiance in der Rechtsgemeinschaft, Kompetenz zu methodengerechter N.-Setzung und N.-Anwendung, Ethos der Rechtstreue und viele andere Faktoren, die Rechtssoziologie, Rechtsetzungslehre und juristische Methodenlehre aufzuklären haben. Hierzu zählt das Gesetz der abnehmenden Wirksamkeit: Je mehr N.en, desto mehr Friktionen und desto geringer die erwünschte N.-Wirkung. Diese vielfache Abhängigkeit und Eingebettetheit der Rechts-N. gilt auch für und im Hinblick auf Unions- und Völkerrecht. Aufgrund der Heterogenität der Rechtsgemeinschaften ist das Gelingen der Kommunikations- und Motivationsprozesse hier noch prekärer. Dass die Anwendung der einzelnen Rechts-N. im Mehrebenensystem zumindest potentiell auch von Rechts-N.en der übergeordneten Ebenen abhängt (völkerrechtsfreundliche, unionsrechts- und verfassungskonforme Auslegung) und die Zahl dieser Rechts-N.en zunimmt, macht die methodengerechte N.-Anwendung zunehmend anspruchsvoll.