Neutralität

Allg. meint N. (vom lateinischen Adjektiv neuter, neutrum: keiner von beiden) eine Haltung der Unparteilichkeit, Nichtbeteiligung und Nichteinmischung bei einem Konflikt zweier oder mehrerer sich ausschließender Positionen. Als Rechtsbegriff ist N. im Völker- wie im Staatsrecht eingeführt.

1. Völkerrecht

Ab dem frühen 17. Jh. bezeichnet der Terminus N. im Völkerrecht die Nichtbeteiligung einer Macht am bewaffneten Konflikt anderer Mächte. Die im Laufe der Jahrhunderte erwachsenen Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts (Gewohnheitsrecht) wurden im 19. und frühen 20. Jh. teilweise kodifiziert (Pariser Konferenz 1856 sowie die II. Haager Friedenskonferenz 1907, relevant v. a. die V. und XIII. Haager Konvention).

Zu unterscheiden sind verschiedene Spielarten der N.:

a) Der Grundtatbestand der N. besteht in der einseitigen Erklärung eines Staates, an einem konkreten bewaffneten Konflikt nicht teilzunehmen und gegenüber den kriegführenden Staaten strikte Unparteilichkeit zu wahren.

b) Bei der dauernden N. hat ein Staat hingegen die völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung abgegeben, sich dauerhaft und grundsätzlich sowohl der Teilnahme an bewaffneten Konflikten wie an sicherheitspolitischen Zusammenschlüssen zu enthalten. Beispiele für eine derartige Einschränkung der tatsächlichen Handlungsfähigkeit eines Staates sind die Schweiz (Schlussakte des Wiener Kongresses 1815), die Vatikanstadt (Lateranverträge 1929), Österreich (N.s-Gesetz nach Abschluss des Staatsvertrags 1955) sowie Turkmenistan (Anerkennung durch die UN-Generalversammlung 1995).

In beiden Fällen kann die N. auch eine rein faktische sein, d. h. sie beruht nicht auf völkerrechtlich verbindlicher Erklärung, sondern auf einer politischen Absichtserklärung. Beispiele dafür sind Costa Rica, Finnland, Irland, Liechtenstein, Malta und Schweden.

Abzugrenzen ist N. hingegen von der Neutralisierung (Neutralisation), bei welcher einem Staat unfreiwillig der dauerhafte N.s-Status auferlegt wird, nicht selten verbunden mit einer Demilitarisierung.

Aus dem N.s-Status erwachsen völkerrechtliche Pflichten wie Rechte:

a) Der neutrale Staat darf sein Hoheitsgebiet keiner der Konfliktparteien für deren militärische Aktionen verfügbar machen und ihnen überdies keinerlei militärische Unterstützung gewähren. Dies betrifft direkte ebenso wie indirekte Unterstützungsleistungen (etwa: Gestattung des militärischen Transit oder der Unterhaltung von Basen, Versorgungs- und Kommunikationseinrichtungen, Lieferung von Rüstungsgütern).

b) Die dauernde N. entfaltet bereits in Friedenszeiten gewisse Vorwirkungen. Der neutrale Staat hat seine gesamte Politik (insb. im Hinblick auf Wirtschaft und Handel) so auszurichten, dass er im Konfliktfall seine N. aufrechterhalten kann.

c) Umgekehrt ist das Hoheitsgebiet des neutralen Staates (unter Einschluss der Hoheitsgewässer und des Luftraums; also kein Überflug!) unverletzlich. Der Bruch der N. ist ein schweres völkerrechtliches Delikt, das den neutralen Staat ohne Weiteres zur Selbstverteidigung berechtigt. Daher ist in der Praxis die N. zumeist eine bewaffnete (Schweden, Schweiz).

Die klassische Kategorie der N. hat auch unter den Bedingungen globaler Friedenssicherungssysteme unverändert ihre Berechtigung. Deren Insuffizienzen (wie die Nichtbeachtung des Gewaltanwendungsverbots in Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) haben die N. bislang nicht funktionslos werden lassen.

2. Staatsrecht

Obschon kein Verfassungsbegriff, enthält das GG verschiedenste Ausprägungen der Pflicht des Staates, sich in Fällen konfligierender Positionen nichtstaatlicher Rechtssubjekte unparteiisch zu verhalten. Als Inhaber des Gewaltmonopols kann der Staat seiner Friedensfunktion nur gerecht werden, wenn er sich nicht vorab mit einer bestimmten Position identifiziert. Das betrifft die Pflicht staatlicher Institutionen als solcher (N. der Staatsorgane gegenüber politischen Parteien und arbeitsrechtlichen Koalitionen) ebenso wie das konkrete Handeln von Beamten (Art. 33 Abs. 5 GG) und Richtern (Art. 97 Abs. 1 GG).

Von bes.r Bedeutung ist die religiös-weltanschauliche N. des Staates. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung aus einer Gesamtschau verschiedener Normen des GG (Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 140 i. V. m. Art. 136 Abs. 1 und 4 sowie Art. 137 Abs. 1 und 3 WRV) den Grundsatz entwickelt, der Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger“ (BVerfGE 19,206 [216]) dürfe in Fragen von Religion und Weltanschauung nicht selbst Partei ergreifen. Zu bedenken ist freilich, dass es keinen allg.en, dem GG vorausliegenden Begriff der N. gibt, sodass dieser vielmehr aus der Verfassung selbst zu entfalten ist. Zudem ist der Grundsatz ambivalent: er ist gleichermaßen antistaatlich (Begrenzung der Macht des Staates auf das Säkulare) wie etatistisch (Begrenzung gesellschaftlicher Kräfte in ihrer Einflussnahme auf den Staat).

In rechtlicher Hinsicht lassen sich dem Grundsatz der N. vier Aussagen entnehmen:

a) Der Staat darf sich in die internen Angelegenheiten von Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht einmischen (Interventionsverbot). Das gilt sowohl für direkte und rechtsförmige Eingriffe (im 19. Jh.: Ingerenzen bei kirchlicher Personalauswahl und Organisationsstruktur) wie für Versuche informaler Beeinflussung (aktuell: gezielte Parteinahme in religionsinternen Debatten, Bewertung religiöser Lehren und Organisation am Maßstab von Grundsätzen des weltlichen Rechts).

b) Ebenso wenig ist dem Staat erlaubt, sich inhaltlich mit einer Religion oder Weltanschauung, Kirche oder Religionsgemeinschaft ineinszusetzen (Identifikationsverbot). Anders als andere Rechtsordnungen (Frankreich, USA) versteht die deutsche Rechtstradition N. nicht als Gebot aseptischer und strikter Trennung religiös-weltanschaulicher Bezüge. Wo genau die Grenze zwischen (noch) zulässigen religiös-weltanschaulichen Bezügen im staatlichen Raum und unstatthafter Identifikation verläuft, ist seit Jahrzehnten Gegenstand lebhafter Debatten in Öffentlichkeit, Rechtsprechung und Schrifttum. Die Spanne der Einzelprobleme reicht von der Zulässigkeit religiöser Symbole in Gerichts- (BVerfGE 35,366), Schul- (BVerfGE 93,1; EGMR, in: NJW 2011, 3775) und Behördenräumen bis hin zur Statthaftigkeit religiöser Kleidung von Amtsträgern wie Lehrern (einerseits BVerfGE 108,282; andererseits BVerfGE 138,296) und Gerichtspersonen (dazu BVerfG, in: NJW 2017, 2333).

c) Umkehrt trifft den Staat kein Indifferenzgebot hinsichtlich der unter seinen Bürgern manifesten religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Er ist „Heimstatt aller Staatsbürger“ – auch der religiös oder weltanschaulich gebundenen. Nicht zuletzt darf (und muss) der Staat zur Kenntnis nehmen, dass es vielfach die so geprägten Wertüberzeugungen sind, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung der Aufgaben des Staates selbst abhängt (so BVerfGE 93,1 [22]).

d) Schließlich unterliegt der Staat keinem Betätigungsverbot, er darf sich also (im Rahmen seiner Aufgaben und Kompetenzen) in den Bereichen betätigen, die Bezugspunkte zu Religion, Kirche und Weltanschauung aufweisen. Dementsprechend darf er die religiösen und weltanschaulichen Aktivitäten seiner Bürger fördern (positive Religionspflege) und diese – unter der Prämisse der Freiwilligkeit – auch im staatlichen Raum zulassen (positive Kooperation).

Demnach wird der Grundsatz der N. nach dem GG sowohl durch Aspekte der Distanz wie der Integration charakterisiert. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat diesen Befund in der Unterscheidung zwischen „distanzierende[r]“ (Böckenförde 1975: 130) und „übergreifende[r]“ (Böckenförde 1975: 131) N. begrifflich fixiert: die erste betrifft den genuin staatlichen Hoheitsbereich (wie Gerichte), die zweite die Begegnungsorte gesellschaftlicher Überzeugungen (wie die Schule).