Neoliberalismus

1. Ursprung und historische Bedeutung

Beim N. handelt es sich um einen ambivalenten und umstrittenen Begriff. Historisch bezeichnet N. eine Strömung des Liberalismus, die in den 1930er Jahren versuchte, den laissez faire-Liberalismus des 18./19. Jh. sowohl theoretisch als auch praktisch zu erweitern und dessen wettbewerbstheoretischen sowie emanzipatorischen und sozialpolitischen Perspektiven neu zu justieren. Ausgangspunkt für die inhaltliche Ausrichtung wie auch die Namensgebung war hierbei das Colloque Walter Lippmann, im Zuge dessen sich 1938 über 20 führende Wissenschaftler der liberalen Tradition in Paris trafen, um ein neues Programm für den Liberalismus zu entwerfen. Die totalitäre (Totalitarismus) und anti-demokratische Entwicklung vieler Staaten in den 1930er Jahren war hierbei der besorgniserregende Hintergrund des Colloquiums. Aber auch fehlende liberale Antworten auf die Konzentration von ökonomischer Macht, die Große Depression und die Massenarbeitslosigkeit, die Diskussion über die Rolle des Staates zum Überkommen dieser Probleme sowie Fragen nach der notwendigen kulturellen Unterfütterung einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung standen im Mittelpunkt der Gespräche. Konkret wurde das Buch „The Good Society“ (1937) des amerikanischen Journalisten Walter Lippmann besprochen, das vor dem Hintergrund kollektivistischer Ideen (Kollektivismus) eine Neubelebung des Liberalismus anstrebte. Im Zuge der Diskussionen schlug wohl Alexander Rüstow den Begriff N. für diese Neuausrichtung des Liberalismus vor. Der unmittelbare Einfluss des N. blieb während der Kriegsjahre freilich gering, war im Deutschland der Nachkriegszeit aber v. a. in der theoretischen Unterfütterung der Sozialen Marktwirtschaft sehr präsent.

2. Bedeutungswandel und gegenwärtige Begriffsverwendung

Seit einigen Jahrzehnten hat sich die Bedeutung des N. – v. a. in der medialen Berichterstattung und in der Alltagssprache – grundlegend geändert. In der heutigen Verwendung bezeichnet N. eine wirtschaftspolitische Konzeption, die staatlichem Handeln nur eine sehr geringe Rolle zuerkennt. Milton Friedman, Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises gelten hier als wesentliche akademische Vordenker. Auf der Ebene der politischen Implementierung ist der Begriff v. a. mit Margaret Thatcher, Ronald Reagan und Augusto Pinochet verbunden, aber auch Gerhard Schröders Beschäftigungspolitik, die post-maoistischen Reformen unter Deng Xiapoing im China der 1980er-Jahre so wie Donald Trumps gegenwärtige Wirtschaftspolitik fallen angeblich in den Bereich des N. Sogar internationale Handelsabkommen, die WTO und die EU als Ganzes wurden als neoliberal bezeichnet. Interessant ist hierbei, dass es keine Denkschule oder politische Institution gibt, deren Vertreter sich heute selbst als Neoliberale bezeichnen würden, d. h. die Bezeichnung ist stets eine Fremdzuschreibung. Auffällig ist ebenso, dass bei der Verwendung des Begriffs üblicherweise negative Konnotationen mitschwingen und die Idee des N. von jenen, die den Begriff verwenden, nicht sonderlich geschätzt wird. Neben wirtschaftspolitischen Positionen des N., die zumeist als marktradikal charakterisiert werden, werden oft auch angebliche weitere Eigenschaften neoliberaler Politiksysteme angeführt, welche die auschließliche Eigennutzorientierung wirtschaftlicher Akteure und die Gleichgültigkeit gegenüber Bedürftigen befördern. Häufig sind diese Zuschreibungen auch mit verschwörungstheoretisch anmutenden Ideen (Verschwörungstheorien) verbunden, wonach neoliberale Ideen von einer kleinen, vermögenden und gut vernetzten Elite, die über Organisationen wie die Mont Pelerin Society verbunden seien, gegen den Willen der Bevölkerung umgesetzt werden.

Die Gründe für diesen Bedeutungswandel vom „alten“ zum „neuen“ N. sind, obwohl reiflich diskutiert, nach wie vor unklar. Laut Taylor C. Boas und Jordan Gans-Morse vollzog sich die Umdeutung des Konzeptes im Zuge der wirtschaftspolitischen Reformen von A. Pinochet, die von den „Chicago Boys“ – marktliberale Ökonomen, die ihre Ausbildung an der University of Chicago absolviert hatten – umgesetzt wurden. Daraufhin wandelte sich das Verständnis und das urspr.e Wohlwollen gegenüber dem N. in Lateinamerika und in der Folge auch weltweit. Andreas Renner hingegen verortet den Bedeutungswandel beim britischen Soziologen Anthony Giddens, der den Begriff heranzog, um auf die weitreichenden Änderungen – das buchstäblich Neue – der Thatcher-Regierung hinzuweisen. Ähnlich argumentiert Ralf Dahrendorf, der das Präfix „Neo“ schlichtweg wegen des Ausmaßes der vorgeschlagenen Reformen und des „Marktradikalismus“ des N. für gerechtfertigt ansieht.

3. Klare Begrifflichkeiten – Neoliberalismus und Ordnungspolitik

V. a. aus der Sicht der deutschen Ordnungspolitik ist die heutige Verwendung des Begriffs problematisch: Die häufige Darstellung des N. als Politikkonzept, welches marktliche Regelungen auf Kosten von sozialen und ökologischen Faktoren durchsetzen will, steht der urspr.en Konzeption des N. durch ordoliberale Ökonomen wie A. Rüstow, Walter Eucken und Wilhelm Röpke diametral entgegen. Darüber hinaus werden mit dem N. heute v. a. Ökonomen in Verbindung gebracht, die von den urspr.en Neoliberalen in bewusster Abgrenzung als „Paläo-“ bzw. „Alt-Liberale“ bezeichnet wurden, die dem neoliberalen Projekt der Ordoliberalen auch eher kritisch gegenüberstanden und die sich darüber hinaus nie selbst als Neoliberale bezeichneten. Der inflationäre und unpräzise Gebrauch von N. beraubt das Konzept seiner urspr.en Bedeutung und stiftet im gegenwärtigen akademischen und politischen Diskurs ein nicht geringes Maß an Verwirrung.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass wissenschaftliche und öffentliche Diskussionen über den N. wieder stärkeren Bezug zu den Wurzeln des Konzeptes und der älteren Bedeutung des Begriffs nehmen sollten. Das Ziel des urspr.en N. – der Versuch, in Erweiterung des klassischen Liberalismus danach zu fragen, welche marktlichen, aber auch außer-marktlichen Institutionen für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben notwendig sind – ist auch im 21. Jh. ein aktuelles Anliegen.