Naturrecht

  1. I. Der Grundgedanke
  2. II. Philosophisch-theologisch
  3. III. Rechtswissenschaftlich

I. Der Grundgedanke

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Das N. erhebt Einspruch gegen die Arroganz politischer Macht, die beliebige Vorschriften in den Rang geltenden Rechts erheben will. Dagegen vertritt es die Idee einer aller menschlichen Autorität enthobenen Verbindlichkeit, deren Anerkennung jedes Gemeinwesen seinen Bürgern schulde, während krasse Missachtung Widerstand erlaube. Die Gesamtheit der vor- und überpositiv gültigen Rechtsverbindlichkeiten nennen die Griechen das „von Natur aus Rechte bzw. Gerechte“ (physei/physikon dikaion), das sie scharf gegen das gesatzte, positive Recht absetzen: nomō dikaion. In der Sache gehört zum N. auch die Berufung auf die „ungeschriebenen Gottesgebote, die wandellosen, die nicht von heute oder gestern stammen“ (Sophokles 2000: 22). Ähnliche Verbindlichkeiten finden sich in vielen anderen Kulturen: Im sumerischen Gilgamesch-Epos wird der König aufgefordert, seine Macht nicht zu missbrauchen. Das indische Nationalepos Mahabharata verlangt vom Herrscher, sein Volk mit allen Mitteln zu schützen. Nach dem zweitwichtigsten Klassiker des Konfuzianismus, Mengzi (Menzius), besitzt jeder Mensch eine ihm vom Himmel verliehene angeborene Würde.

Das Lateinische spricht von „N.“ (ius naturae), auch von „Naturgesetz“ (lex naturae), wobei Thomas von Aquin in der „Summa Theologiae“ ausdrücklich die lex naturalis vom göttlichen Gesetz, der lex divina sowie der lex aeterna, unterscheidet. Unter dem Einfluss des Christentums ist von „göttlichem Recht“ (ius divinum) und „ewigem Gesetz“ (lex aeterna), seit der europäischen Aufklärung von „Vernunftrecht“ die Rede.

Ob das N. sich letztlich auf eine eventuell gottgestiftete Weltordnung („kosmologisches N.“), auf das Wesen des Menschen („anthropologisches N.“) oder aber auf die (praktische) Vernunft beruft („rationales N.“ oder „Vernunftrecht“) und ob die Gegenseite, das positive Recht, sich aus Rechtsgewohnheiten und Präjudizien oder eher aus Gesetzbüchern speist, ist eine nachgeordnete Frage. Unbeschadet dieser Unterschiede lebt das europäische, aber auch außereuropäisches Rechts- und Staatsdenken aus der Idee eines überpositiven Rechts.

1. Einwände und deren Kritik

Vielen Einwänden gegen das N. liegt ein Missverständnis zugrunde. Nach einem ersten Einwand sei das Programm des N.s unklar, da sein erstes Begriffselement mehrdeutig sei. Für sich genommen ist der Begriff „Natur“ tatsächlich mehrdeutig, wird durch den Zusammenhang jedoch ziemlich klar: Der Ausdruck „Natur“ steht nicht im Gegensatz zu „Geschichte“ oder „Kultur“, sondern zu dem, was die Menschen untereinander vereinbaren. Als Gegenbegriff zum positiven Recht bezeichnet das N. eine vor- und überpositive, näherhin rechtsmoralische Instanz. Nach dem zweiten Einwand fehlen dem N. die drei für das zweite Begriffselement, das Recht, unverzichtbaren Begriffselemente: Als moralische Forderung habe es keinen (positiven) Zwangscharakter. Da es nur aus Rechtsgrundsätzen bestehe, lege es bestenfalls in Sonderfällen genaue Verbindlichkeiten fest. Schließlich sei das N., weil es ihm an Zwangscharakter mangele, ein Recht ohne Waffen. Die drei angeblichen Defizite unterstellen jedoch dem N., ein positives Recht zu sein, obwohl es sich entschieden als eine nichtpositive Instanz versteht. Nach dem dritten Einwand, dem des ethischen Relativismus, müssten N.s-Prinzipien bei allen Völkern und zu allen Zeiten gleich sein, in Wahrheit fände man aber unterschiedliche, sogar widersprüchliche Rechtsgrundsätze. Gegen diesen Einwand spricht sowohl die soziale Wirklichkeit – der reiche Strauß interkultureller Gemeinsamkeiten, im Westen die Elemente eines demokratischen Verfassungsstaates –, als auch ein methodisches Problem, der Sein-Sollen-Fehler: Selbst dort, wo sich die Grundsätze unterscheiden, erlaubt dieser Sachverhalt, ein „Sein“, nicht auf die Berechtigung, auf ein „Sollen“, zu schließen.

2. Ein Blick in die Geschichte

Im Laufe ihrer Geschichte verändert sich der Sinn des N.s in Abhängigkeit vom Begriff der Natur, von der verwendeten Methode und von der Radikalität der Fragestellung. Der philosophische Gedanke eines N.s geht zwar nicht auf Aristoteles, sondern auf die Sophisten zurück, und die Vorgeschichte reicht mindestens bis ins zweite Jahrtausend v. Chr., aber erst Aristoteles’ knappe Überlegung aus der Gerechtigkeitsabhandlung der „Nikomachischen Ethik“ entfaltet eine nachhaltige Wirkung. Weil sie ohne jede Religion und ohne jede Metaphysik auskommt, hat sie einen modernen, säkularen Charakter: Nach Aristoteles zeichnet sich das N. durch Universalität und Nichtbeliebigkeit aus. Es ist eine ungeschriebene, den Gesetzen und Rechtsgewohnheiten einer Polis übergeordnete, den verschiedenen Gemeinwesen gemeinsame Instanz. Erstaunlicherweise gilt es als veränderlich, was aber nicht bei den Göttern, nur „bei uns“ zutreffe, wobei Aristoteles nicht an eine Aufweichung der universalen Gültigkeit, sondern an illegitime Abweichungen zu denken scheint. Ein N.s-Charakter hat auch die berühmte These, der Mensch sei von Natur aus ein politisches Lebewesen (physei politikon zōon), ferner die Behauptung, unter den Verfassungen sei eine einzige, die Selbstregierung von freien und gleichen Bürgern, die von Natur aus beste. Nach Aristoteles’ Werk „Politik“ darf diese Selbstregierung nicht willkürlich sein, hat sich vielmehr an Gesetze, also allg.e Regeln, und an eine gewisse Gewaltenteilung zu binden. Der Inhalt der Gesetze bleibt aber offen. Der Gedanke von unveräußerlichen Menschen- und Grundrechten, die den Menschen als Menschen zum Subjekt und Maß der politischen Ordnung erklären, ist Aristoteles fremd.

Die einflussreichste philosophische Schule der Spätantike, die Stoa, entwickelt das Aristotelische N.s-Denken zu einem kosmologischen N. fort: Im Rahmen einer hierarchisch gestuften göttlichen Weltordnung (kosmos) mit ihrem ewigen Gesetz bildet das ungeschriebene, aber angeborene natürliche Gesetz Grund und Maß für die menschlichen Gesetze. Im Christentum wird das N. zu einem Teil der Ethik und Moraltheologie. Nach Augustinus’ Formel „ius naturale est quod in lege et evangelio continetur“ (zit. n. Specht 1984: 571) ist für die Einsicht in Recht und Unrecht die Offenbarung der Bibel konstitutiv, was in zwei Richtungen gelesen werden kann. Entweder gilt die Offenbarung als Begründung und Vollendung des „heidnischen“ N.s, wobei die christliche Tugend der Liebe das N.s-Prinzip der Gerechtigkeit überbiete. Oder die Schöpfungsordnung tritt an die Stelle der natürlichen Ordnung, wodurch die natürliche Vernunft entwertet und die Kirche zur letzten Entscheidungsinstanz für das N. erhoben wird. Thomas hingegen lässt der natürlichen Vernunft ihr Eigenrecht, denn gemäß der Formel „gratia supponit naturam et perficit eam“ (STh I, 1,8 ad 2) setzt das spezifisch Christliche, die Gnade, die Natur voraus und vollendet sie. Im Spätmittelalter wird durch das voluntaristische N. von Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham dem Vernunftrecht der Neuzeit vorgearbeitet: Die epochale Bedeutung liegt in einer veränderten Begründung. Der zentrale Begriff heißt nicht länger „Wesen“, sondern „Wille“, freilich nicht menschlicher, sondern göttlicher Wille. Die spätscholastische, von Francisco de Vitoria begründete Schule von Salamanca entfaltet aus Thomas’ N. dessen kritisches Potential. Sie kritisiert den fürstlichen Absolutismus, die politischen Universalansprüche des Papstes und die Kolonialpolitik (Kolonialismus) Spaniens und klärt den Begriff des Völkerrechts: Es gilt als ein positives menschliches Recht in Form von Gewohnheitsrecht.

Das neuzeitliche N. macht sich endgültig von aller religiösen Begründung frei. Das in der Epoche der Aufklärung mit ihren Leitprinzipien von Vernunft (Vernunft – Verstand) und Freiheit zum Durchbruch kommende, rein säkulare N. gehört systematisch nicht mehr zur Ethik und Moraltheologie, sondern zur Rechts- und Staatsphilosophie und wird nicht länger von Theologen, sondern im Schnittfeld von Philosophie und Jurisprudenz erarbeitet: entweder von Juristen, die sich wie Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius der Rechtsphilosophie öffnen, oder von Philosophen, die wie Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sich intensiv mit Recht und Staat befassen. Ihr N. inspiriert die Amerikanische und die Französische Revolution und trägt zum modernen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat mit seiner religiösen Neutralität, mit seiner Trennung von persönlicher Moral und politischer Gerechtigkeit, mit Volkssouveränität, Gewaltenteilung und den zu Grundrechten positivierten Menschenrechten bei. Nicht zuletzt prägt es europäische Gesetzgebungswerke wie das PrALR (1794), den französischen Code Civil (1804) und das österreichische ABGB (1811).

Zu Beginn des neuzeitlichen N.s ist es T. Hobbes, der zum ersten Mal auf fast alle Elemente einer vom menschlichen Willen unabhängigen Natur- oder Schöpfungsordnung verzichtet und eines der seither wichtigsten Muster der Rechts- und Staatsbegründung, die Vertragstheorie, ausarbeitet. Dabei besteht das natürliche Recht (jus naturale), eine Erlaubnis, in der Freiheit seine eigene Macht nach seinem Willen zur Selbsterhaltung einzusetzen, während das Gesetz der Natur (lex naturalis), eine Vernunftvorschrift, gegen die Selbsterhaltung zu agieren verbietet. Den Kern von T. Hobbes’ N. bildet ein Gedankenexperiment, der Naturzustand. Weil in ihm jeder ein Recht auf alles hat, liegt ein Kriegszustand vor, der aufgrund von drei friedensförderlichen Leidenschaften, „die Furcht vor dem Tode, das Verlangen nach Dingen, die für ein angenehmes Leben notwendig sind, und die Hoffnung, sie durch ihren Fleiß zu erlangen“ (Hobbes 2013: 263), und einer ihnen dienenden, insofern instrumentalen Vernunft überwunden wird. Das „erste und grundlegende Gesetz der Natur“ (Hobbes 2013: 265) fordert in seinem ersten Teil: Suche Frieden und halte ihn ein. Nach dem zweiten Teil, der „Essenz des Naturrechts“ (Hobbes 2013: 265), sind die Menschen befugt, sich „mit allen nur möglichen Mitteln zu verteidigen“ (Hobbes 2013: 265). Daraus leitet T. Hobbes das zweite Gesetz der Natur ab, das I. Kants Prinzip der wechselseitigen Freiheit vorausgreift: Jeder soll freiwillig, vorausgesetzt andere sind ebenfalls dazu bereit, auf sein Recht auf alles verzichten und sich gegenüber anderen mit dem Maß an Freiheit zufriedengeben, das er anderen gegen sich einräumen würde. Von den weiteren Naturgesetzen sind das Gebot wichtig, abgeschlossene Verträge einzuhalten, ferner: all seine Rechte einem Stellvertreter, einer einzelnen Person oder einer Gruppe von Personen, zu übertragen, die über eine absolute und ungeteilte Staatssouveränität (Souveränität) verfügt. Wegen dieses Staatsabsolutismus werden etwa B. de Spinoza und J. Locke alternative N.s-Theorien entwickeln.

Bei dem für T. Hobbes, auch B. de Spinoza zentralen Begriff der Selbsterhaltung ist das erste Begriffselement mehrdeutig. Nach einem sensualistisch-hedonistischen, naturalen Selbst hängt der Mensch letztlich an nichts anderem als dem biologischen Leben, dem zu einem angenehmen Leben gesteigerten Überleben. Beim alternativen moralischen Selbst ist etwa die religiöse, politische oder sprachliche Selbstbestimmung wichtiger, wofür die damaligen Bürgerkriege Beispiele zuhauf bieten. Nur bei einer relativ transzendentalen Interpretation: dass das biologische Leben die Bedingung der Möglichkeit ist, überhaupt Antriebskräfte zu haben und deren Ziele zu folgen, erweist sich T. Hobbes’ Überlegung als triftig: Solange die Menschen sich wegen des gemeinsamen Lebensraumes wechselseitig beeinflussen und solange sie dabei mangels staatlicher Ordnung nur nach eigenem Gut- und Rechtdünken handeln, sind sie vor gewalttätigen Konflikten untereinander nicht sicher. Nicht erst Hab und Gut, sondern weit elementarer: Leib und Leben, überhaupt kein Freiraum persönlicher Existenz sind letztlich geschützt.

Der Ausdruck „transzendental“ weist freilich über T. Hobbes hinaus zum philosophischen Höhepunkt des N.s als Vernunft- und Freiheitsrecht, zu I. Kant. Auf der Grundlage einer Kritik der theoretischen und der praktischen Vernunft sieht er, dass ein N. im strengen Sinn nur ein Apriori sein kann, das zwar auf die Mannigfaltigkeit der Erfahrung anzuwenden ist, in seiner unterschiedlichen Verbindlichkeit aber von allen empirischen Bedingungen, auch anthropologischen Grundtatsachen, unabhängig ist. Während bei T. Hobbes außer den streng säkularen Argumenten noch religiöse und theologische Überlegungen eine Rolle spielen, verlieren sie bei I. Kant hingegen wie schon bei Aristoteles alles Recht. Lediglich aus Vernunft begründet ist I. Kants Gegenstück zur positiven Rechts- und empirischen Staatswissenschaft, das N., wie bei T. Hobbes ein Vernunftrecht, im Unterscheid zu ihm aber vollständig religions- und theologiefrei.

Inhaltlich und methodisch geht I. Kant allerdings über Aristoteles weit hinaus. Sein allg.er Begriff des Rechts gehört in methodischer Hinsicht zur reinen rechtlich-praktischen Vernunft und ist ihretwegen streng vorempirisch, folglich unwandelbar gültig: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Kant 1907: 230). Nicht minder vorempirisch gültig sind das allg.e Prinzip des Rechts und die für das Recht wesentliche Zwangsbefugnis. In I. Kants N. schließen sich Überlegungen zu einem „[inneren] Mein und Dein“ (Kant 1907: 237), einem angeborenen Recht an, das sich als Kriterium für Menschenrechte verstehen lässt: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines andern nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ (Kant 1907: 237). Auf dieses angeborene Recht lässt I. Kant in einem weiteren Argumentationsschritt das „[äußere] Mein und Dein“ (Kant 1907: 137), das auf dem Eigentumsrecht (Eigentum) aufbauende Privatrecht, folgen. Weil die privatrechtlichen Verbindlichkeiten aber für sich nur provisorisch gültig sind, braucht es schließlich, um einer peremtorischen Gültigkeit willen, das öffentliche Recht, das I. Kant in den drei systematisch entscheidenden Dimensionen, dem Staatsrecht, dem Völkerrecht und dem Weltbürgerrecht, entfaltet.

Im Unterschied zu den zwei exemplarischen Vorläufern, Aristoteles und T. Hobbes, finden sich bei I. Kant ausführlich begründete und detailliert erläuterte Institutionen. Zusammen bilden sie ein höchst gehaltreiches N., das jeden Absolutismus ausschließt. Zusätzlich verliert der Gedanke sowohl kriegs- als auch friedensförderlicher Leidenschaften alle Bedeutung. Stattdessen wird die Vernunft enorm aufgewertet. Das von einer bloß instrumentalen Vernunft emanzipierte N. gehört ausschließlich zum Bereich der Freiheit. Statt von N. spricht man daher besser von Freiheitsrecht, zumal es mit der „natürlichen Natur“, dem Inbegriff alles Seienden, nichts zu tun hat, folglich klarerweise dem Vorwurf des Sein-Sollens-Fehlers entgeht. Als strenges Vernunftrecht besteht es in der Gesamtheit aller vorempirischen, zugl. moralischen Prinzipien des Rechts. I. Kants N. entspricht dem moralischen Standpunkt gegenüber Recht und Staat, ist daher mit der Sache der politischen Gerechtigkeit nicht etwa nur verwandt, sondern fällt mit ihr zusammen. I. Kant gelingt es, das N. sowohl methodisch als auch inhaltlich so überzeugend gehaltvoll auszubuchstabieren, dass seine Grundeinsichten sich in den konstitutionellen Demokratien Europas und Nordamerikas im Wesentlichen wiederfinden.

Im ersten Drittel des 19. Jh. bricht die Tradition des N. weitgehend ab. Erst mehr als hundert Jahre später verleiht die Erfahrung mit offensichtlichen Unrechtsstaaten dem N. neues Gewicht, sichtbar in der Atlantik-Charta von 1941, in der AEMR der UNO von 1948 und Urteilen des deutschen BGH und BVerfG, auf philosophischer Seite sogar im marxistischen Denken (Marxismus) von Ernst Bloch und in der analytischen Rechtsphilosophie von Herbert Lionel Adolphus Hart. Der sich bald einstellenden „ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus“ (Lang-Hinrichsen 1954: 1) tritt die neuere Vertragstheorie entgegen, die insb. bei John Rawls vom neuzeitlichen N.s-Denken, insb. I. Kant, beeinflusst ist. Weil trotzdem das N. als weithin obsolet gilt, spricht man neuerdings lieber von „Theorie[n] der Gerechtigkeit“ (Höffe 2013).

3. Kritisches Naturrecht

Trotz ihrer Gegenüberstellung schließen sich N. und positives Recht nicht wechselseitig aus. Weder will das N. ein bis in alle Feinheiten festgelegtes Gesetzeswerk sein, das im Unterschied zum positiven Recht zwar nur in die Herzen der Menschen eingeschrieben ist, von dem aber alle Rechtsgewohnheiten und Rechtstexte, die gerecht sein wollen, eine getreue Kopie bilden müssen. Noch beansprucht das N. über die zum positiven Recht gehörende Durchsetzungskraft zu verfügen. Es macht jedoch auf eine zweite Dimension im Rechtsphänomen aufmerksam: auf die Gültigkeit im Unterschied zur Geltung bzw. auf die Legitimität im Unterschied zur Legalität. Beide Dimensionen gehören wesentlich zusammen: Eine Theorie des Rechts ohne den Gedanken der Positivierung wäre Schwärmerei, eine Rechtstheorie ohne Anerkennung des N.s Zynismus.

Die Antithese zum N. liegt nicht in der positiven, sondern in der „lediglich positiven“, zur Willkür neigenden Rechtssetzung. Das N. widersetzt sich lediglich einem strengen Rechtspositivismus, der glaubt, beliebige Vorschriften dürften den Rang geltenden Rechtes erhalten. Vielmehr wohnt gemäß dem N.s-Denken dem Recht jener immanente Anspruch auf Unbeliebigkeit und moralische Gültigkeit inne, der v. a. bei elementarer Unterdrückung lebenspraktische Bedeutung erhält und sich in bestimmten vor- und überpositiven Rechten jedes Menschen, in zu positivierenden Menschenrechten, spezifiziert. Hier erweitert sich ein rein formales N., das Moment der Unverfügbarkeit, zu einem materialen N., das auch inhaltliche Prinzipien enthält. Weil das N. mit Mitteln der „natürlichen Vernunft“ argumentiert, ist es von seiner Erkenntnisquelle her ein Vernunftrecht. Selbst im christlichen N.s-Denken haben die Offenbarung und der ihr zugeordnete Glaube i. d. R. bloß subsidiäre Bedeutung.

Thematisch kann man im N.s-Denken verschiedene Stufen und Aspekte unterscheiden. Ein N. erster Stufe antwortet auf die Frage, welche Rechtsgrundsätze und Staatsprinzipien legitim sind, einschließlich der Frage, welche Lebensbereiche von der Rechts- und Staatsordnung geregelt werden dürfen. Da diese Ordnung Zwangscharakter hat, untersucht ein N. zweiter Stufe, ob es überhaupt legitim ist, dass zwischen den Menschen eine solche Ordnung herrscht. Allerdings gehören beide Stufen des N.s zusammen; ein gründliches N.s-Denken verbindet die Legitimation mit der Limitation von Recht und Staat.

Außer dieser konstruktiven und fundamentalphilosophischen Aufgabe einer Legitimation und Limitation von Recht und Staat verwirft ein sachgerechtes N.s-Denken all jene Rechts- und Staatstheorien, die die positiven Entscheidungsverfahren verabsolutieren, was außer beim strengen Rechtspositivismus auch beim politischen Dezisionismus der Fall ist, da er die politischen Entscheidungen rein voluntativ versteht, ferner bei einem „[d]emokratische[n] Positivismus“ (Niesen/Eberl 2009: 3), der aus systemtheoretischen (funktionalistischen; Systemtheorie) oder liberalen Gründen behauptet, demokratische Verfahren allein könnten die erforderliche Legitimität erbringen. Die Diskurstheorien nähern sich dieser Position insofern an, als sie der „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969) und eine „Legitimation durch den (herrschaftsfreien) Diskurs“ (nach Jürgen Habermas) entgegensetzen, dabei die Notwendigkeit von positiven, am Ende auch zwangsfähigen Rechts- und Politikverfahren unterschätzen.

II. Philosophisch-theologisch

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Das N. ist kein ausschließlich philosophisches Thema, sondern spielt auch in der christlichen Theologie eine wichtige Rolle. Dabei hat sich im Laufe der Zeit eine große Vielfalt von Positionen entwickelt, die sich sowohl in ihrem jeweiligen Naturverständnis als auch im Umfang des naturrechtlichen Ge- und Verbotsbestandes sowie in ihren jeweiligen ontologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen erheblich voneinander unterscheiden. Neben den für die philosophische N.s-Lehre zentralen Motiven der Absicherung eines universalen ethischen Minimums und der Begrenzung politischer Macht- und Herrschaftsausübung (Macht, Herrschaft) spielen im theologischen N.s-Denken noch weitere Vorstellungen – wie z. B. die Idee einer göttlichen Gesetzgebung und Vorsehung sowie einer maßstäblichen Schöpfungsordnung – eine wichtige Rolle. Aufgrund der Variationsbreite der im Laufe der Theologiegeschichte erarbeiteten Theoriemodelle ist es erforderlich, das urspr.e Grundanliegen eines christlichen N.s von späteren epigonalen Verflachungen dieser Denkform abzugrenzen und die in systematischer Hinsicht entscheidenden Annahmen von ihren jeweiligen – nicht zuletzt konfessionell geprägten – begrifflichen Einkleidungen zu unterscheiden.

1. Historischer Rückblick auf die thomanische Konzeption

Obwohl sich deutliche Spuren naturrechtlichen Denkens bereits im NT (vgl. Röm 2,14) und bei einigen Kirchenvätern (Ambrosius, Augustinus) finden, kommt es erst im Zuge der mittelalterlichen Theologie zu einer ausdifferenzierten christlichen N.s-Lehre. Als ihr wirkungsgeschichtlich wichtigster Bezugspunkt gilt der sog.e Gesetzestraktat der „Summa Theologiae“ (STh I–II, 90–108), in dem Thomas von Aquin unter dem Einfluss der aristotelischen Wissenschaftstheorie nicht nur konsequent den Vernunftcharakter des Gesetzesbegriffs (Gesetz) verteidigt, sondern auch die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesetzesarten (lex aeterna, lex naturalis, lex divina und lex humana) eingehend analysiert.

Moraltheologisch bes. wichtig sind die thomanischen Ausführungen zur Verhältnisbestimmung von ewigem und natürlichem Gesetz sowie zum materialen Gehalt der lex naturalis. Entgegen einer in der Neuscholastik (Scholastik) verbreiteten Deutung darf die Aussage, das natürliche Gesetz sei eine „Teilhabe“ (participatio) am ewigen Gesetz (STh I-II, 91,2) nicht als ein Ableitungsverhältnis missverstanden werden. Als Ergebnis einer nachträglichen theologisch-spekulativen Interpretation praktischer Erfahrungen gehört die gesamte Lehre von der lex aeterna zu einer Metaphysik des Handelns, die keinen unmittelbar praktisch-handlungsleitenden Sinn hat, sondern das Ziel verfolgt, die traditionelle Annahme einer göttlichen Vorsehung und Weltregierung mit der Erfahrung der praktischen Selbstaufgegebenheit des Menschen unter Wahrung der jeweils eigenständigen Funktion von göttlicher und menschlicher Vernunft (Vernunft – Verstand) zusammenzudenken. Da der Verpflichtungsgrund moralischer Forderungen für Thomas in nichts anderem als in ihrer Begründetheit vor dem Forum der praktischen Vernunft des Menschen besteht, ist der Rückgriff auf den Gottesbegriff bzw. die davon abhängige Vorstellung einer umfassenden göttlichen Weisheit für die Beantwortung der epistemologischen Frage nach der Einsicht in die normative Geltung einer sittlichen Weisung letztlich entbehrlich. Thomas zufolge verfügt die ratio practica mit der Kategorie des „Guten“ über einen unableitbaren Erstbegriff, der ihrem obersten Prinzip „bonum est faciendum […] et malum vitandum“ (STh I-II, 94,2) zugrunde liegt und die Eigenständigkeit der Ethik als distinkter Einzelwissenschaft sichert. Interpretiert man die wenigen kurzen Ausführungen in STh I-II, 94,2 vor dem Hintergrund der thomanischen Lehre vom „natürlichen Wollen“ des Menschen, die das einende Band zwischen seiner Glücks-, Handlungs- und N.s-Lehre bildet, dann zeigt sich, dass Thomas unter dem bonum, das als Erstbegriff der praktischen Vernunft von allen Menschen spontan erkannt und gewollt wird, das sog.e einfachhin Gute (bonum simpliciter) des Menschen versteht. Dieser Begriff verfügt mit der Vorstellung einer umfassenden, durch vernünftiges Handeln zu erwirkenden Vervollkommnung des Menschen über einen komplexen, allerdings nur allg. bestimmten Sinngehalt, der mit der ratio communis des Glücksbegriffs (Glück) zusammenfällt. Trotz seiner Konkretionsbedürftigkeit handelt es sich beim Begriff des Guten um eine durchaus gehaltvolle Kategorie, die deutlich macht, dass die lex naturalis eine inhaltlich gefüllte Größe darstellt. Neben dem Thomas zufolge intuitiv zugänglichen obersten Prinzip umfasst das in sich mehrstufige N. noch eine Reihe konkreterer Ge- und Verbote, die durch unterschiedliche Vernunftoperationen (deductio, determinatio) erkannt werden und sich auf den Schutz jener partikularen Güter beziehen, auf die die basalen menschlichen Strebungen ausgerichtet sind. Zur Klassifizierung dieser sog.en inclinationes naturales bedient sich Thomas des dreigliederigen Stufenmodells der antiken Naturphilosophie, das den Menschen einmal als bloßes Substanzwesen, dann als belebtes Sinnenwesen und schließlich als spezifisches Vernunftwesen begreift. Eine angemessene Interpretation des Verhältnisses von ratio practica und inclinationes naturales muss die beiden komplementären Extreme eines Rationalismus auf der einen und eines Naturalismus auf der anderen Seite vermeiden. Weder ist es zulässig, die natürlichen Neigungen in rationalistischer Manier zur amorphen, unbegrenzt formbaren Materie herabzuwürdigen, noch vermag der naturalistische Versuch zu überzeugen, die praktische Vernunft zum bloßen Ableseorgan bzw. zur nachträglichen Ratifikationsinstanz naturaler Vorgaben zu degradieren. Das Spezifikum der thomanischen N.s-Lehre besteht vielmehr gerade darin, dass sie die Vernunftnatur und die körperlich-leibliche Dimension des Menschseins nicht gegeneinander ausspielt, sondern in ihrer wechselseitigen Verschränkung zusammendenkt. Diese integrative Sichtweise führt zur Vorstellung der „Natur“ als eines im praktischen Selbstvollzug des Menschen immer schon vorausgesetzten, allg. umschriebenen Horizontes ganzheitlicher menschlicher Vollendung, der den Spielraum der einzelnen Handlungsentscheidungen begrenzt, ohne die konkrete Praxis damit vollständig zu determinieren. Aufgrund der Unbeliebigkeit und Gestaltungsoffenheit der inclinationes naturales obliegt es der praktischen Vernunft, diesen Horizont näher auszugestalten, indem sie die verschiedenen spontanen Handlungsimpulse zu einem bestimmten Handlungsentwurf konkretisiert, in einen komplexen Handlungszusammenhang (Handlungstheorie) integriert, zwischen konfligierenden Neigungszielen vermittelt, defizitäre oder pervertierte Tendenzen korrigiert und so auf dem Fundament der vielfältigen artspezifischen Dispositionen ein individuell stimmiges, situationsadäquates Handlungsgebäude errichtet. Die Rolle der praktischen Vernunft in einem solchen anthropologisch-praktischen Naturverständnis lässt sich am ehesten mit der Funktion einer Moderatorin oder Architektin vergleichen, die jeweils einerseits auf bestimmte Vorgaben und Voraussetzungen angewiesen ist, diesen gegenüber andererseits aber auch einen konstruktiven Gestaltungsauftrag wahrzunehmen hat.

2. Krise der naturrechtlichen Denkform

Obwohl sich die katholische Moraltheologie lange Zeit in den Grundkoordinaten eines thomanisch inspirierten N.s-Denkens bewegte, das unter dem Eindruck der zivilisatorischen Katastrophen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaustes (Shoa) auch außerhalb der Kirche in den 1950er und 1960er Jahren noch einmal eine späte Blüte erlebte, häufen sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. die Anzeichen dafür, dass das N. nicht nur allg. kulturell, sondern auch binnenkirchlich in eine unübersehbare Krise gelangt ist.

3. Systematisches Grundanliegen und Ausblick

Ein naturrechtlicher Denkansatz zeichnet sich in systematischer Hinsicht wenigstens durch die folgenden drei Merkmale aus: erstens durch seinen kognitiven Grundansatz, zweitens durch seinen spezifisch gerechtigkeitsethischen Gegenstandsbereich und drittens durch seine personal-antinaturalistische Stoßrichtung.

Der kognitive Charakter des N.s besteht darin, dass seine Forderungen grundlegenden Einsichten der natürlichen praktischen Vernunft des Menschen entsprechen. Naturrechtliche Begründungsmodelle stehen aber nicht nur im Gegensatz zum Nonkognitivismus, der die Wahrheits- und Begründungsfähigkeit moralischer Sätze generell bestreitet, sondern sie grenzen sich auch von solchen kognitiven Positionen ab, die einen rein formal-prozeduralen Ansatz vertreten. Zur Einlösung ihrer starken Geltungsansprüche ist die N.s-Lehre keineswegs auf ein bestimmtes traditionelles epistemologisches Modell (etwa einen starken Intuitionismus) festgelegt, sondern kann auch komplexere Begründungsansätze etwa kohärenztheoretischer Art in sich aufnehmen, die der geschichtlichen Bedingtheit der jeweils erreichten Einsicht in das abstrakte Ideal des N.s besser gerecht werden.

Der gerechtigkeitsethische Charakter des N.s resultiert daraus, dass seine verschiedenen Ge- und Verbote die basalen deontologischen Forderungen der Gerechtigkeit beinhalten, d. h. sie stellen genau jene elementaren Güter unter den Schutz des moralischen Gesetzes, die die unverzichtbaren Voraussetzungen eines vernünftigen menschlichen Selbstvollzuges darstellen. Diese sog.en Grundgüter stehen nicht einfach beziehungslos nebeneinander, sondern bilden ungeachtet ihrer möglichen Konflikthaftigkeit in Einzelfällen einander ergänzende Konstitutionsfaktoren einer dynamisch gedachten Vollendung, die an die Entwicklung und Aktuierung der charakteristischen artspezifischen Fähigkeiten des Menschen gebunden ist. Unter diesen Fähigkeiten nimmt die „Handlungsfähigkeit“ insofern eine Schlüsselstellung ein, als ihre Entwicklung und Entfaltung nicht irgendein beliebiges subjektives, kultur- und epochenabhängiges Strebensziel, sondern die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, individuelle Ziele überhaupt erreichen zu können.

Eng damit verbunden ist die antinaturalistische Stoßrichtung des N.s. Entgegen dem Verdacht, naturrechtliche Argumentationsformen seien zwangsläufig dazu verurteilt, sich in logische Sein-Sollens-Fehlschlüsse oder semantische Missverständnisse moralsprachlicher Prädikate zu verstricken, ist zu betonen, dass zumindest überall da, wo die Kategorie der Natur aus der Perspektive umfassender Vollendung oder Wesensverwirklichung einer Entität gedacht wird, von einer ausschließlich deskriptiven Verwendung des Naturbegriffs im Sinne eines reinen factum brutum keine Rede sein kann. Da sich ein normativ bzw. evaluativ aufgeladenes Naturverständnis aber sehr wohl zur Gewinnung deontischer Urteile eignet, dürfte sich David Humes Vermutung, der von ihm geforderte „kleine Akt der Aufmerksamkeit“ (Hume 1978: 211) werde „alle gewöhnlichen Moralsysteme umwerfen“ (Hume 1978: 211 f.) gerade im Blick auf den Hauptstrom abendländischer N.s-Theorien nicht bestätigen.

Da zentrale systematische Anliegen naturrechtlicher Konzeptionen sowohl in der zeitgenössischen Menschenrechtsdiskussion (Menschenrechte) als auch in den verschiedenen Varianten eines Befähigungsansatzes (Capability Approach) heute wieder aufgegriffen werden, dürfte davon auszugehen sein, dass sich die verbreiteten Abgesänge auf „das N.“ als verfrüht erweisen.

III. Rechtswissenschaftlich

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1. Begriff

N. ist der Oberbegriff für alle Lehren oder Begründungsansätze, die dem positiven (menschlichen/staatlichen) Recht entweder bestimmte Inhalte verbindlich vorgeben oder bestimmte Inhalte desselben kategorisch ausschließen; rechtstheoretisch ist das N. insofern Gegenpol zum Rechtspositivismus. Sofern die aus der „Natur“ abgeleiteten Mindestinhalte als moralische Normen gedacht oder verstanden werden, positioniert sich das N. gegen die insb. vom Letztgenannten propagierte Trennung von Recht und Moral. Anderes gilt, sofern die „natürlichen“ Sollenssätze als genuin rechtlich ausgewiesen werden (vgl. Max Webers Wendung vom „Recht des Rechtes“ [Weber 1980: 497]). Namentlich bei den Vertretern älterer Naturrechtslehren, denen die im Kern neuzeitliche Unterscheidung rechtlicher und moralischer Normen noch fremd sein musste, ist eine exakte Zuordnung diesbezüglich oft unmöglich.

2. Begründung und Geltungsanspruch

Mittlerweile nachgerade kanonisch ist die Unterscheidung eines älteren theonomen N.s (im Kern Antike und Mittelalter zugeordnet), sowie eines neuzeitlichen rationalistischen oder Vernunft-N.s, das als dezidiert „nachchristlich“ (Hofmann 1986: 84) eingestuft wird. Diese Unterscheidung ist dann anfechtbar, wenn sie als kategorial verstanden wird. Denn namentlich die stoische Logos-Lehre sowie die entwickelte scholastische N.-Lehre (Scholastik) eines Thomas von Aquin sind von der maßgeblichen Rolle der menschlichen Vernunft (Vernunft – Verstand) geprägt, wohingegen der Versuch, das substantielle theonome Element etwa des Wolffschen N.-Systems zu eskamotieren, dieses verzeichnen muss. Insb. vermag die kategoriale Unterscheidung die in der jüngeren Forschung intensiv erörterte Brückenfunktion der iberischen Spätscholastik vom Mittelalter zur Neuzeit nicht zu erfassen.

N. wird ferner häufig dahingehend missverstanden, dass es nach Art von Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) mit dem Anspruch auftrete, naturrechtswidrigem positivem Recht jegliche Geltung abzusprechen bzw. es zu vernichten. Tatsächlich haben nur einzelne Vertreter der N.-Tradition diese Schlussfolgerung gezogen (Cicero); ganz überwiegend verstehen sich namentlich die neuzeitlichen Entwürfe eines Vernunft-N.s. als Reformlibretto für die positive Gesetzgebung. Auf einer mittleren Linie bewegen sich Denker wie Thomas, der zwar unter dem Motto der corruptio legis einen generellen Geltungsvorrang der lex naturalis annimmt (STh I-II, 95,2), diesen aber im Einzelfall zugunsten des Spielraums des menschlichen Gesetzgebers immer wieder restringiert.

3. Kritik am Naturrecht

Der Kern der rechtsphilosophischen oder allg.er gesprochen rechtswissenschaftlichen Kritik am N. zielt bis heute auf die mangelnde intersubjektive Vermittelbarkeit der Prämissen der jeweiligen N.-Lehre (anders gewendet lautet der Vorwurf, dass Vertreter des N.s der „Natur“ in einem ersten unausgesprochenen Schritt normative Vorstellungen unterlegen, die anschließend im Wege mehr oder minder aufwendiger Vernunftbemühungen „gefunden“ werden). Tatsächlich ist die Abhängigkeit von letztlich gesetzten Prämissen eine Achillesferse aller N.-Lehren, die sich im Einzelfall bis zur Beliebigkeit steigert. Jenseits oberster normativer Sätze der praktischen Vernunft, die vielleicht noch Negativevidenz für sich reklamieren können („Ungerecht handelt, wer von einem anderen in der Situation A die Handlung B fordert, aber zugleich kategorisch ausschließt, dass er in der identischen Situation A dem anderen gegenüber dieselbe Handlung B setzen wird.“), lösen sich Konsense rasch auf, was insb. solchen N.-Systemen die Glaubwürdigkeit oder Anschlussfähigkeit raubt, die wie die Neuthomistik (Thomismus) oder Teile des Vernunftrechts der Aufklärung glauben, normative Detailvorgaben generieren zu können.

Zu kurz dürften hingegen die Vorwürfe greifen, N. unterliege generell dem sog.en naturalistischen Fehlschluss oder sei nur um den Preis eines Mindestanteils an genuin religiöser Radizierung zu haben, die wiederum im säkularen Verfassungsstaat entweder nicht konsensfähig oder sogar aus dem öffentlichen Diskurs ganz auszuscheiden sei. Der Einwand, N. schließe unweigerlich von einem Sein auf ein Sollen, übersieht, dass die Mehrzahl der N.-Lehren von Vernunftprämissen ausgeht, die wohlgemerkt bereits normativer Natur sind. Und der Vorhalt des „theonomen Minimums“ lässt sich zwar gegen eine Vielzahl von N.-Entwürfen trefflich erheben, aber nicht generalisieren, wie namentlich die Menschenrechtsdebatte belegt.

4. Naturrecht in der jüngeren Rechtsentwicklung

Ein substantieller Einfluss des N.s auf Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung lässt sich zuletzt in der unmittelbaren Nachkriegszeit belegen – danach sind allenfalls noch höchst punktuelle explizite Rekurse wie in den Mauerschützenprozessen zu verzeichnen. Die sog.e N.-Renaissance der Jahre nach 1945 erfasst Wissenschaft sowie Rechtsprechung und schlägt sich auch in zahlreichen vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen nieder, die mit teils spezifisch naturrechtlicher, teils allg.er christlicher Terminologie angereichert werden (bes. prominent in Rheinland-Pfalz) und sich deutlich vom insofern nüchterneren GG von 1949 abheben. Zugl. belegen diese Texte die einseitige Dominanz des neuthomistischen N.s katholischer Provenienz, das noch dazu einseitig überkommene Ordnungsvorstellungen unterstreicht und jüngere Ansätze ausblendet, angesichts des NS-Terrors (Nationalsozialismus) das N. subjektiv zu wenden. Auch in der jüngeren historischen Bewertung obwaltet daher eine negative Einschätzung der sog.en N.s-Renaissance als konfessionell einseitig, rechtstheoretisch unterkomplex und latent obrigkeitsstaatlich.

5. Naturrecht im demokratischen Verfassungsstaat

Der demokratische Verfassungsstaat setzt im Grunde die Mehrheit an die Stelle der Wahrheit. Das lässt für eine offen naturrechtliche Argumentation zunächst keinen Raum, weil sie für sich reklamiert, intrinsisch richtig und damit eben nicht abstimmungsfähig zu sein (vgl. die bekannte Wendung Ernst-Wolfgang Böckenfördes von der Kompromissunfähigkeit der Berufung auf N.). Etwas anderes folgt auch nicht aus der in diesem Zusammenhang mitunter angeführten kryptischen Wendung „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG. Sie mag das eingedenk der NS-Zeit naheliegende Eingeständnis sein, dass geschriebenes Gesetz und Recht (hier verstanden als Gerechtigkeit) auseinanderfallen können, darf aber nicht als Aufforderung an Gerichte und Behörden missverstanden werden, angesichts eines aus welchen Gründen auch immer als kritisch beäugten Gesetzes dessen Inhalt im Wege freihändiger naturrechtlicher Spekulation zu korrigieren.

Ist naturrechtlich fundierte Argumentation damit kategorisch ausgeschlossen? Sofern sie akzeptiert, dass ihre Valenz und Relevanz allein aus der Überzeugungskraft der Argumente und nicht aus dem Grad an Überzeugtheit der Urheber herrühren kann, bleibt N. auch im demokratischen Verfassungsstaat ein Element „sinnstiftende[r] Unruhe“ (Essen 2004). Dies, indem es begründete Rechts- und Geltungsbehauptungen erhebt, die durch den Abgleich mit den verschiedenen Traditionen der N.s-Lehre einerseits eine Rationalisierungsleistung erbringen und andererseits eingedenk von deren Verbreitung bzw. Anhängerschaft auf Zustimmung hoffen können.

6. Naturrecht und Menschenrechte

Das illustriert das Feld, in dem eine implizit oder explizit naturrechtliche Argumentation auch im internationalen Kontext noch auf die meiste Zustimmung stößt, nämlich die Begründung der Menschenrechte. Hier besteht zumindest im Westen ein vergleichsweise breiter Konsens, dass dem Menschen kraft seines Menschseins subjektive Rechte zu eigen sind, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Rechtspositionen im staatlichen Recht (dann typischerweise: Grundrechte) oder in Dokumenten des internationalen Rechts (dann regelmäßig: Menschenrechte) anerkannt werden. Der Befund ist paradox: Denn dem Konsens im Ergebnis steht ein Dissens in der Begründung gegenüber, weil praktisch keiner der vorgetragenen Ansätze universal vermittelbar und akzeptabel ist. Allerdings dürfte wie für die innerstaatliche Diskussion gelten, dass auch hier Versuche, das Motivations- und Überzeugungspotential einer naturrechtlich fundierten Menschenrechtsidee in toto zu verabschieden, weder dem Menschenrechtsdiskurs noch der -praxis helfen dürften.

7. Relevanz in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart

N. ist in der gegenwärtigen deutschsprachigen Rechtswissenschaft bestenfalls randständig und wird typischerweise nicht von Vertretern der akademischen Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie gepflegt (zum Stand und zu den Perspektiven der katholischen bzw. thomistischen Naturrechtstradition s. o. 2.). Anderes gilt für den angloamerikanischen und spanischsprachigen Raum, wobei auch hier der hohe Anteil an Akteuren auffällt, die an kirchlichen Hochschulen wirken oder anderweitig persönlich religiös radiziert sind.

Es bleiben auch in der deutschsprachigen Diskussion charakteristische Rudimente des N.s Eingedenk des Umstandes, dass deutsche Rechtsphilosophie nach 1945 Rechtsphilosophie „nach Auschwitz“ ist, sind bei einer im Grundton rechtspositivistischen Ausrichtung Minimalvorbehalte typisch, die in Anlehnung an die sog.e Radbruchsche Formel entweder ethische Mindestinhalte fordern oder Schwellenwerte extremer und offensichtlicher Ungerechtigkeit namhaft machen, um die Geltung von Recht zu begründen bzw. im Ausnahmefall zu versagen. Daneben begegnen bis in die Rechtsprechung hinein naturrechtsanaloge Argumentationsfiguren, die zwar den Begriff des N.s meiden, in der Sache aber Setzungen enthalten, die keinen Anhalt im positiven Recht besitzen. Als Beispiele lassen sich die sog.e Bundestreue oder auch die Souveränitätskonzeption der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123,267) anführen.

8. Naturrecht und religiöse Rechtsordnungen

Komplexe Fragen wirft zuletzt die Vereinbarkeit von naturrechtlichen Spekulationen mit den verschiedenen religiösen und religionsrechtlichen Traditionen auf, die eingedenk der Pluralisierung des religiösen Feldes in Europa um Anerkennung nachsuchen. Während das N. im kanonischen Recht (Kirchenrecht) sowie in der katholischen Soziallehre weiterhin fest verankert ist (can. 1163 § 1 CIC), wird seine Vereinbarkeit mit den Lehren der verschiedenen Zweige der Reformation nach wie vor kontrovers diskutiert. Erst recht prekär ist die Anerkennung eines N.s in den Religionen, die wie Judentum und Islam eine im Ausgangspunkt als theonom gedachte Rechtsordnung ausdifferenziert haben, neben der eine autonome Quelle von Normativität der Legitimation entbehren muss. Dementsprechend sind seit dem Hochmittelalter Versuche Episode geblieben, etwa im Rahmen der Rezeption der aristotelischen Philosophie einzelne Figuren der religiösen Tradition als Hebel oder Schleuse für den Import naturrechtlich fundierter Normen zu nutzen.