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U. Steinbach: Naher Osten, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Naher Osten}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 15. August 2021, 11:51 Uhr

1. Abgrenzungen

Der „N. O.“ ist als Region im Deutschen nicht allgemeingültig definiert. Im üblichen Sprachgebrauch wird darunter der Raum zwischen Ägypten und Iran verstanden. Aufgrund ihrer kulturellen und sprachlichen Nähe werden ihm gelegentlich alle arabischsprachigen Länder Nordafrikas zugerechnet. Auch der englische Begriff der MENA-Region hat sich eingebürgert. Im Deutschen wird die Region zusammenfassend auch als der Vordere Orient bezeichnet. Hier werden der Mashrek (arabische Länder östlich des Mittelmeers) plus Ägypten sowie Iran und die Türkei dem N.n O. zugeordnet, letztere v. a. vor dem Hintergrund der langen Geschichte des Osmanischen Reiches als Großmacht im N.n O. Auch die alten Völker des südlichen Kaukasus, die (nach kurzem Intermezzo 1918–20) seit 1991 als drei selbstständige Staaten verfasst sind, können dem N.n O. zugerechnet werden, der sich deutlich von seinen Nachbarregionen abgrenzt: Europa, Zentral- und Südasien sowie dem subsaharischen Afrika.

Auch die natürliche und physische Abgrenzung unterstützt die staatlich-politische Definition. Natürliche Grenzen sind im Westen das Mittelmeer und die Ägäis; im Norden Schwarzes Meer, Kaukasus, Elburs-Gebirge sowie die Steppen- und Wüstengebiete Turkmenistans; im Osten die Ausläufer des Hindukusch sowie schließlich im Südosten Arabisches Meer/Indischer Ozean. Die Wasserstraßen von Bosporus und Dardanellen, Persischem Golf und Rotem Meer haben durch die Geschichte die Staaten des N.n O.s als Verkehrswege sowohl untereinander als auch mit den benachbarten Regionen verbunden. Schließlich waren insb. die nördlichen Gebiete Teil der „Seidenstraße“, die Europa mit Süd- und Ostasien verknüpft hat.

In Klima und Vegetation ist die Region von großer Vielfalt und starken Gegensätzen geprägt. Sie lassen sich als mediterran an den Küsten des Mittelmeers, als Festlandsklima in den Hochländern Anatoliens und Irans, als regenreiche Gebiete an den Hängen zum Schwarzen und Kaspischen Meer, als wüstenartig im Raum zwischen Ägypten, der Arabischen Halbinsel und Zentral- und Ost-Iran sowie als feuchtheiß in der Tiefebene Mesopotamiens und am Persischen Golf charakterisieren.

2. Geschichte

Die Geschichte rechtfertigt die hier zugrunde gelegte Definition. Der Raum ist Schauplatz von Stadtgründungen, Reichsbildungen und Kulturen, die zu den ältesten der Menschheit gehören. Bereits von früher Zeit an ist die Abfolge der Staatenbildungen und Reiche auch durch ein hohes Maß an Kontinuität und Interdependenz der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen ihnen gekennzeichnet. In der ersten Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr. entstanden im Süden Mesopotamiens die ersten großen Städte der Weltgeschichte. Gegen Ende des 3. Jahrtausends suchten mächtige Führer von Akkad aus ihren Einfluss bis nach Syrien und Kleinasien auszudehnen. Es folgten weitere Reichsgründungen in Mesopotamien, darunter die der Assyrer und Babylonier. In Ägypten erfolgte um 3 000 v. Chr. die Einigung von Ober- und Unterägypten. Das ägyptische Reich, das immer wieder auch in den Vorderen Orient expandierte, sollte bei vielfältigen Veränderungen bis zu seiner Eingliederung in das Römische Imperium Bestand haben. In Anatolien und dem Nordwesten Syriens entstand in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. das Reich der Hethiter, das über drei Jahrhunderte Bestand hatte. Das sich anschließende Vakuum füllten die Aramäer, eine Welle semitischer Kleinviehnomaden, die sich, der syrisch-arabischen Wüste entstammend, sowohl nach Osten (Mesopotamien und Babylonien), als auch nach Westen (Syrien und Palästina), ergoss. Ihre Sprache ist über die folgenden Jahrhunderte zu einer Art lingua franca im Vorderen Orient geworden.

In die Wende zum 1. Jahrtausend fiel der Wiederaufstieg der Assyrer. Dieses neu-assyrische Reich erstreckte sich über weite Teile des Vorderen Orients bis zur Küste des Mittelmeers. Mitte des 7. Jh. wurde es vom neubabylonischen Reich abgelöst. Mit der Eroberung von Babylon durch Kyros II. im Jahr 539 sollte die Kette der altorientalischen Reiche, die im mesopotamisch-syrisch-anatolischen Raum ihren Ursprung hatten, zu Ende gehen. In den folgenden mehr als 1 000 Jahren haben bis zur islamisch-arabischen Eroberung des iranischen Hochlands in der ersten Hälfte des 7. Jh. n. Chr. die Perser (spätere Selbstbezeichnung „Iraner“) in drei Dynastien über weite Teile der Region geherrscht.

Dem ersten Persischen Reich (der Achämeniden) bereitete der Makedonenkönig Alexander der Große, der 336 v. Chr. nach Asien aufbrach, ein Ende. Bei seinem Tod umfasste sein Reich den ganzen Raum des N.n O.s. Danach zerfiel es; Teile Vordasiens wurden von der Dynastie der Seleukiden, Ägypten und der Westen Syriens von der Dynastie der Ptolemäer beherrscht. Mit dem Tod Alexanders setzte der Prozess der kulturellen Hellenisierung der gesamten Region ein. Auf dem Boden des Hellenismus entstand später die Kultur des Christentums. Auch die Kultur, die seit dem 7. Jh. auf dem Boden des Islam heranwuchs, ist ohne zahlreiche Elemente der hellenistischen Kultur nicht nachzuvollziehen.

Ende des 3. Jh. v. Chr. gründeten die Parther das zweite Iranische Reich. Sie stießen im 1. Jh. v. Chr. auf die Römer, als diese begannen, den Raum des östlichen Mittelmeers unter ihre Herrschaft zu bringen. Die westlichen Gebiete des N.n O.s wurden Teil der civitas Romana. Mit der Teilung des Römischen Reiches im 3. Jh. n. Chr. entwickelte sich Byzanz/Konstantinopel zunehmend zu einer politisch und kulturell eigenständigen Macht. Es rang mit dem dritten Persischen Reich (der Sassaniden), das im 3. Jh. n. Chr. gegründet worden war, um Vorherrschaft. Dieses historische Geschehen haben die Menschen im Gedächtnis bewahrt: Die Erinnerung an die alten Völker und Reiche sind auch in der Gegenwart präsent und dienen nicht selten der Rechtfertigung aktueller politischer und kultureller Ansprüche.

Ausgehend von Mekka und Medina, wo Mohammed aus dem arabischen Stamm der Quraisch die Religion des Islam verkündigte, begannen arabische Heere sie zu verbreiten. Bis zur Mitte des 7. Jh. hatten sie nahezu den gesamten Raum zwischen Ägypten und der Nord- und Ostgrenze des iranischen Hochlandes erobert. Nur auf anatolischem Boden überlebte das byzantinische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel. Bis 750 n. Chr. wurde das islamische Reich von der Dynastie der Umaiyaden in Damaskus regiert. Nach deren Sturz verlegte der Gründer der Dynastie der Abbasiden die Hauptstadt des Kalifats in das neu gegründete Bagdad. Gegen Ende des 9. Jh. begann das Reich des Kalifen zu zerfallen; auf seinem Boden entstanden zahlreiche größere und kleinere Herrschaften. Gleichwohl blieb der nunmehr weitgehend islamisierte N. O. ein Raum von hoher kultureller und wirtschaftlicher Kohärenz und Interdependenz. Die Anerkennung von realer Machtausübung durch den – wenn auch machtlosen – Kalifen in Bagdad war ein unabdingbarer Bestandteil der politischen Legitimität eines Herrschers. Deshalb war mit der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen 1258 eine neue Ausgangssituation entstanden. Nahezu zeitgleich (1291) sollte auch die Herrschaft der europäischen Kreuzfahrer enden, die seit 1096 – für die Geschichte des N. O.s ephemere – christliche Herrschaften errichtet hatten.

Der Raum des iranischen Hochlands nahm unter der Herrschaft zum Islam übergetretener mongolischer Lokalfürsten und turkmenischer Stämme eine eigenständige Entwicklung. Unter der Dynastie der Safawiden (1501–1722) kam es wieder zur Gründung eines Großreichs. Ihr erster Herrscher, Schah Ismail I., gründete seine Herrschaft auf der systematischen Einführung der schiitischen Variante des Islam. Bereits seit Ende des 9. Jh. hatten turkstämmige, aus Zentralasien stammende Soldaten zunehmend politische Herrschaften im N.n O. gegründet. Mit den Seldschuken herrschte Mitte des 11. Jh. ein Turkvolk über weite Teile des N. O.s. 1071 besiegten sie bei Mantzikert (im Osten Anatoliens) das Heer des byzantinischen Kaisers. Damit öffneten sie Anatolien für das Eindringen der Türken. Es entstanden seldschukische Herrschaften. Zum Zeitpunkt der Zerstörung Bagdads wurde Osman I., der Sohn des Ertuğrul Gazi, eines Lehensmanns eines seldschukischen Fürsten, in Westanatolien geboren. Gegen Ende des 13. Jh. hatte er eine kleine Herrschaft errichtet. Sie wurde die Keimzelle des Osmanischen Reiches, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Bestand haben sollte.

Die Ausdehnung des Reichs erfolgte vom Westen Anatoliens aus zunächst über die Ägäis auf den Balkan, 1453 eroberten die Osmanen Konstantinopel und machten es zu ihrer Hauptstadt (Istanbul). Damit endete die glanzvolle Geschichte eines römisch-christlichen Imperiums. Erst im 16. Jh. begannen die Osmanen, systematisch Ostanatolien und den N.n O. zu erobern. Unter Süleyman I. erfuhr das Reich seine größte Ausdehnung: Es erstreckte sich vom heutigen Algerien bis zum Indischen Ozean und umfasste auch die Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres und des Kaukasus. Im Gegensatz zum schiitischen Iran war es sunnitisch geprägt. Mit der Eroberung Kairos (1517) legte sich der Sultan auch eine kalifisch-religiöse Weihe zu. Sie sollte aber bis ins 19. Jh. keine wesentliche Rolle in der Politik des Reiches spielen. Nach der gescheiterten zweiten Belagerung von Wien (1683) verlor das Reich bis zum Ende des 19. Jh. Zug um Zug fast alle Gebiete auf europäischem Boden. Ägypten geriet 1882 unter britische Herrschaft, doch bestand die Souveränität des Sultans/Kalifen völkerrechtlich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fort. Nur zögerlich gab die osmanische Staatsführung dem Druck Deutschlands nach, an dessen Seite Ende Oktober 1914, in den Krieg einzutreten.

Zu Beginn des Krieges verständigten sich England, Russland und Frankreich über die Auflösung des Osmanischen Reichs. Tatsächlich wurde dessen Ende mit dem Waffenstillstand von Mudros im Oktober 1918 besiegelt, auch wenn das Sultanat/Kalifat bis zu seiner Abschaffung durch die türkische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal (Atatürk) 1922 bzw. 1924 fortbestand. Zuvor waren andere Teile des N.n O.s zum Spielball der europäischen Mächte geworden. Anfang des 19. Jh. waren die Gebiete der südkaukasischen Georgier, Armenier und Aserbaidschaner dem russischen Reich eingegliedert worden. Iran, wo seit 1796 die qadscharische Dynastie (bis 1925) herrschte, konnte zwar seine völkerrechtliche Unabhängigkeit wahren. Faktisch aber teilten Russland und England das Land bis zum Ende des Ersten Weltkriegs politisch und wirtschaftlich untereinander auf.

3. Religion, Sprache, Kultur

Der N. O. ist die Wiege der drei monotheistischen Religionen: des Judentums, des Christentums und des Islam. Tatsächlich haben diese die diversen Götterwelten der alten Völker und Hochkulturen Zug um Zug abgelöst. Als Monotheismus wird auch die im 7. Jh. v. Chr. von Medern und Persern angenommene, im Awesta niedergeschriebene Lehre des Zarathustra bezeichnet. Im 19. Jh. entstand im Iran die monotheistische Religion des Bahaismus, die über Iran hinaus im N.n O. Anhängerschaft hat.

Kern des Judentums ist das monotheistische Gebot, das in Ex 20, niedergelegt ist. Aus einem unter vielen orientalischen Kulten hat es sich seit König David (um 1000 v. Chr.) im Verlauf der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends als Religion „der Juden“ ausgebildet. Jesus von Nazareth war seinem eigenen Selbstverständnis nach ein Reformer des Judentums. Bereits vor der Zerstörung des jüdischen Staates und des zweiten Tempels in Jerusalem durch Titus (70 n. Chr.) hatte sich das Judentum durch Mission im N.n O. und (darüber hinaus) ausgebreitet. Es blieb aber eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft mit starker Bindung an das Land Israel (das als Staat bis 1948 nicht mehr existierte) und den Tempel in Jerusalem. Demgegenüber verbreitete sich das Christentum als religiöser Glaube mit universalem Anspruch unabhängig von einer spezifischen ethnischen oder politisch-nationalen Bindung. Nach Jahrhunderten der Verfolgung namentlich durch die Anhänger des römischen Staatskults begann es sich nach dem Tode Kaiser Konstantins I. (337 n. Chr.), der die Duldung des Christentums angeordnet hatte, und nach der Herrschaft Kaiser Theodosius I., der es zur Staatsreligion machte, fast flächendeckend im Raum des Byzantinischen Reiches auszubreiten. Die antiken Kulte verschwanden (und mit ihnen die Zeugnisse der alten Kulturen). Auch im sassanidischen Reich der Perser begann es sich auszubreiten.

Der Islam war nahezu von Beginn an eine auf weltliche Staatsgründung ausgerichtete Religion. Bereits zu Lebzeiten des Propheten Muhammad wurde von Medina aus nahezu die ganze Arabische Halbinsel unterworfen, wie auch der ganze N. O. Jenseits seiner Staatenbildungen hat der Islam auch die Kultur der gesamten Region bis heute nachhaltig geprägt. Das bedeutet nicht, dass andere Religionen (und ihre kulturellen Zeugnisse) schlagartig verschwunden gewesen wären. Nur in einem Jahrhunderte währenden Prozess sind das Christentum (oder in Iran der Zoroastrismus) durch den Islam abgelöst worden. Die Armenier sind als Volk christlich geblieben. Starke christliche Gemeinschaften haben sich in Ägypten und im Libanon erhalten. Juden überlebten in Diasporagemeinden in vielen Teilen des N.n O.s. Erst nach der Staatsgründung Israels ist die große Mehrheit der orientalischen Juden nach Israel ausgewandert.

Die großen kulturellen Leistungen im islamischen N.n O. auf den Gebieten der Literatur, der Geistes- und Naturwissenschaften, der schönen Künste und der Architektur sind in erster Linie von Menschen arabischer, persischer und türkischer Sprache hervorgebracht worden. Insb. in der Wissenschaft wurde das Arabische – vergleichbar dem Latein in Europa – zur lingua franca. Die Feststellung, die kulturelle Dynamik des Islam sei mit dem 16. Jh. erlahmt, ist zwar allzu pauschal (und würdigt nicht die kulturelle Kreativität in einzelnen Teilen des Raumes); aber zutreffend ist, dass die Dynamik kulturellen und wissenschaftlichen Schaffens (aber auch des Handels und der Entdeckungen) zunehmend an die Europäer überging. Die Krise des Osmanischen Reiches (und des safawidischen Persien) wurde mit dem Verfall auch der politischen und militärischen Macht unübersehbar. Im Abstand von nur vier Jahrzehnten scheiterte die zweite osmanische Belagerung Wiens (1683) und endete die safawidische Herrschaft (1722).

Der N. O. trat in einen Krisenmodus ein. Das geistig-kulturelle Leben war – und ist es bis in die Gegenwart – von zwei bohrenden Fragen überschattet: Wo liegen die Wurzeln der Rückständigkeit des islamischen Raumes gegenüber „dem Westen“; und wie können die politischen, geistig-kulturellen und wissenschaftlichen Elemente einer von Europa geprägten Moderne mit den Grundlagen der islamischen Religion in einer Synthese verschmolzen werden, die nicht die Selbstaufgabe der Identität als Muslim bedeutet. Zentren der Auseinandersetzung im N.n O. des 19. Jh. waren Kairo, Konstantinopel (Istanbul) und Beirut. Auch orientalische Christen (nicht zuletzt im Libanon) nahmen daran teil. In Ägypten, v. a. aber im Osmanischen Reich, war die Auseinandersetzung mit Reformen der politischen Institutionen und gesellschaftlichen Grundlagen verbunden. Nationalismus, Konstitutionalismus und Säkularismus (Säkularisierung) waren zentrale Begriffe, die es mit den religiösen Koordinaten des Islam zu versöhnen galt. Die Positionen waren polarisiert: Am einen Extrem standen die Wahhabiten, eine religiöse Bewegung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jh. auf der Arabischen Halbinsel entstanden war. Sie verkündete eine rigorose Ablehnung aller Neuerungen in Verbindung mit Militanz und Intoleranz gegen Andersgläubige. Am anderen Extrem standen Theologen, die keine grundlegenden Widersprüche zwischen einer von Europa ausgehenden Moderne und den Grundlagen des Islam sahen und deren Auslegung i. S. d. Renaissance der islamischen Gemeinschaft forderten. Die Verfassungsrevolution in Iran (1905–09) und die Revolution der Jungtürken im Osmanischen Reich 1908/09 waren Vorboten der Umbrüche im N.n O. des 20. Jh.

4. Politische Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Die geistig-kulturellen sind von den politischen Entwicklungen des 20. Jh. nicht zu trennen. Das Ende des Ersten Weltkriegs bedeutete eine tiefe Zäsur. Etwa vier Jahrhunderte hatte das Osmanische Reich den gesamten N.n O. (mit Ausnahme Irans) beherrscht. Gemäß einem Beschluss der Entente-Mächte (England, Russland und Frankreich) von 1915 und auf der Grundlage von Plänen zur Neuordnung des Reichsgebiets, über die sich die späteren Siegermächte während des Krieges verständigt hatten, wurde der gesamte Raum in Einfluss- bzw. Herrschaftsgebiete europäischer Mächte aufgeteilt (Sykes-Picot-Abkommen von 1916). England und Frankreich sicherten sich den Löwenanteil; Russland hatte mit der bolschewistischen Revolution vom November 1917 auf seine Anteile verzichtet (lediglich die drei Staaten des südlichen Kaukasus – Georgien, Armenien und Aserbaidschan –, die 1918 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, wurden wieder in das entstehende sowjetische Imperium eingegliedert). Italien und Griechenland wurden mit geringfügigen Gebietserwerbungen abgefunden. Als wirkungsmächtig für die weitere Geschichte sollte sich auch die Erklärung des britischen Außenministers Arthur James Balfour vom November 1917 erweisen. In ihr brachte die „Regierung seiner Majestät“ ihre Unterstützung der zionistischen Bewegung (Zionismus) bei der Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ zum Ausdruck. Die Enttäuschung der Eliten im N.n O. über diese imperialistische Vergewaltigung sollte künftig an der Wurzel zahlreicher politischer Konflikte, aber auch kultureller, religiöser und weltanschaulicher Verwerfungen stehen.

Mit den Verträgen von San Remo (1920) gerieten große Teile des N.n O.s in Form von Mandaten des Völkerbundes unter die Kontrolle Englands und Frankreichs. Auch wenn Ägypten (1922) und der Irak (1932) völkerrechtlich unabhängig wurden, verblieben sie doch unter erheblichem britischen Einfluss. Die folgenden Jahrzehnte waren durch die Auseinandersetzung zwischen den nationalistischen arabischen Kräften und den Mandatsmächten um die Unabhängigkeit bestimmt. Auf dem Boden Anatoliens errichteten die Protagonisten des türkischen Nationalismus unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk nach opferreichem Befreiungskampf 1923 die unabhängige Türkische Republik. Saudi-Arabien nahm im Schatten britischer Politik eine Sonderentwicklung. 1932 wurde das Königreich gleichen Namens gegründet. Iran, das völkerrechtlich unabhängig geblieben war, suchte unter dem Pahlawi-Herrscher (seit 1925) Reza Schah Pahlavi den britischen Einfluss zurückzudrängen.

Nach Kriegsende hatten alle Staaten im N.n O. die Unabhängigkeit erreicht oder befanden sich auf dem Weg dahin. Sieben arabische Staaten gründeten 1945 die Arabische Liga. Im Lauf der folgenden Jahre vergrößerte sich die Zahl der Mitglieder auf 22. Zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte konnte sie freilich das Gründungsdilemma überwinden: auf der einen Seite Ausdruck eines – v. a. durch die gemeinsame Sprache begründeten – arabischen Zusammengehörigkeitsgefühls zu sein; auf der anderen Seite aber stets der Priorität nationaler Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten nachgeordnet zu werden. Die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 sollte dieses Dilemma noch verschärfen. Die Türkei und Iran gerieten mit Kriegsende unter den Druck der Einflusserweiterung ihres sowjetischen Nachbarn. Damit war die Hinwendung zu den USA programmiert. Diese waren nach ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zunehmend in den N.n O. hineingezogen worden. Rasch bildete sich eine globale Konfrontation aus, die unter dem Namen des „Ost-West-Konflikts“ oder „Kalten Krieges“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Ihr konnten sich auch die Staaten des N.n O.s nicht entziehen: Die Türkei und Iran sowie die konservativen – meist monarchischen – arabischen Staaten traten dem Lager der USA bei (die Türkei wurde 1952 Mitglied der NATO, Iran 1958 des CENTO-Bündnisses). Die „progressiven“ arabischen Staaten näherten sich dem sowjetischen Lager an oder suchten zwischen beiden zu lavieren.

Tatsächlich hatte zu Beginn der 50er Jahre ein Umbruch in der arabischen Welt begonnen. Frustriert über die vergeblichen Bemühungen der arabischen Regierungen, die Entstehung des Staates Israel zu verhindern, hatten sich neue Kräfte formiert, die entschlossen waren, die überkommenen arabischen Eliten (Notabeln, Großgrundbesitzer, Kaufleute, Geistliche) herauszufordern. Ihre Speerspitze waren die Armeen der jungen Staaten. Nach ersten Putschen Ende der 40er Jahre in Syrien kam es in Ägypten 1952 zu einem tiefgreifenden Umbruch. „Freie Offiziere“ – ihr bekanntester Führer sollte Oberst Gamal Abdel Nasser werden – übernahmen die Macht und beendeten die Monarchie. Diese Revolution war das Fanal zu politischen Umbrüchen weithin. Im Irak, in Syrien und im Jemen kamen Regimes an die Macht, die sich durch eine Mischung von arabischem Nationalismus und linken gesellschaftspolitischen Konzepten rechtfertigten. Die Konservativen unter den arabischen Regimes (und Iran) gingen in die Defensive; dazu gehörte auch die Anlehnung an die USA, die ihre Sicherheit garantieren sollten. 1958 kam es zu einer unmittelbaren Intervention der USA im Libanon. Erst der dritte Nahostkrieg von 1967 setzte diesem arabischen „Kalten Krieg“ ein Ende („Nahostkonflikt“). Nicht nur war damit das Charisma G. A. Nassers beschädigt; auch die Anziehungskraft linker Entwicklungskonzepte war verblasst. Bis zum Ausbruch der arabischen Revolte von 2010/11 sollte sich eine bleierne Decke autokratischer Gewalt über die arabische Region legen. Für sie steht die Herrschaft der Partei der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei in Damaskus und Bagdad. Der Herrschaft des ba’thistischen Diktators Saddam Hussein setzte eine militärische Intervention der USA im März/April 2003 ein Ende. Das Regime Baschar al-Assads stürzte Syrien ab 2011 in einen Bürgerkrieg, der das Land an den Rand des Zerfalls brachte.

Die Staatenwelt des N.n O.s nach dem Ende des Osmanischen Reiches war nicht nur weithin von Europa dominiert. Sie war auch in ihren politischen Institutionen von Europa geprägt. Von Saudi-Arabien abgesehen (das sich in relativer Isolierung entwickelte und die wahhabitischen Traditionen bewahrte) waren alle Regimes säkular verfasst. Die Gleichsetzung von Modernisierung und Europäisierung fand in der Türkei ihren radikalsten Ausdruck. Die Staatsführung um den charismatischen Ex-General Mustafa Kemal (ab 1934 Atatürk) war bemüht, auch die letzten Spuren der islamischen Religion aus Politik und Gesellschaft zu eliminieren. Das Kalifat, mit dem die osmanische Dynastie ihre Herrschaft über den gesamten N.n O. (mit der Ausnahme des schiitischen Iran) gerechtfertigt hatte, wurde per Beschluss des türkischen Parlaments im März 1924 abgeschafft, anstelle der arabischen Schrift das lateinische Alphabet eingeführt. Der iranische Zeitgenosse und Bewunderer Atatürks, Reza Schah Pahlavi, unternahm ähnliche Bemühungen, auch wenn sie nicht so weit gingen. Mit der Abschaffung des Kalifats verschwand auch eine politische Klammer, die den arabischen Raum zusammengehalten hatte. Der Nationalstaat europäischer Prägung war nunmehr das allein geltende politische Paradigma. Es wurde durch die Einführung von Verfassungen und Parlamenten bestätigt. Islamische Organisationen – wie die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft – waren politisch marginalisiert.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Nationalismus die leitende Idee im nahöstlichen Staatensystem. Während der türkische und iranische Nationalismus eindeutige Grenzen implizierte, war der Nationalismus der Araber diffus. Er konnte sich sowohl auf die real existierende Staatsgrenze als auch auf die „arabische Nation“ insgesamt beziehen. Namentlich G. A. Nasser und die ba’thistischen Protagonisten haben um die Vorherrschaft über die „arabische Nation“ gerungen. Sie haben damit tiefsitzende innerarabische Verwerfungen geschürt.

Mit der Niederlage Ägyptens, Syriens und Jordaniens im „Sechs-Tage-Krieg“ gegen Israel im Juni 1967 begann das säkulare Paradigma an Verbindlichkeit zu verlieren. Mit dem Abstieg G. A. Nassers setzte der Aufstieg des Einflusses Saudi-Arabiens in Politik und Gesellschaft des arabischen Raums ein. Das Königreich konnte seinen mittlerweile beträchtlichen Reichtum aus dem Erdölgeschäft nutzen, um den Einfluss religiöser Kräfte in den arabischen Gesellschaften zu stärken. Dies wurde sowohl im Erscheinungsbild der Gesellschaften (u. a. Verschleierung der Frauen), als auch in der Verbreitung religiöser Praktiken und des islamischen Rechts (Scharia) sichtbar. Mit der Gründung der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) 1969 suchte der saudische König Faisal ibn Abd al-Aziz die Islamisierung jenseits des N.n O.s in die internationale Gemeinschaft zu tragen.

Das stärkste Signal, das tiefgreifende Veränderungen ankündigte, ging von der Revolution in Iran aus. Die Verknüpfung autokratischer Machtausübung von Seiten des Schahs, des übermächtigen Einflusses der USA und einer wirtschaftlichen Krise war der Nährboden eines Widerstands, der im Laufe des Jahrs 1978 revolutionäre Durchschlagskraft erhielt. Protagonist der Eskalation war ein führender schiitisch-islamischer Geistlicher, Ayatollah Ruhollah Musawi Khomeini. Im Januar 1979 verließ der Schah das Land. Damit war die Monarchie an ihr Ende gekommen. Ende März votierte eine überwältigende Mehrheit der Iraner in einem Referendum für die Schaffung einer „Islamischen Republik“, d. h. einer Synthese von parlamentarischer Demokratie und schiitisch-islamischer Herrschaftslegitimation, verkörpert im „Revolutionsführer“, nach der Verfassung von 1979 ein herausragender schiitischer Theologe. Seither ist die Politik Irans innen- wie außenpolitisch gekennzeichnet durch die Suche nach einem Ort zwischen „dem Westen“ und eigenen geschichtlichen, kulturellen und religiösen Traditionen.

Die Revolution in Iran und das politische Konzept Ayatollah R. M. Khomeinis waren zwar aus spezifischen Elementen des schiitischen Islam erwachsen. Aber auch im sunnitisch geprägten Teil des N.n O.s, namentlich den arabischen Ländern zwischen Ägypten und dem Persischen Golf, traten Aktivisten einer „islamischen Revolution“ (Islamismus; Salafismus) auf. Versatzstücke der (sunnitisch-)islamischen Religion wurden zu Bausteinen eines revolutionären Gebäudes, das auf der Grundlage der Rückkehr zur „Souveränität Gottes“ (hakimiyyat Allah) beruhte. Der Kampf dafür sollte auch Gewalt gegen (des Unglaubens bezichtigte) Muslime sowie Nicht-Muslime einschließen. Im Terrorakt vom 11.9.2001 gegen das World Trade Center in New York, dessen Urheberschaft von einer islamistischen Gruppierung beansprucht wurde und dem etwa 3 000 Menschen zum Opfer fielen, erfuhr diese Ideologie ihre dramatischste Manifestation.

Angeführt von den USA erklärte die internationale Gemeinschaft den extremistischen „islamistischen“ Organisationen den Krieg (war on terrorism). Er hat die politischen Entwicklungen im gesamten N.n O. tiefgreifend bestimmt. Eine militärische Intervention der USA im Irak im März 2003 trug nicht nur zur Erschütterung der Stabilität dieses Landes, sondern der gesamten Region bei. Die radikalen Kräfte gewannen an Zulauf. Religiös gerechtfertigter Terrorismus war allgegenwärtig. Ab 2005 sprangen seine Funken auch nach Europa über. Die politischen Ordnungen im arabischen N.n O., die durch Autokratie und Despotie gekennzeichnet waren, gerieten weiter unter Druck, als Ende 2010/Anfang 2011 Volksaufstände ausbrachen, die nahezu alle arabischen Staaten (wenn auch in unterschiedlicher Dynamik) erfassten. Zu Beginn des 21. Jh. befindet sich der gesamte N. O. – in gewisser Weise vergleichbar dem Umbruch nach dem Ende des Osmanischen Reiches – im Übergang. Die Frage nach einem „neuen N.n O.“ ist gestellt. Sie wird durch die Tatsache akzentuiert, dass auch die Türkei, deren Eliten das Land mit der Gründung der Republik auf einen eindeutigen – europäischen – Kurs zu bringen bemüht waren, „post-osmanische“ Reflexe zeigt und in die politischen Verwerfungen ihrer Nachbarschaft hineingezogen zu werden droht.

5. Grundlagen der Wirtschaft

Erst im 20. Jh. ist der N. O. in das Stadium einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung eingetreten. Das Osmanische Reich war agrarisch bestimmt. Handel und Finanzwirtschaft lagen weitgehend in den Händen der nicht-muslimischen Untertanen des Sultans. Erste Ansätze einer industriellen Produktion bzw. einer industriellen Nutzung der Landwirtschaft (z. B. des Baumwollanbaus in Ägypten) führten zur Konkurrenz mit bzw. in die Abhängigkeit von den europäischen industrialisierten Kolonialmächten (Kolonialismus).

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte eine selektive Industrialisierung ein. Aufgrund des Fehlens privaten Kapitals und einer Schicht privater Unternehmer musste der Staat die Vorreiterrolle insb. bei der Industrialisierung und der Entwicklung des Bankensektors übernehmen; das gilt für die Türkei, Iran, sowie für eine Reihe von arabischen Staaten des Fruchtbaren Halbmondes. Eine spezifische Ausgangslage für die wirtschaftliche Entwicklung entstand, als seit dem Beginn des 20. Jh. – beginnend mit Iran – Erdöl gefunden wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl und – seit den 70er Jahren – zunehmend auch des Erdgases die Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung Irans, des Irak, Saudi-Arabiens und der Emirate auf der Arabischen Halbinsel. Es entstand eine Kategorie von politischen Systemen, die als „Rentierstaaten“ zusammengefasst wurden; d. h. Regimen, deren Existenz nicht auf den Steuern der Bürger, sondern auf einer aus dem Verkauf von Rohstoffen generierten „Rente“ beruhten. Die sechs ölproduzierenden Staaten auf der Arabischen Halbinsel haben sich 1971 zum GCC zusammengeschlossen. Die nahöstlichen Ölproduzenten sind auch Mitglieder der 1960 gegründeten OPEC. Die Explosion der Einnahmen der Öl und Gas exportierenden Staaten seit dem Beginn der 70er Jahre haben insb. auf der Arabischen Halbinsel die Gesellschaften sowie die Architektur und Infrastruktur der Ölstaaten tiefgreifend verändert.

Die revolutionären Umbrüche im arabischen N.n O. zwischen Ägypten und dem Irak seit den 50er Jahren haben auch die Wirtschaftsordnungen bestimmt. Die neuen Eliten – ob militärisch oder zivil – folgten einem staatsbasierten Entwicklungskonzept. In den meisten Fällen war dies mit gesellschaftlichen Veränderungen verbunden, deren Vorbilder die europäischen sozialistischen Ordnungen waren, an deren Orbit sie sich auch politisch anschlossen. Es entstand eine neue vom Rest der Gesellschaft weitgehend abgeschottete obere Klasse, die durch Korruption und die Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne zusammengehalten wurde. Gegen diese Form von Misswirtschaft in Verbindung mit autokratischer Machtausübung richtete sich der Aufstand, der seit 2011 die arabische Welt zu erschüttern begann. Unter allen Staaten des N.n O.s vollzog sich nur in der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg eine wirtschaftliche Entwicklung, die das Land zu den Standards starker Industrienationen aufwachsen ließ – mit der Perspektive einer Mitgliedschaft in der EU.