Nachbarschaftspolitik (EU)

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1. Hintergrund

Hintergrund der Europäischen N. sind die positiven Erfahrungen der Erweiterungspolitik, mit der es gelungen ist, Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftliche Strukturen in weiten Teilen Europas zu etablieren. Allerdings wurde durch die Probleme, welche die Erweiterungen hinsichtlich der wirtschaftlichen aber auch gesellschaftlichen Kohäsion für die EU implizierten, zunehmend deutlich, dass diese Strategie nicht unbegrenzt fortsetzbar ist. Entspr. richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie es der EU gelingen könnte, auch jenseits der Erweiterungspolitik bestimmte Normen und Werte in ihren Nachbarschaftsraum zu exportieren. Die Europäische Kommission formuliert hierzu: „Die Vision der Europäischen Nachbarschaftspolitik ist ein Ring aus Ländern, die die grundlegenden Werte und Ziele der EU teilen und in eine zunehmend engere Beziehung eingebunden werden, die über die Zusammenarbeit hinaus ein erhebliches Maß an wirtschaftlicher und politischer Integration beinhaltet. Das wird allen Beteiligten in Bezug auf Stabilität, Sicherheit und Wohlstand enorme Vorteile bringen“ (KOM 2004a: 5).

Dass es sich bei der N. konzeptionell um eine Alternative zur Erweiterung handelt, zeigt sich darin, dass diese explizit „an Partnerländer in der Nachbarschaft der Union [gerichtet ist], die am laufenden Beitritts- oder Heranführungsprozess nicht beteiligt sind“ (KOM 2004b: 2) sowie an der prägnanten Formel des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi „sharing everything with the Union but institutions“ (Prodi 2002). Dennoch handelt es sich im Vergleich zu anderen Kooperationen durchaus um eine „privilegierte Partnerschaft“ (KOM 2004a: 3), die mit dem EUV auch erstmals primärrechtlich festgeschrieben wurde: „Die Union entwickelt besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft, um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“ (Art. 8 EUV).

2. Ausgestaltung

Die im Jahr 2004 initiierte Europäische N. stellt einen einheitlichen Ansatz für die Beziehungen der EU zu den südlichen und östlichen Nachbarn dar. Da die Beziehungen zu Russland im Rahmen einer strategischen Partnerschaft geregelt sind, richtet sich die N. im östlichen Nachbarschaftsraum an Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine sowie im südlichen Nachbarschaftsraum an Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, die Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien und Tunesien. Instrumente sind die mit den einzelnen Ländern abgeschlossenen Assoziierungs-, Partnerschafts- und Kooperationsabkommen sowie Aktionspläne, Fortschrittsberichte und das Europäische Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument (das 2014 durch das Europäische Nachbarschaftsinstrument ersetzt wurde). Damit verfolgt die N. trotz ihres regionalen Anspruchs in der konkreten Ausgestaltung einen bilateralen Ansatz, der v. a. der großen Heterogenität der insgesamt 16 Partnerländer geschuldet ist.

Die großen Unterschiede zwischen den östlichen und südlichen Nachbarländern führten zu einer regionalen Differenzierung in Form der Östlichen Partnerschaft (ÖP) und der Union für den Mittelmeerraum (UfM), wobei die UfM auch Staaten mit Beitrittsperspektive wie die Türkei und die Adria-Anrainer des westlichen Balkans umfasst. Seit dem Arabischen Frühling und den ihm folgenden Verwerfungen muss die UfM jedoch als gescheitert angesehen werden. Die Bilanz der ÖP ist etwas positiver, wenngleich auch hier Probleme in mehreren Ländern bestehen. Zunächst lässt sich zwischen den Staaten unterscheiden, welche ihre Zukunft in der EU oder einer sehr engen Anbindung an diese sehen (Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine) und den Staaten, denen es eher um partielle wirtschaftliche Vorteile geht (Belarus, Armenien, Aserbaidschan). Entspr. unterschiedlich gestalten sich auch die konkreten vertraglichen Beziehungen, die bis zum Abschluss sog.er vertiefter und umfassender Freihandelsabkommen (Deep and Comprehensive Free Trade Agreements) reichen. Überschattet wurde die ÖP aber zunehmend von der Ukraine-Krise und den Auseinandersetzungen zwischen der EU und Russland, welche auch ein Grund dafür sind, dass die Reformen in mehreren ÖP-Ländern stagnieren. Die Bilanz der Europäischen N. fällt eher negativ aus: Statt eines „ring of friends“ (Prodi 2002) lässt sich vielmehr von „Europe’s ring of fire“ (The Economist 2014) sprechen.

3. Reformen

Neben unterschiedlichen Interessen der EU-Mitgliedstaaten haben externe Ereignisse Anstoß zur Reform der Europäischen N. 2011 gegeben. So legte die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton gemeinsam mit der Kommission „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel“ (KOM 2011a) vor. Insgesamt stellt der neue Ansatz keine „Generalrevision“, sondern eher ein Wiederaufleben der urspr.en Konzepte dar. Nach dem Grundansatz, nicht nur wirtschaftliche Integration, sondern auch politische Reformen zu fördern, folgt der Ansatz der Logik der Konditionalität. D. h. Angebote in Handels- und Visafragen werden an Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat), Demokratisierung und guter Regierungsführung gebunden. Die griffige Formel hierfür lautet: „Mehr für mehr“. Hauptangebot sind die sog.en drei M: Marktzugang, monetäre Hilfe und Mobilität.

Neben der länderspezifischen Differenzierung und positiver Konditionalität strebt die EU im Kontext des Arabischen Frühlings an, die südlichen Nachbarländer auf ihrem Weg zu einer „vertieften und tragfähigen Demokratie“ (KOM 2011a: 4) zu unterstützen, was sich auch in der neuen „Partnerschaft mit dem südlichen Mittelmeerraum für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand“ (KOM 2011b) sowie einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft zeigt. Im Jahr 2015 erfolgte eine erneute Überprüfung der N. Aus dem gemeinsamen Dokument der Kommission und der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich eine weitere Verschiebung hin zu mehr Differenzierung, Fokussierung und Flexibilität ablesen: „Differenzierung und mehr gemeinsame Verantwortung werden die wesentlichen Merkmale der ENP sein. Damit wird einerseits der Erkenntnis, dass nicht alle Partner EU-Regeln und -Standards übernehmen wollen, und andererseits den Wünschen der einzelnen Länder im Hinblick auf den Charakter und die Ausrichtung ihrer Partnerschaften mit der EU Rechnung getragen“ (JOIN 2015: 2).

Die drei „Ms“ bleiben Hauptangebot, jedoch steht das Prinzip „Mehr für mehr“ nicht mehr im Mittelpunkt, sondern die Angebote werden pragmatischer an den Zielen der Partnerländer und der EU ausgerichtet. So sollen auch weniger weitreichende Handelsabkommen geschlossen werden, etwa mit Armenien, das sich für die Mitgliedschaft in der EWU, einem alternativen Zusammenschluss unter russischer Führung, entschieden hat. Während die EU zwar weiterhin für ihre Werte eintritt, wird gerade im Vergleich zur Reform 2011 deutlich, dass die Demokratisierungsagenda in den Hintergrund rückt. Oberstes Ziel der Europäischen N. ist die Stabilisierung der Nachbarschaft, insb. durch Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Zudem soll die Stabilisierung über eine aufgewertete Kooperation in Sicherheitsfragen erreicht werden, wozu auch die Nachbarn der Nachbarn einbezogen werden sollen. Mit diesen „Erweiterungen“ wird die N. als ein Instrument zur Förderung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Resilienz i. S. d. übergeordneten Globalen Strategie der EU (Europäischer Auswärtiger Dienst 2016) gefasst.

4. Wissenschaftliche Betrachtung

In der wissenschaftlichen Debatte wird die Europäische N. häufig aus einer Europäisierungs- und External-Governance-Perspektive diskutiert, wobei v. a. die Möglichkeiten und Grenzen der transformativen Kraft der EU ohne ihre golden membership carrot im Zentrum der Analysen stehen. Prinzipiell besteht dabei Konsens, dass die EU zwar weniger Einfluss hat als im Rahmen der Erweiterungspolitik, jedoch über verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten verfügt, die sich wiederum nach Politikfeldern und Ländern unterscheiden. Der von der EU angestrebte Norm- und Regelexport wird dabei meist nicht an sich problematisiert. Kritische Ansätze, z. B. aus den Postcolonial-Studies (Postkolonialismus), betonen hingegen die asymmetrischen Machtverhältnisse, die den Europäischen N.-Ländern (bzw. früheren Kolonien) keine Wahl ließen, als die von der EU definierten Normen zu akzeptieren. In der jüngeren Literatur werden darüber hinaus auch die Strukturen und Akteure in den Europäischen N.-Ländern stärker berücksichtigt. Insgesamt wird so die „top-down“-Perspektive der Governance- und Europäisierungsforschung, nach der die EU einseitig als „rule giver“ agiert, ergänzt, sodass die interdependenten Prozesse der Norm- und Regeldiffusion stärker in den Fokus rücken.

Ein intensiv diskutiertes Problem liegt zudem in dem sog.en Demokratie-Stabilitäts-Dilemma, d. h. dem Zielkonflikt von Stabilisierung und Demokratieförderung, der sich etwa im Kontext der sog.en Flüchtlingskrise zeigt, welche die EU wieder zur Kooperation mit autoritären Regimen bewegt hat. Ein Großteil der Autoren sieht dabei die EU als einen Akteur, der letztlich das Interesse an Stabilität bzw. Sicherheit gegenüber normativen Zielen der Demokratisierung privilegiert. Dieser Zielkonflikt verweist auch auf die kontrovers diskutierte Frage, ob die EU primär normorientiert oder interessengeleitet handelt. Im Kontext der Ukraine-Krise verbindet sich diese Diskussion dabei auch mit der Frage der Verantwortungszuschreibung für die Eskalation. So sieht John Mearsheimer aus (neo-)realistischer Perspektive die ÖP als Ausdehnung der westlichen „Einflusssphäre“ in den post-sowjetischen Raum, womit die EU bzw. der Westen die Ukraine-Krise provoziert habe. Aus konstruktivistischer Sicht wird demgegenüber z. B. von Daniel Göler argumentiert, dass die Entwicklung in der Ukraine primär das Resultat einer von EU-Seite kaum steuerbaren Normdiffusion war.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die in der Politik kontrovers diskutierte Frage nach der Vereinbarkeit von Stabilität und Sicherheit in der Nachbarschaft mit den normativen Zielsetzungen der Demokratisierung sowie den jeweiligen Vorstellungen der Partnerländer auch aus wissenschaftlicher Perspektive zu den entscheidenden Zukunftsfragen der Europäischen N. gehört.