Migration

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  1. I. Migration in Politik und Gesellschaft
  2. II. Rechtswissenschaft
  3. III. Wirtschaftliche Perspektiven
  4. IV. Sozialethische Implikationen
  5. V. Migration als Herausforderung interkultureller Bildung

I. Migration in Politik und Gesellschaft

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Der Begriff M. (lateinisch migratio: Wanderung, Auszug) bezieht sich auf die Bewegung von Menschen über weitere Strecken. Unter internationaler M. (bzw. Ein- und Auswanderung) wird die längerfristige Veränderung des Hauptaufenthaltsortes (länger als ein Jahr) über die Grenzen eines Nationalstaates hinweg verstanden. Dieser Definition der UN folgend gab es im Jahre 2015 auf der Erde etwa 240 Mio. internationale Migranten und Migrantinnen (UN 2016: 1). Das Wanderungsvolumen innerhalb der Nationalstaaten, also Binnen-M. oder interne M., wurde im gleichen Zeitraum auf etwa 740 Mio. Menschen geschätzt (ILO 2015: 17).

1. Migration und Nationalstaaten seit dem 19. Jh.

Nach einem der Begründer der M.s-Forschung, Ernest Georg Ravenstein, können repressive Gesetze, unattraktives Klima, unangenehme soziale Umgebung, aber auch Sklavenhandel und Verschleppung Menschen zur M. bringen. Die meisten wandern jedoch aus dem Wunsch, ihre materiellen Lebensumstände zu verbessern. Er berechnete den Anteil von international Migrierten in den Nationalstaaten anhand der Anzahl der Menschen, die nicht in dem jeweiligen Land geboren waren. Wo dies nicht möglich war bezog er sich auf die Staatsangehörigkeit; beide Berechnungsformen sind bis heute üblich.

1.1 Weltweite internationale Migration

Grundlage für die Entstehung der heutigen internationalen M.s-Muster ist die in Europa beginnende weltweite Herausbildung von Nationalstaaten im 19. Jh. Sie ist gekennzeichnet durch Kriege und militärische Auseinandersetzungen und die fortschreitende Kolonialisierung (Kolonialismus) der Erde. Mit der Satzung nationalstaatlichen Rechts, z. B. in der amerikanischen Verfassung (1787) oder den Verfassungen der Französischen Revolution (1789), wurden nach innen Mitgliedschaft in einem Nationalstaat und Bürgerrechte (Grundrechte, Menschenrechte) verbindlich definiert. Bürger waren zunächst vorwiegend als ökonomisch eigenständig angesehene („weiße“) Männer. Nach außen definierte der Nationalstaat durch die Entscheidungsgewalt darüber, wer die Grenze autorisiert überschreiten darf, internationale M. und damit die Ein- oder Auswanderungschancen. Es entstanden die Ideen des Staatsvolks und der Nation als historische bzw. politische Schicksalsgemeinschaften sowie der moderne Rassismus als Ideologie der Über- und Unterordnung von Menschen, insb. im kolonialen Kontext.

Neben den durchgreifenden politischen Umwälzungen begann im 19. Jh. auch die Industrielle Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution) die Lebens- und Wirtschaftsweisen nachhaltig zu beeinflussen. Es etablierten sich zunehmend zwei Formen der M., zum einen Wanderungen über weite Strecken, teilweise verbunden mit den bestehenden Kolonialsystemen, zum anderen Wanderungen über kurze Strecken in die Städte bzw. zu den Fabriken. Wichtige Langstreckenwanderungssysteme waren das transatlantische sowie das südostasiatische und das zentralasiatisch-japanische M.s-System. Zwischen 1846 und 1940 wanderten 55 bis 58 Mio. Menschen im transatlantischen M.s-System aus Europa nach Amerika, ca. 2,5 Mio. aus Indien, China, Japan und Afrika. Bis in die ersten Dekaden des 20. Jh. hatten die drei weltweit wichtigsten M.s-Systeme ein parallel zur Weltbevölkerung ansteigendes Volumen. Danach sank das relative M.s-Volumen im transatlantischen und südostasiatischen M.s-System ab. Während sich Teile der großen Arbeitsmigrationssysteme abschwächten, nahmen Fluchtbewegungen im 20. Jh. zu. Neben Kriegen vollzogen Nationalstaaten auch Genozide und ethnische Säuberungen, die Fluchtbewegungen auslösten: ein Prozess, der in Europa im und nach dem Zweiten Weltkrieg einen seiner Höhepunkte fand. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren mit der Dekolonialisierung ebenfalls starke Wanderungsbewegungen verbunden. So kam es z. B. zu „Rückwanderungen“ von Menschen, die in den Kolonien negativ mit der Kolonialmacht in Verbindung gebracht wurden. Gleichzeitig bildete sich das heutige System der fast vollständigen segmentierten Aufteilung der Welt in Nationalstaaten.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute stieg die Anzahl derer, die nicht in dem Land leben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, von 92 Mio. im Jahre 1950 auf gut 240 Mio. im Jahre 2015. Dieser Anstieg korrespondierte mit der wachsenden Weltbevölkerung. So lag der Anteil von Migrierten an der Weltbevölkerung seit 1910 relativ konstant bei knapp über 2 %. Seit 1990 erhöhte er sich überproportional auf etwa 3 % 2015. Mit Beginn des 21. Jh. zeigt sich eine Stabilisierung weltweiter Wanderungen, verbunden mit immer wieder kurzfristig anwachsenden Fluchtbewegungen. In Asien und Europa lebten 2015 jeweils ca. 75 Mio. Migrierte, in den Amerikas 65 Mio. und in Afrika und Ozeanien zusammen knapp 30 Mio. Diese M.s-Muster gehen einher mit der zunehmenden Verdichtung von Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie der Verbreitung der Vorstellung der Welt als einer Einheit.

1.2 Ein- und Auswanderung von und nach Deutschland

Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 formierte sich ein deutscher Nationalstaat, der in seiner wechselhaften und durch starke territoriale und politische Veränderungen geprägten Geschichte ein Einwanderungs-, Auswanderungs- und Durchwanderungsland war und ist. Die Reichsgründung führte zu einer Erhöhung der M.s-Chancen, denn durch den Wegfall „interner“ Grenzregulierung, z. B. durch den norddeutschen Zollverein, kam es vermehrt zu Wanderungen: So war ein Großteil der „Einwanderung“ polnisch sprechender Bevölkerung in das Ruhrgebiet eine Binnenwanderung aus den Provinzen Ostpreußens. Der zunehmende Arbeitskräftemangel, nicht zuletzt in Preußen, ließ die Zahl ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland auf etwa 1,2 Mio. vor dem Ersten Weltkrieg anwachsen. Die Einbürgerung der Eingewanderten geschah überwiegend im Ermessen der Teilstaaten des Reichs; daneben kam es insb. in Preußen auch immer wieder zu Ausweisungen, manchmal auch ganzer Bevölkerungsgruppen. Hauptziel von Auswanderung waren die USA. Von der Reichsgründung bis 1914 wanderten über 2,6 Mio. nach Nordamerika und etwa 110 000 nach Lateinamerika aus.

Mit dem Ersten Weltkrieg veränderten sich die M.s-Muster: Während viele ausländische Arbeitskräfte das Land verließen, kam es zur Einrichtung verschiedener Fremd- und Zwangsarbeiterregime, z. B. die Deportation von ca. 120 000 Belgiern und Nordfranzosen ins Deutsche Reich. Die Auswanderung in der Weimarer Republik ging weiterhin zum Großteil in die beiden Amerikas, mit gut 430 000 in die USA und knapp 130 000 nach Lateinamerika zwischen 1919 und 1933. Damit nahm die relative Bedeutung von Lateinamerika als Zielregion zu. Die Bedeutung von Arbeitskräften aus dem Ausland nahm dagegen, u. a. wegen der Verschärfung der Regelungen zum „Inländervorrang“, ständig ab: Die Einwanderungsgruppen waren primär „Grenzlandvertriebene“ aus den gemäß des Versailler Vertrags abgetretenen Gebieten und „Volksdeutsche“, also Menschen aus Ost- und Südosteuropa, die ihre Herkunft auf eine der zahlreichen und sehr heterogenen Ostwanderungsbewegungen deutschsprachiger Bevölkerung seit dem Mittelalter bezogen. Ein Teil dieser „Volksdeutschen“ folgte der schon im 19. Jh. etablierten Tendenz, das Deutsche Reich als Durchgangsstation für eine Weiterwanderung in die Amerikas zu nutzen.

Im nationalsozialistischen Deutschland kam es zu unvergleichlich gewalttätigen Massenmorden, bei denen unter Bezugnahme auf rassistische Ideologien ca. 6 Mio. Juden und andere Bevölkerungsgruppen, wie Sinti und Roma (ca. 25 000), getötet wurden. Zu dem brutal implementierten Zwangsarbeiterregime dieser Zeit liegen nur zu Deutschland selbst belastbare Zahlen vor: Von den 13,5 Mio. die, meist verschleppt, im Reich zur Arbeit gezwungen wurden, überlebten ca. 2,7 Mio.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen bis Mitte der 1950er Jahre ca. 3,3 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene (Flucht und Vertreibung) in die DDR und 8 Mio. in die BRD, bis 1961 zusätzlich 2,7 Mio. Zuwanderer aus der DDR in die BRD. Trotz anfänglicher Konflikte mit der ansässigen Bevölkerung normalisierte sich insb. durch die gezielte Eingliederungspolitik der Bundesregierung – etwa die sofortige Zuschreibung der deutschen Staatsangehörigkeit und das Lastenausgleichsgesetz (1952) – schrittweise das Zusammenleben. Mit dem ersten Anwerbevertrag mit Italien begann 1953 die Phase der Gastarbeiterbeschäftigung in der BRD. In der Zeit von 1961 bis zum sog.en Anwerbestopp 1973 stieg der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung von 1,2 % auf 6,4 %. Das Vertragsarbeitersystem der DDR sollte ebenso wie das Gastarbeitersystem der BRD den Arbeitskräftemangel verringern, war aber mit knapp 0,01 % Vertragsarbeitern, die 1989 in der DDR wohnten, deutlich kleiner.

Einwanderungsgruppen, die nach 1990 in die „vereinigte“ BRD einwanderten, waren Spätaussiedler, die insb. aus der vormaligen UdSSR kamen, sowie Asylsuchende und Flüchtlinge. Anfang der 1990er und 2015 stiegen die letzten beiden Einwandungersgruppen jeweils kurzzeitig deutlich an. Wichtiger noch ist die fortschreitende Einbindung Deutschlands in die Binnen-M. der EU: Von den knapp 11 Mio. Menschen (gut 13 % der Gesamtbevölkerung) nicht deutscher Staatsangehörigkeit kamen 2015 etwa 4,4 Mio. aus den Mitgliedsstaaten.

2. Migration und nationalstaatlich verfasste Gesellschaften

Das Spannungsverhältnis zwischen M. und Nationalstaat wird in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund der Zunahme der Mobilität von Menschen, Dingen und Ideen immer deutlicher. Dies prägt die Mitgliedschaftsstrukturen des Nationalstaates. Im engeren Sinn wird die Mitgliedschaft in demokratischen Nationalstaaten über die Staatsangehörigkeit geregelt. Die jeweilige Staatsangehörigkeit bestimmt u. a., in welchem Land eine Person unbegrenztes Aufenthaltsrecht hat und wo sie ihr aktives und passives Wahlrecht ausüben darf. Der weitere Begriff ist der der Staatsbürgerschaft. Er umfasst die Regulation ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Handlungsmöglichkeiten und Praxen der Bevölkerung in einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft.

2.1 Arbeitsmarkt und Haushaltsführungsstrategien

Die Position am Arbeitsmarkt ist für die ökonomische Staatsbürgerschaft bes. wichtig. In den letzten Jahrzehnten waren Einwandernde in Zielländern wie Deutschland oder den USA im Durchschnitt in deutlich schlechteren Positionen tätig als die einheimischen Erwerbstätigen. In Gastarbeitersystemen war dies oft durch die Anwerbepraktiken bestimmt. Häufig kommt es aber auch zum Verlust von (anerkannten) Fähigkeiten, weil etwa Berufsabschlüsse im M.s-Prozess entwertet werden. Die Stabilität der Unterschichtung hängt u. a. damit zusammen, dass schlechtere Positionen durch wenig Karrierechancen und stark schwankende Nachfrage charakterisiert sind. Eine Möglichkeit, dies zu überwinden, ist die Bildung von ethnischen Netzwerken zur Rekrutierung, oft innerhalb eines Berufssektors.

M. – erzwungen oder freiwillig – erfüllt in den Zielländern oft den Bedarf nach zusätzlichen Arbeitskräften, sowohl für gering Ausgebildete als auch für Hochgebildete. Die gute ökonomische Lage im Zielland gilt als sog.er pull-Faktor, der Menschen anzieht. Dies reicht jedoch nicht aus um M. zu erklären. Die Entscheidung zu wandern folgt meist ökonomischen Strategien eines Haushalts oder einer Familie, beruhend auf den Informationen aus den umgebenden sozialen Netzwerken. Sie stabilisieren auch die hohen Geldströme der Ausgewanderten, die in den Herkunftsländern oft ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor sind. In einigen dieser Netzwerke ist eine Feminisierung der M. zu beobachten: Frauen nehmen dabei häufig unterbezahlte Positionen im Dienstleistungsbereich der ökonomischen Zentren sowie im Bereich der Industriearbeit ein.

2.2 Transnationale Netzwerke und Städte

Transnationale Netzwerke stellen eine permanente Verbindung zwischen Herkunfts- und Zielland her und sind ein wichtiger Bestandteil der Struktur sozialer Staatsbürgerschaft im Nationalstaat. Schon Anfang des 20. Jh. zeigten Studien zur M. in den USA, dass Ausgewanderte ihre Verbindungen mit dem Herkunftsland aufrechterhalten. Dies auch, weil – zumindest zu Beginn des M.s-Prozesses – die Option der Rückwanderung wichtig ist. In der aktuellen M.s-Forschung weisen gerade Studien in der Perspektive des Transnationalismus darauf hin, dass Mitgliedschaften in M.s-Netzwerken oft nicht deckungsgleich mit nationalstaatlichen Grenzen sind und somit Mehrfachmitgliedschaften stabilisieren.

M. und städtische Strukturen in immer stärker miteinander verknüpften Großstädten, sog.e Global Cities, sind eigenständig in internationale Strukturen eingebunden. Die Bildung ethnischer Enklaven in der Stadt erhöht die Sichtbarkeit von Einwanderungsgruppen. Studien zeigen, dass diese Enklaven für Einwandernde oft eine Art Durchgangsstation darstellen, aus der sie meist nach erfolgreicher Positionierung am Arbeitsmarkt nach ein oder zwei Generationen wieder wegziehen. In einigen Fällen können sich jedoch auch sehr stabile Ghettos bilden, die sich über mehrere Generationen reproduzieren. Diese Dynamik konnte z. B. für afroamerikanische Ghettos in den USA nachgewiesen werden. In Europa existieren diese abgeschlossenen Strukturen seltener.

2.3 Lebensweisen und gesellschaftliche Gruppen

Nationalstaatlich verfasste Gesellschaften sind geprägt durch die Heterogenität von Lebensweisen und Vorstellungen darüber, wie ein gutes Leben auszusehen hat. Migrierte tragen dazu bei, diese Heterogenität zu erhöhen. Sie treten in den politischen Aushandlungsprozess darüber ein, was für alle im Leben in gleicher Weise notwendige Verhaltensvorgaben sind, und was je nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden kann. Zur Strukturierung kultureller Staatsbürgerschaft werden in gesellschaftlichen Diskursen oft Gruppenbezeichnungen verwendet, die auf Wanderungsprozesse verweisen, im Deutschen z. B.: Migranten, Flüchtlinge, Ausländer, Türken, Syrer oder Menschen mit M.s-Hintergrund. Dem gegenüber stehen Verweise auf Gruppen, die historisch gewachsen als quasi konstitutiv für die autochthone Bevölkerung angesehen werden: Deutsche, Bayern, Friesen oder Sachsen. Sowohl Nationalstaaten als auch Einwanderungsgruppen selbst neigen dazu, Mitgliedschaften über ethnische Kriterien zu bestimmen, was in manchen Fällen zu Konfliktverschärfungen führen kann.

Gruppenbezeichnungen in gesellschaftlichen Diskursen dienen im doppelten Sinne zur Identifikation, zum einen ermöglichen sie es, eine Gruppe von Menschen anzusprechen, im Diskurs zu identifizieren, zum anderen identifizieren sich Menschen mit einer solchen Gruppe. Die Bevölkerung von Nationalstaaten ist strukturell in viele unterschiedliche Gruppen eingebunden. Diese Muster multiplizieren gleichsam die Zusammenhänge in denen unterschiedliche Gruppenidentifikationen aktualisiert werden können. So entstehen strukturelle Mehrfachmitgliedschaften, die bei Migrierten und „Einheimischen“ die Chance der bes. ausgeprägten Proklamation von Werten und Glaubensvorstellungen erhöhen, die diese multiplen Mitgliedschaften aus subjektiver Sicht homogenisieren und vereinfachen, wie etwa Nationalismus, Ethnozentrismus, Sexismus und Sektierertum.

2.4 Politische Steuerung

Eine zentrale Aufgabe politischer Staatsbürgerschaft zu Beginn des 21. Jh. ist es, das Spannungsverhältnis zwischen Wanderungsbewegungen und Nationalstaat zu regulieren. Im System der Nationalstaaten haben sich Strategien der Mitgliedschaftssteuerung entwickelt, die sich unter drei Begriffen zusammenfassen lassen: Ökonomie, Menschenrechte und Sicherheit. Das ökonomische Governance-Regime ist gekennzeichnet durch den Rückgang ökonomischer Steuerungsversuche nach einem keynesianischen Modell (Keynesianismus) nationalstaatlicher Wohlstandsstabilisierung und die Zunahme von, manchmal auch neo-liberal (Neoliberalismus) genannter, bes. den Markt in den Vordergrund stellenden Steuerungsformen nach ökonomischen Prinzipien, wie sie etwa vom IMF vertreten werden. Einer der Vorreiter in der Anwendung von Marktprinzipien auf die Einwanderungspolitik war Kanada, das ganz gezielt seine Einwanderungspolitik an der Nützlichkeit jedes Einwandernden für den inländischen Arbeitsmarkt orientiert hat. Die in diesem Kontext ebenfalls stattfindende „Flexibilisierung“ der Arbeitsverhältnisse führt auch zur Zunahme „flexibler“ Formen der Beschäftigung von Wandernden, etwa als temporär oder unautorisiert Migrierte in bes.n Segmenten des Arbeitsmarkts.

Das menschenrechtliche Regime ist historisch mit der Einrichtung des UNHCR (Vereinte Nationen) 1950 und der Einführung der „United Nations Convention Relating to the Status of Refugees“ 1951 verbunden. Dieses Regime entwickelte sich urspr. unter dem Eindruck der Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen ist es zu einem von vielen Staaten ratifizierten komplexen Regelungssystem geworden, das persönlich verfolgten und bedrohten Menschen etwa im Falle von Kriegen, ethnischen Säuberungen oder Naturkatastrophen helfen soll. Die aus nationalstaatlicher Sicht hohen Schwankungen in diesen Wanderungsformen, die periodisch den politischen Problemdruck erhöhen, führen dazu, dass Staaten dazu neigen, sich den eingegangenen starken Normbindungen zu entziehen und Flüchtlinge nicht mehr aufzunehmen.

Die Entstehung des sicherheitsorientierten Steuerungsregimes wird gemeinhin gegen Ende der 1980er mit dem Auseinanderbrechen der UdSSR und den zur selben Zeit zunehmenden Flüchtlingsströmen datiert. Einen weiteren Schub bekam diese Versicherheitlichung mit dem Terroranschlag am 11.9.2001 in den USA. Als Sicherheitsrisiko werden dabei weniger die flucht- oder migrationsauslösenden Konflikte gesehen, sondern die jeweiligen Migrierenden selbst. Dies führt zu einer höheren Kontrolle von Migrierenden an nationalstaatlichen Grenzen bzw. zu deren Zurückweisung.

Das Spannungsverhältnis zwischen internationaler M. und Nationalstaaten wird politisch über die Implementierung in sich gegenläufiger Steuerungsverfahren (Steuerung) der Grenzöffnung und -schließung bearbeitet. Der an die Gründungsidee des Nationalstaates gekoppelte Vorrang der Interessen des „eigenen Volkes“ wird dabei durch die zunehmende Inkongruenz von Machtzentren, Bevölkerungen und territorialen Grenzen kaum noch durchsetzbar. Die Konflikte, die auf allen Ebenen des politischen Systems in Bezug auf M. ausgetragen werden, sind also keine Krisenerscheinungen, sondern Strukturmerkmal einer sich wandelnden Welt von nationalstaatlich verfassten Gesellschaften.

II. Rechtswissenschaft

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1. Migration als (Rechts-)Begriff

Das heutige M.s-Recht ist aus dem Ausländerrecht hervorgegangen, welches weiterhin ein wichtiges Teilgebiet darstellt und ordnungsrechtlichen Ursprungs ist: Sein Gegenstand ist die „Regelung der Rechtsstellung von Ausländern“ (Hailbronner 2013: 13), mithin in erster Linie von Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen. Daneben steht das Asyl- und Flüchtlingsrecht (Asyl), welches den Umgang mit erzwungener M. erfasst. Unter Migranten fasst man üblicherweise in Recht und Politik gleichwohl meist nur freiwillige Ein- und Zuwanderer, weswegen das Gesamtrechtsgebiet als M.s- und Flüchtlingsrecht bezeichnet werden kann. Das AufenthG, welches 2005 durch das Zuwanderungsgesetz eingeführt wurde und das alte Ausländergesetz ablöste, nennt in § 1 Abs. 1 S. 1 die „Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern“ als seinen Zweck und in S. 2 die „Zuwanderung“ als seinen Regelungsgegenstand. Die politische Debatte betont inzwischen den Begriff Einwanderung, verbunden mit der Frage der Umwandlung des Aufenthaltsgesetzes in ein Einwanderungsgesetz. In der Sache besteht zwischen Zu- und Einwanderung kein Unterschied. Nach § 1 Abs. 1 S. 3 AufenthG ist auch die „Erfüllung der humanitären Verpflichtungen“ Deutschlands Gesetzeszweck. Entspr. werden die aufenthaltsrechtlichen Folgen der asylrechtlichen Anerkennung, welche im Asylgesetz geregelt ist und durch das BAMF vorgenommen wird, im AufenthG (§ 25 Abs. 1–3) normiert; für die Erteilung der aufenthaltsrechtlichen Titel sind die Ausländerbehörden zuständig. In dieser gesetzessystematischen und organisatorischen Unterscheidung wird auch die Andersartigkeit von „normaler“, v. a. erwerbs- und ausbildungsbezogener M. und Flucht-M. reflektiert, da im letzten Fall dem aufenthaltsrechtlichen noch ein bes.s Verwaltungsverfahren, das Asylverfahren, vorgeschaltet ist. M.s-Vorgänge nach Deutschland sind grundsätzlich erlaubnispflichtig (§ 4 Abs. 1 AufenthG). Gesetzessystematisch außerhalb des deutschen Aufenthaltsrechts steht die M. von Bürgern der EU. Diese unterfallen dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime. Der Begriff der Freizügigkeit innerhalb eines bestimmten, hier übernationalen Gebiets, beschreibt somit rechtlich die Möglichkeit einer erlaubnisfreien (Binnen-)Wanderung und ist – mit einigen Einschränkungen – der nationalstaatlichen Niederlassungsfreiheit kraft Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 11 GG) nachgebildet.

2. Arten

Das Recht klassifiziert M.s-Vorgänge nach dem M.s-Zweck. Nach dem AufenthG können längerfristige Aufenthalte (länger als 90 Tage je 180-Tages-Zeitraum) nur zu bestimmten Aufenthaltszwecken erlaubt werden. Die Rechtsgrundlagen für die einschlägigen Aufenthaltstitel sind in vier Gesetzesabschnitten (Kapitel 2, Abschnitte 4–7) gesammelt, welche nach unterschiedlichen Zwecken und Gründen (Ausbildungs- und Erwerbszwecke, humanitäre bzw. politische Gründe sowie familiäre Gründe) differenzieren. Kurzfristige Aufenthalte, die mit einem sog.en Schengen-Visum oder bei Angehörigen bestimmter Staaten (sog.er Positivstaater gemäß Anhang II der EG-Visa-Verordnung) visumfrei möglich und nicht an bestimmte Zwecke gebunden sind, unterfallen ebenfalls dem M.s-Recht (vgl. § 6 Abs. 1 AufenthG), stellen aber keine eigentlichen M.s-Vorgänge dar (z. B. touristische Besuche).

3. Migration und Recht

3.1 Ordnungs- und Steuerungsanspruch des Rechts

Für den Rechtsstaat ist M. ein zu ordnendes und zu steuerndes soziales Phänomen (Steuerung). Der Steuerungsanspruch des Rechts, der demokratisch rückgekoppelt die im politischen Prozess definierten Interessen der Allgemeinheit bzgl. des „Ob“, der Art und der Quantität von Zuwanderung widerspiegelt, kann im Einzelfall mit rechtlich geschützten Individualinteressen kollidieren. Diese können völkerrechtlich (menschenrechtlich) oder in der Verfassungsordnung des betreffenden Staates verwurzelt sein und wirken im Hinblick auf die Definition öffentlicher Steuerungsinteressen (auch) als „Steuerungsbegrenzungsrechte“ (Bast 2011: 108). Der Ordnungsanspruch des Rechts kommt etwa in den Tatbeständen zur Ausweisung zum Ausdruck. Auch hier können grundrechtlich begründete Individualrechte (Bleibeinteressen) als „Gegenrechte“ wirksam werden, die dann dem Steuerungsanspruch des M.s-Rechts entgegenlaufen. Das Ausweisungssystem der §§ 53 ff. AufenthG, das zum 1.1.2016 in Kraft getreten ist und eine umfassende Einzelfallbeurteilung bei voller gerichtlicher Kontrolle des Abwägungsvorgangs vorsieht, ist die direkte Reaktion des Gesetzgebers auf die Rechtsprechung insb. des EGMR im Hinblick auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), welche die frühere gesetzgeberische Unterscheidung zwischen Ist-, Soll- und Kann-Ausweisung mit ihrer regelhaften Anknüpfung an bestimmte Tatbestände etwa im Hinblick auf Straftatbegehungen aus individualrechtlicher Perspektive aufgeweicht hat. Die hier und in anderen Bereichen des M.s-Rechts zu beobachtende „Stärkung individueller Aufenthaltsrechte“ (Langenfeld 2013: 554) in Gestalt grund- und menschenrechtlicher Überformung des einfachen Gesetzesrechts kollidiert dabei zunehmend mit dem – demokratisch legitimierten – Steuerungsanspruch des Rechts, das M.s-Geschehen nach übergeordneten Gesichtspunkten, etwa dem Interesse an Fachkräften, zu ordnen. Ein weiteres Beispiel bietet die Regelung des § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG, die im Jahr 2007 mit dem Ziel der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen eingeführt wurde und beim Ehegattennachzug zu einem in Deutschland lebenden Ausländer das Vorliegen einfacher Deutschkenntnisse des Ehegatten noch vor Einreise verlangt. Diese Regelung lässt sich als Ausdruck eines gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums in Hinblick auf ihre integrationsfördernde Wirkung rechtfertigen (Langenfeld 2013: 557). Der EuGH hat diese generelle und typisierende Regelung gleichwohl für unionsrechtswidrig befunden und somit ein (weiteres) „Typisierungsverbot aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit“ (Lehner 2016: 110; Herv. i. O.) postuliert. Der Gesetzgeber hat hierauf wiederum mit der Einfügung einer Härtefallklausel (§ 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 6 AufenthG) reagiert und damit den gerichtlich eingeforderten „Fokus auf den Einzelfall“ (Thym 2014: 305) in eine tatbestandliche Form gebracht.

3.2 Steuerungsinstrumente und -modelle

Eine Rechtsordnung kann sich mit rein ordnungsrechtlichen Instrumentarien (z. B. Erlaubnispflicht, behördliches Ermessen, Grenzkontrolle) eher der M.s-Abwehr verschreiben oder (zusätzlich) über rechtliche Anreizstrukturen proaktiv M. fördern und wiederum zugl. steuern (z. B. Zuzugsansprüche bei Vorliegen eines Arbeitsplatzangebots oberhalb einer Gehaltsschwelle und hinreichender Qualifikation). Bei der Erwerbs-M. lassen sich nachfrage- und angebotsorientierte Steuerungsmodelle unterscheiden, erstere vermitteln (qualifizierten) Ausländern nur bei Vorliegen eines konkreten Arbeitsplatzangebots einen Zuwanderungsanspruch, letztere knüpfen das Zuzugsrecht allein an das vorhandene Humankapital (Qualifikation, Sprachkenntnisse, Alter) und operieren zumeist über Punktesysteme. Die §§ 18 ff. AufenthG sind grundsätzlich nachfrageorientiert strukturiert. Mit § 18c AufenthG wurde 2012 indes ein angebotsorientierter (Aufenthaltserlaubnis für qualifizierte Fachkräfte zur Arbeitsplatzsuche), allerdings restriktiver (Maximalaufenthalt von einem halben Jahr, keine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit in der Suchphase) Zuzugstatbestand geschaffen. Diese Regelung bildet zusammen mit der auf „inländische Ausländer“ (Langenfeld/Waibel 2013: 179 im Anschluss an Strunden/Schubert 2012: 272) zugeschnittenen Suchphasenregelung des § 16 Abs. 4 AufenthG für Absolventen deutscher Hochschulen und dem § 17a Abs. 4 AufenthG, wonach Personen, die zum Zweck der Nachqualifikation eingereist sind, im Fall erfolgreicher Qualifizierung ebenfalls ein befristeter Aufenthalt zur Arbeitsplatzsuche gewährt wird, „ein konsistentes ‚Such-Tryptichon‘“ im deutschen Aufenthaltsrecht, welches damit einer „systematischen Öffnung angebotsorientierter Zuzugsverfahren für Fachkräfte“ unterzogen worden ist (Langenfeld/Kolb 2015: 84). Im internationalen Vergleich lässt sich eine Zunahme von „Hybridverfahren“ (Kombination unterschiedlicher Steuerungsinstrumente) beobachten. Ein bedeutsames Steuerungsinstrument, v. a. im Hinblick auf die Aufenthaltsverfestigung und die damit verbundene Erteilung eines unbefristeten Aufenthaltstitels (Niederlassungserlaubnis, vgl. § 9 AufenthG), liegt in der Statuierung von Integrationsanforderungen (z. B. Arbeitsmarktintegration, Sprachkenntnisse).

3.3 Rechtliche Reaktion auf dauerhafte Migration

Auf dauerhafte M. kann das Recht zudem über die Ermöglichung des Staatsangehörigkeitserwerbs reagieren. Neben der Einbürgerung (§§ 8 ff. StAG) spielt hierbei der ius-soli-Erwerb (§ 4 Abs. 3 StAG) eine entscheidende Rolle, weil mit diesem die zweite Einwanderergeneration erfasst werden kann mit der Folge, dass durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Aufnahmestaats der M.s-Vorgang auch rechtlich zum Abschluss kommt, da die Betroffenen als „vollwertige Bürger“ (Thym 2017: 188) nunmehr nicht mehr dem Aufenthaltsrecht unterliegen. Neben der Einwanderung kann auch die Auswanderung Regelungsgegenstand sein. Die Förderung der Emigration eigener Staatsbürger hat in Deutschland im 19. Jh. eine Rolle gespielt. Das heutige Recht reflektiert die migrationsbedingte Loslösung vom Heimatstaatsverband v. a. durch die grundsätzliche Begrenzung des Staatsangehörigkeitserwerbs kraft Geburt auf die zweite Emigrantengeneration (sog.er Generationenschnitt, § 4 Abs. 4 StAG). Schließlich tritt in einem zunehmenden Maß neben das eigentliche M.s-Recht das „Migrationsfolgenrecht“ (Thym 2017: 169), welches Fragen der Partizipation und Integration von Migranten behandelt. Als demokratietheoretisch fragwürdig wird vielfach die weiterhin nicht unerhebliche „Kluft zwischen staatsrechtlichem Legitimationssubjekt und dauerhafter Wohnbevölkerung“ ausgewiesen, hier wird die sehr streitige Frage nach einer „vorsichtige[n] Öffnung“ des Wahlrechts für dauerhaft aufhältige Ausländer aufgeworfen (Thym 2017: 189 f.), was sich aber im Hinblick auf die Bezugnahme des GG auf das deutsche Volk als Legitimationssubjekt aller öffentlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 2 GG) als überaus problematisch darstellen dürfte. Gleichwohl erscheint die weitgehende Herstellung von Kongruenz zwischen Herrschaftsunterworfenen und Wahlberechtigten demokratiepolitisch wünschenswert. Adäquater Ansatzpunkt hierfür ist das Staatsangehörigkeitsrecht, welches in den letzten zwei Jahrzehnten sukzessive für Migranten geöffnet wurde. Da die Einbürgerung von Drittstaatsangehörigen (nicht aber von EU-Bürgern) – anders als der ius-soli-Geburtserwerb, wo die sog.e Optionspflicht inzwischen weitgehend abgeschafft wurde – grundsätzlich die Aufgabe der Heimatstaatsangehörigkeit voraussetzt (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StAG), verzichten ansonsten anspruchsberechtigte Ausländer mitunter auf den Staatsangehörigkeitserwerb und somit auf die volle demokratische Teilhabe, was als Folge einer individuellen Entscheidung partizipationstheoretisch aber hinzunehmen ist. Insgesamt stellt sich zudem die Frage, ob die unbegrenzte Perpetuierung von Mehrstaatigkeit insb. durch die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes im Generationenverlauf, d. h. Jahrzehnte nach der Auswanderung der Vorfahren, eine adäquate Antwort des Staatsangehörigkeitsrechts gerade in Zeiten zunehmender M. darstellt (Langenfeld 2016: 165 ff.).

4. Einwanderungsland Deutschland, Einwanderungskontinent Europa

War das Ausländergesetz von 1990 – im Anschluss an den Gastarbeiter-Anwerbestopp von 1973 – noch durch eine abwehrende Haltung gegenüber Erwerbs-M. gekennzeichnet, wurde mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 „ein ‚Paradigmenwechsel‘“ eingeläutet (Hailbronner 2013: 14). Dieser markierte auch die Anerkennung, dass in Deutschland bereits faktisch für Mio. eine „Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland“ (Bade/Oltmer 2010: 161) entstanden war und nunmehr das Bestreben galt, auch offiziell zu einem Einwanderungsland zu werden. War die Zuwanderungsmöglichkeit zunächst auf Hochqualifizierte beschränkt, folgte über die Jahre eine weitgehende Liberalisierung. Inzwischen gilt Deutschland als eines der bedeutsamsten Einwanderungsländer und dies auch infolge eines im internationalen Vergleich überaus liberalen Einwanderungsrechts (SVR 2014: 45 ff., SVR 2015: 34 ff.). Antreiber der Öffnung ist die für ganz Europa zu konstatierende und demographiebedingte „Knappheit der Humanressourcen“ (Livi Bacci 2015: 120). Der gesamteuropäische Rechtsrahmen für Erwerbs-M. von Drittstaatsangehörigen ist im Vergleich zu jenem betreffend das Asyl- und Flüchtlingsrecht noch schwach ausgebildet. Die sog.e Blue-Card-Richtlinie, die den Zuzug von akademischen Fachkräften mit konkreter Arbeitsplatzzusage in einem Mitgliedstaat regelt, ist außerhalb Deutschlands weitgehend wirkungslos geblieben. In Deutschland (§ 19a AufenthG) hat sie sich indes „zum zentralen Rückgrat der deutschen Erwerbsmigrationspolitik“ (Lehner/Kolb 2017: 34, Langenfeld/Kolb 2015: 72) entwickelt. Dementsprechend spielt die Blue Card auch nur hierzulande eine maßgebliche Rolle: 90 % aller Blauen Karten wurden bislang in Deutschland erteilt. Deutschland hat die zugrundeliegende RL auch bes. großzügig umgesetzt, v. a. durch die Festlegung einer vergleichsweise niedrigen Mindestgehaltsgrenze. Nach den Plänen der Kommission soll die Blue-Card-Regelung erheblich ausgeweitet (u. a. Öffnung für nichtakademische Fachkräfte, Absenkung der Mindestgehälter) werden, was infolge der ebenfalls angestrebten Exklusivität dieses Instruments (Langenfeld/Kolb 2016: 528 ff.) den Spielraum für nationale Einwanderungsregime auf ergänzende, rein humankapitalorientierte Steuerungsmodelle beschränkte (Lehner/Kolb 2017: 37). Zurückhaltend ist das Zuwanderungsrecht (noch) in Bezug auf geringqualifizierte Personen, zumal über die EU-Freizügigkeit und den Zuzug von Flüchtlingen bereits ein keiner weitergehenden Steuerung zugänglicher Zuwanderungskanal besteht. Eine Ausnahme bildet derzeit die allerdings befristete Regelung für Ausländer aus den sog.en Westbalkanstaaten (§ 26 Abs. 2 der Beschäftigungsverordnung), die 2015 im Zuge des Asylpakets I eingeführt wurde. Die EU-Freizügigkeit erklärt im Übrigen als „Sondereffekt“ auch die weiterhin vergleichsweise geringen Zahlen der Arbeitsmarkt-M. Drittstaatsangehöriger, mithin die quantitative Begrenztheit des steuerbaren Arbeitsmigrationsrechts überhaupt. Einigkeit besteht darüber, dass der M.s-Druck auf Europa künftig wahrscheinlich weiter zunehmen wird. Die Zukunft des europäischen Einwanderungsrechts hängt auch von der migrationspolitischen Handlungsfähigkeit der EU ab. Diese wurde im Rahmen der sog.en Flüchtlingskrise 2015/16, in der insb. zu Beginn eine große Zahl von Personen aus den Balkanstaaten unter Berufung auf das Asylrecht den Weg in die EU suchte, um der zuhause herrschenden ökonomischen Aussichtslosigkeit zu entgehen, erheblich auf die Probe gestellt.

III. Wirtschaftliche Perspektiven

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1. Globale wirtschaftliche Effekte der Migration

Die ökonomische Literatur beurteilt M. aus globaler Sicht überwiegend als effizienzfördernd. Dies basiert auf der Überlegung, dass die weltweit effiziente Allokation des Produktionsfaktors Arbeit bei einer Gleichheit seiner Grenzprodukte in allen Ökonomien vorliegt. An Lohndifferenzialen ausgerichtete M.s-Entscheidungen tragen zu diesem Ausgleich in dem Maße bei, in dem Löhne die Grenzprodukte des Faktors Arbeit widerspiegeln. In Ländern, in denen Arbeit knapp ist und damit ein hohes Grenzprodukt aufweist, liegen die Löhne höher als in Ländern mit geringerem Grenzprodukt. Jüngere Studien weisen substanzielle jährliche globale Einkommensgewinne durch vollständige Öffnung der Grenzen aus.

Erheblich differenzierter stellt sich hingegen die Antwort auf die Frage nach den Gewinnern und Verlierern durch M. dar. Hier ist zwischen Gast- und Herkunftsländern zu unterscheiden.

2. Die Perspektive des Gastlandes

2.1 Migration und Arbeitsmarkt

Ökonomisch bedeutet Einwanderung v. a. eine Erhöhung des Angebots des Produktionsfaktors Arbeit im Gastland. Die Veränderung der Gesamtbeschäftigung verändert die Preise für Arbeit und andere Produktionsfaktoren. Eine Zuwanderungsrente für das Gastland entsteht dann, wenn die gesamten Faktoreinkommen der bereits im Gastland ansässigen (inländischen) Bevölkerung steigen. Dabei gilt prinzipiell, dass Zuwanderung die Nachfrage nach gut durch die Migranten zu ersetzenden Produktionsfaktoren, wie etwa gleichartig qualifizierter Arbeit, und damit deren Entlohnung senkt, während der Preis für andere (komplementäre) Produktionsfaktoren, wie Kapital, ansteigt. Welche Produktionsfaktoren als Substitute und welche als Komplemente einzuschätzen sind, hängt indes von den genauen Charakteristika der Einwanderer ab.

Eine wichtige Erkenntnis der durch R. Albert Berry und Ronald Soligo initiierten Literatur zur Zuwanderungsrente ist, dass die einheimische Bevölkerung als Ganzes typischerweise von M. profitiert. Die Zuwanderungsrente ist immer positiv, wenn Einwanderer die relative Verfügbarkeit der Produktionsfaktoren im Gastland ändern. Dies gilt, weil die Einheimischen systematisch einen überproportionalen Anteil an komplementären Produktionsfaktoren besitzen, so dass deren Preisanstieg die Einkommensverluste der substitutiven Produktionsfaktoren übersteigt. Bringen Zuwanderer also bspw. neben ihrer Arbeitskraft kein Kapital in das Gastland mit, erhöht sich die relative Verfügbarkeit von Arbeit zu Kapital. Die Löhne sinken, aber die Zinsen steigen. Letzteres kommt ausschließlich der bereits im Gastland ansässigen Bevölkerung, die den gesamten Kapitalstock besitzt, zugute. Ökonomische Gewinne durch Einwanderung sind daher untrennbar einerseits mit ökonomischen Unterschieden zwischen Einheimischen und Zuwanderern und andererseits mit Verteilungseffekten innerhalb der einheimischen Bevölkerung verbunden. Im gerade angeführten Beispiel werden die Einheimischen, die über viel bzw. wenig Kapital verfügen, gewinnen bzw. verlieren.

Die empirische Evidenz zu den Lohneffekten ist durchaus gemischt. Für Deutschland dominieren Befunde mit vernachlässigbar negativen oder gar positiven Wirkungen. Gabriel Felbermayr u. a., Herbert Brücker, Elke Jahn und Christian Dustmann u. a. finden negative Lohnwirkungen in einer Größenordnung von 0,1 % infolge einer einprozentigen Zunahme des Arbeitsvolumens. John P. De New und Klaus Zimmermann differenzieren nach einheimischen Qualifikationsniveaus und finden, dass eine höhere Zahl an Gastarbeitern den Lohn von Arbeitern verringert und von Angestellten erhöht.

Erklären lassen sich diese geringen Größenordnungen zum einen durch Antizipations- und Anpassungsreaktionen. Ist Zuwanderung mit einem hinreichenden Zustrom an Kapital verbunden, nivellieren sich die Lohneffekte. Zudem führt die Orientierung der Zuwanderer an wirtschaftlich vielversprechenden Berufen und Regionen zu größeren Einwanderungsströmen dort, wo das Lohnniveau steigt. Zum anderen scheinen die Resultate durch eine unvollständige Substituierbarkeit zwischen einheimischen Arbeitskräften und Migranten infolge von Unterschieden in Bildung und Berufserfahrung getrieben zu sein.

2.2 Migration und Sozialstaat

In allen Wohlfahrtsstaaten sind auch fiskalische Aspekte relevant. In Deutschland sind Personen mit M.s-Hintergrund im erwerbsfähigen Alter sowohl in der prinzipiellen Inanspruchnahme als auch bei der Dauer des Bezuges von Sozialleistungen überrepräsentiert. Allerdings ist dies nicht auf den Migrantenstatus per se, sondern auf dahinter liegende sozioökonomische Merkmale (geringere Ausbildungsniveaus, höhere Haushaltsgrößen) zurückzuführen. Zudem beziehen diese Personen im Durchschnitt sowohl aufgrund ihres geringeren Alters als auch ihrer ungünstigeren Erwerbsbiographie geringere Renten- und Pensionsleistungen. Saldiert man alle Zahlungen, die Ausländer an die öffentlichen Haushalte leisten und von ihnen empfangen, ergibt sich eine Entlastung für den deutschen Fiskus.

Statt dieses spezifischen statischen Blicks ist es angebrachter, Beiträge und Leistungen über den gesamten Lebenszyklus zu betrachten. Nach Holger Bonin ergibt sich dann eine Nettobelastung der öffentlichen Haushalte.

3. Die Perspektive des Entsendelandes

Auswirkungen auf die Entsendeländer wurden in früheren Jahren hauptsächlich unter dem Aspekt des „brain drain“ (Bhagwati/Hamada 1974) analysiert. Neben den Effekten auf die Faktorpreise ist die Emigration Hochqualifizierter mit einer Erosion der Steuerbasis verbunden.

In jüngerer Zeit hat sich diese Diskussion allerdings erheblich ausdifferenziert. Wie u. a. Michel Beine u. a. argumentieren, erhöhen qualifikationsorientierte Einwanderungspolitiken die Anreize der Bevölkerungen in den Entsendeländern, diese Qualifikationen zu erwerben. Emigriert von diesen besser ausgebildeten Personen nur ein kleiner Teil, profitiert auch das Heimatland. Absolut gesehen ergibt sich so ein Gewinn (brain gain) für die Entsendeländer, der jedoch ungleich verteilt ist: die Zahl der Gewinner ist kleiner als die der Verlierer. Zudem sind die relativen Verluste für eine Reihe von Ländern sehr hoch.

IV. Sozialethische Implikationen

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M. prägt die Geschichte der Menschheit. Zur Aufgabe der christlichen Sozialethik wird M., insofern sie häufig mit Leid und Tod verbunden ist und weil sich vor, während und nach M. (hier v. a. nach Europa) Fragen der Gerechtigkeit und des Schutzes von Menschenwürde und Menschenrechten stellen. Als Reflexionstheorie gesellschaftlicher Praxis beschäftigt sich die christliche Sozialethik v. a. mit normativen Fragen der M. und sieht sich dem Schutz des Menschen und dem Einsatz für gerechte Strukturen, die im interdisziplinären Diskurs zu begründen sind, verpflichtet.

Christliche Sozialethik folgt den sozialwissenschaftlichen Unterscheidungen von M. entspr. Zweck, Dauer, Reichweite, auch wenn Übergänge fließend sind. Das gilt insb. hinsichtlich der Kriterien Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit. Trotz Unschärfen ist es nötig, Flucht und Vertreibung (Flucht und Vertreibung) als „forced migration“ von anderen Formen der M. zu unterscheiden; Geflüchteten und Vertriebenen kommen bes. Schutzformen zu (Asyl, Flüchtlingsstatus i. S. d. Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiärer Schutz).

1. Sozialethische Traditionslinien

Aus Schrift und Tradition ergeben sich leitende Motive für einen menschenrechtlich begründeten Umgang mit M. Das AT ist gekennzeichnet durch Erfahrungen des Fremdseins und der Befreiung des Volkes Israel, die zum Handeln an und mit Fremden und Randgruppen motivieren: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott“ (Lev 19,34). Die für das Christentum elementare Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe verleiht dem Dienst am Nächsten bes.n Stellenwert (vgl. Mt 25,35–43). Der Nächste ist nicht der räumlich Nächste, sondern man wird zum Nächsten im Handeln – angesichts der Bedürftigkeit des anderen (Lk 10,25–37). Die Nächstenliebe wird darin zur Fremdenliebe. Das hat konkrete Folgen, etwa darin, dass in der Solidarität mit Geflüchteten kein Unterschied gemacht wird zwischen Christen und Angehörigen anderer Religionen.

Normative Orientierungspunkte für die Gestaltung von M. bietet eine zeitgenössische Lesart der Sozialprinzipien: So muss i. S. d. Personalitätsprinzips M. so gestaltet werden, dass Leben geschützt wird und Vorrang vor anderen Gütern und Interessen hat. Das Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) fordert, Betroffene an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und Handlungsoptionen von den Erfordernissen in konkreten Situation her zu entwickeln, sowie deren Umsetzung zu unterstützen. Das Solidaritätsprinzip (Solidarität) fordert, konstruierte Entgegensetzungen in der Logik „wir v die anderen“ abzulehnen, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und Zusammenleben zu gestalten. Eine bes. Herausforderung besteht schließlich darin, die Idee des (Welt-)Gemeinwohls (Gemeinwohl) zu bestimmen, das über Einzelinteressen hinausgeht.

In der lehramtlichen Verkündigung ist M. seit langem präsent: Seit 1914 fordert der jährliche Welttag des Migranten und Flüchtlings Schutz und Respekt für Geflüchtete und betont die Verantwortung christlicher Gemeinden. Im Pontifikat von Papst Franziskus erhält M. nochmals höheren Stellenwert und es werden konkrete Forderungen benannt, vom Familiennachzug bis zum Vorrang der Sicherheit der Schutzsuchenden vor der nationalen Sicherheit (Botschaft zum 104. Welttag des Migranten und Flüchtlings 2018). Die Praxis von christlichen Gemeinden und Initiativen ergänzt die Verkündigung und ist selbst wiederum Ausgangspunkt und Antrieb sozialethischer Reflexion.

2. Menschenrechtlicher Ansatz

Die meisten Sozialethiker vertreten hinsichtlich M. einen menschenrechtsbasierten Ansatz. Das alttestamentliche Motiv der Gottebenbildlichkeit hebt die Besonderheit jedes Menschen hervor und gilt als eine Quelle der Idee der Menschenwürde. Allerdings wurde der Zuspruch der Würde lange Zeit nicht mit einem Anspruch auf Rechte in Verbindung gebracht. Heute kann im sozialethischen Diskurs als Konsens gelten, dass die Achtung der Menschenwürde die Anerkennung eines Menschen als Inhaber fundamentaler Rechte impliziert. Diese Rechte kommen ihm nicht als Staatsbürger zu, sondern als Mensch. Wirksam werden Menschenrechte durch die institutionelle Absicherung, d. h. gewöhnlich, wenn sie in staatliches Recht überführt werden. Sie sind in der Praxis zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.

Art. 13 AEMR garantiert ein Recht auf Auswanderung. Dem korrespondiert jedoch kein Recht auf Einwanderung, was dazu führen kann, dass Menschen ihre Rechte vorenthalten werden. In Anlehnung an Hannah Arendt und Seyla Benhabib ist der moralische Anspruch jedes Menschen zu verteidigen, in einem sozialen Raum „von anderen als eine ‚Rechte habende Person‘ anerkannt zu werden, die ein Anrecht auf einen gesetzlich verankerten Rechtekatalog hat“ (Benhabib 2016: 81). Dementsprechend ist dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass die Gesellschaft nicht identisch mit der Gruppe der Staatsangehörigen ist. In der Frage, wie auch derzeitige Nicht-Bürger geschützt, repräsentiert und beteiligt werden können, sind Konzepte politischer Teilhabe, z. B. Staatsbürgerschaft oder Wohnbürgerschaft, zu diskutieren und weiterzuentwickeln.

In Begründungsdiskursen ergeben sich Schwierigkeiten, wenn die Aufnahme von Migranten und der Erhalt staatlicher Souveränität als Alternativen gelten. Trotz vorhandener Spannungen ist diese Entgegensetzung nicht zielführend. Dem souveränen Staat obliegt, sowohl seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen als auch die öffentliche Ordnung zu garantieren. Die Notwendigkeit von Ordnungsstrukturen begründet jedoch nicht deren Unveränderlichkeit, und nicht jede Veränderung bedeutet eine Gefährdung der staatlichen Ordnung. Vielmehr kann die alleinige Verteidigung vorhandener Strukturen auch Ungerechtigkeiten festigen und reproduzieren.

3. Gerechtigkeit

Die Sorge um Gerechtigkeit ist ein christliches Grundmotiv und manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen. Ausgehend von der Mitverantwortung der Länder des globalen Nordens für Flucht- und M.s-Ursachen drängt die christliche Sozialethik auf den Einsatz gegen diese, um Lebensperspektiven zu eröffnen, Leid auf M.s-Routen, Negativfolgen für Herkunftsländer, sowie eine Überforderung von Aufnahmeländern zu verhindern. Das kann nicht durch kurzfristiges M.s-Management, sondern muss im Kontext nachhaltiger Wirtschafts-, Friedens- und Umweltpolitik (Nachhaltigkeit) geschehen. Auch wenn das nationalen Interessen kurzfristig zuwiderlaufen kann, ist um größerer globaler Gerechtigkeit willen nach langfristigen Lösungen zu suchen. Dazu sind Diskurse über Verteilung und Reichweite von Hilfspflichten und Verantwortung in einer globalisierten Welt zu stärken, sowie Strukturen der Kontrolle zu gestalten bzw. zu verbessern.

National und EU-weit sind das Recht auf Asyl zu garantieren und legale Einreiseregelungen zu schaffen. Bes.r Handlungsbedarf besteht hinsichtlich sog.er „Wirtschaftsflüchtlinge“, die weder als Flüchtlinge Anerkennung finden, noch legale Einreisemöglichkeit haben. Angesichts der extremen Notlagen erscheint eine humanitär begründete Anerkennungskategorie ebenso erforderlich wie eine Kritik des diskriminierenden Sprachgebrauchs.

4. Integration

Integrationspolitik ist nötig. Christliche Sozialethik versteht Integration nicht als Assimilation, sondern als Prozess, der Integrationsbereitschaft einerseits und Akzeptanzbereitschaft andererseits voraussetzt. Integration bedeutet primär die Ermöglichung chancengleicher Teilhabe in ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht; Bildung und Arbeit sind Schlüsselfaktoren. Gemäß der Subsidiarität hat der Staat die integratorischen Aktivitäten der Einwanderer zu unterstützen und Rahmenbedingungen dazu bereitzustellen, wodurch das Engagement der Einwanderer nicht ersetzt, sondern ermöglicht wird. Integration erfordert Zugehörigkeit. Sie ist einerseits eine Frage von Rechtsstatus und Teilhabe, hat aber darüber hinaus eine bedeutende emotionale Komponente: Sie ist an Akzeptanz in sozialen Beziehungen geknüpft. Die Annahme, dass sich die Beteiligten in diesem Prozess verändern, setzt eine gewisse Ungewissheitstoleranz voraus. Christliche Sozialethik und Kirche können beitragen, diese zu kultivieren, indem sie Begegnungsräume schaffen, in denen Vielfalt als Bereicherung und nicht als Bedrohung erfahrbar wird. Zudem sind Differenzierungen in einseitigen gesellschaftlichen Diskursen über Einwanderung, Richtigstellung falscher Informationen sowie Kritik irreführender Darstellungsweisen zentrale Aufgaben der christlichen Sozialethik.

V. Migration als Herausforderung interkultureller Bildung

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Der territorial definierte Nationalstaat beruht v. a. auf Gewalt- und Rechtsmonopol, formal-rationaler Verwaltung und einem Wertesystem als Gemeinsamkeitsglaube. Zu dessen Aufrechterhaltung und für den Zusammenhalt des Staats bedarf es dann einer spezifischen Erziehung und Bildung, so dass dem Gewaltmonopol das Bildungsmonopol folgt; der Staat entscheidet seitdem über die Zulassung von Schulen, Hochschulen und über die Grundsätze zur Anerkennung von Bildungstiteln.

1. Homogenisierung durch Erziehung und Bildung

Erziehung und Bildung dienen also – gerade in den modernen Nationalstaaten – als Instrumente der Homogenisierung der Bevölkerung. Die viel beklagte Schwierigkeit der Schule mit (insb. durch Einwanderungen entstandener) Heterogenität umzugehen, und ihre Ausrichtung auf eine Homogenisierung der Schülerschaft, ist von der älteren nationalstaatlichen Aufgabe der Schule zur Schaffung eines nationalen Habitus als Reproduktionsaufgabe keineswegs dysfunktional, sondern folgerichtig. Wohl aber ist sie nicht mehr zeitgemäß, wenn Homogenität in der Form nicht mehr benötigt wird oder die gesellschaftliche Entwicklung sogar aufhält und ein interkulturell kompetenter Umgang mit Vielfalt im 21. Jh. selbst Bildungsziel geworden ist. Letzteres resultiert aus der auf allen Ebenen präsenten Gegenwart von Anderen in der Gesellschaft. Es wäre jedoch falsch, daraus den Rückschluss zu ziehen, der Nationalstaat habe sich überlebt: Tatsächlich geht die Schule nach wie vor ihrer Aufgabe nach, einen einheitlichen Habitus zu bearbeiten, dessen inhaltliche Zielsetzung nun eben der kompetente Umgang mit Diversität und Differenzoffenheit ist. Die Durchsetzung dieses relativ neuen Bildungsziels verfolgt der Staat mit denselben Mitteln wie früher auch: Schul- und Unterrichtspflicht, Schulaufsicht, kontrollierte Lehrerausbildung, Vergabe von Bildungstiteln, staatlichen Rahmencurricula usw. Die „Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung“ – so der Name des DFG-Schwerpunktprogramms FABER (1991–97) – sind seit inzwischen ca. 20 Jahren in den schulischen Curricula verankert. Eine der Studien des Programms ergab, dass interkulturelles Lernen in fast allen bundesdeutschen Curricula „angekommen“ ist. In der Lehrerbildung wird „der Umgang mit Pluralität, Differenz und Gleichheit verstärkt als Querschnittsaufgabe begriffen“ (Neumann/Reuter 2004: 804). In verschiedenen Bundesländern wurden neue Rahmenpläne für interkulturelle Bildung erlassen; die Empfehlung der KMK von 1997 wurde 2013 neu gefasst und veröffentlicht.

2. Interkulturelle Bildung

Interkulturelle Bildung gehört also zu den Standards der heutigen Lehrpläne und Curricula. Doch besteht ein prinzipielles Problem von Querschnittsthemen darin, dass sie eben auch immer wieder nicht „ankommen“. Die bloße Formulierung von Standards reicht nicht aus. Effektive Umsetzung benötigt anscheinend explizite Modellierung interkultureller Kompetenz. Dazu gehören eine explizite und wertschätzende Berücksichtigung der multikulturellen Schülerschaft mit einem reflektierenden Zugang zu Unterschieden als „normaler“ Heterogenität, der nicht „Kulturen“, sondern unterschiedliche Lebensformen und (Wert-)Orientierungen usw. in den Blick nimmt, eine Ausrichtung auf Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Partizipation sowie die Bereitschaft, interkulturelle Kompetenz empirisch sichtbar werden zu lassen.

Die Fokussierung auf die „Kultur“ ist inzwischen in programmatischen Texten zur interkulturellen Bildung weit zurückgefahren; es geht nicht mehr um kulturelle Unterschiede als Differenzen, sondern um Diversität als Charakteristikum der Gesellschaft als diskursives Feld, auf dem die Bearbeitung von Heterogenität zur schulischen Aufgabe wird. Die 2013 neu gefasste KMK-Empfehlung realisiert zum einen die oben genannten Kriterien für eine erfolgreiche Implementierung interkultureller Bildung hinsichtlich der Kompetenzorientierung und setzt zudem einen neuen Fokus: Neben dem „Umgang mit Vielfalt“ (KMK 2013: 2), der Bildungspartnerschaft mit Eltern und dem „gemeinsamen Lernen in allen Fächern als eine zentrale Voraussetzung für interkulturelle Lernprozesse“ (KMK 2013: 2), wird „die Beschäftigung mit Sprache und Mehrsprachigkeit“ (KMK 2013: 2) in den Blick gerückt: „Schule ist zentraler Ort für den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen“ (KMK 2013: 5). Bildungssprachliche Kompetenzen im Deutschen werden dabei explizit mit der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit verbunden, d. h. es zeichnet sich ein umfassendes Verständnis von äußerer und innerer Mehrsprachigkeit ab, das neben Sprachen auch sprachliche Varietäten wie in diesem Fall das Register der Bildungssprache umfasst.

3. Bildungssprache

Damit schließt sich der Kreis zur staatstheoretischen Herleitung des Umgangs mit M. im Bildungswesen. Das Konzept der Bildungssprache wurde im Rahmen des BLK-Programms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) entwickelt. Der Begriff geht zwar auf Wilhelm von Humboldt zurück, wurde aber erst durch FörMig bildungspolitisch relevant. War in den Frühzeiten der pädagogischen Beschäftigung mit M. das Themenfeld Deutsch als Zweitsprache allein virulent, so erfasste FörMig das zentrale Register der schulischen Sprache, das den Fachsprachen der Unterrichtsfächer vorgelagert ist, und für das die Schule bei eingewanderten Familien geradezu ein Monopol hat: eine abstrahierte und dekontextualisierte Form des Sprechens, die stark an der Schriftlichkeit orientiert ist, aber als gesprochene Sprache des Unterrichts rezeptiv wie produktiv erwartet wird. In FörMig wurde darüber eine spezifische institutionelle Diskriminierung aufgedeckt, da dieses Register nicht explizit unterrichtet wird und somit eine Erklärung für den anhaltenden Bildungsmisserfolg großer Teile der eingewanderten Bevölkerung anbieten kann. Dem hat man sich in den letzten zehn Jahren in Forschung, Bildungspraxis und Curriculumentwicklung verstärkt zugewandt, um den Bildungserfolg der Eingewanderten zum Zwecke ihrer Inklusion (Inklusion, Exklusion) zu steigern.

4. Integration und Ausgrenzung

Neben Interesse, Offenheit, Neugier, Exotismus kommt es gegenüber herkunftsbedingt Anderen zu desintegrativen Effekten wie Ablehnung, Diskriminierung und Rassismus. Auch eine solche ausgrenzende Konstruktion von Anderen als „Fremden“ motiviert interkulturelle Bildung zur Reflexion über Denkgewohnheiten und Normalitäten im gesellschaftlichen Diskurs. „Interkulturelle Kompetenz, deren Erwerb eine Kernkompetenz für das verantwortungsvolle Handeln in einer pluralen, global vernetzten Gesellschaft ist, bedeutet aber nicht nur die Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Kulturen, sondern vor allem die Fähigkeit, sich selbstreflexiv mit den eigenen Bildern von Anderen auseinander und dazu in Bezug zu setzen sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Entstehung solcher Bilder zu kennen und zu reflektieren“ (KMK 2013: 5). Eine solche Perspektive bedingt rassismuskritische Bildungsarbeit im Rahmen einer M.s-Pädagogik.

Man sollte erwarten, dass die staatliche Übernahme der Verantwortung für den Umgang mit Bildung und Erziehung im Kontext von M. und Mehrsprachigkeit, wie sie in den schulischen Curricula bei aller Unterschiedlichkeit verankert ist, auch in der Lehramtsausbildung „angekommen“ ist. Dem ist aber nicht so: Lediglich ca. die Hälfte aller lehrerbildenden Hochschulstandorte bietet dazu strukturierte Ausbildungsmodule zur interkulturellen Bildung an.