Mentalität

Das substantivierte Wort mentality erscheint zunächst als Bezeichnung einer allg.en Qualität von Verstandesgaben/-eigenschaften. Bis zum ausgehenden 19. Jh. wurde es selten und unspezifisch verwendet, erst dann erfuhr es eine starke Aufwertung. Laut Marcel Proust wurde mentalité kurz vor 1900 in den Salons der französischen Gesellschaft zu einem Modewort. Seither bezeichnet der Begriff ein Ensemble von Dispositionen und Handlungsantrieben, die in einem sozialen Kollektiv (Gruppe, Stand, Schicht, Klasse, Religion, Konfession usw.) tief verwurzelt sind und sich daher der Explikation und Reflexion durch ihre Träger weitestgehend entziehen. Der Begriff bleibt überwiegend an Gruppen gebunden. Zugrunde liegt ihm die Annahme, dass soziale Kollektive ihre Kohärenz neben quantifizierbaren sozialen Lagemerkmalen auch distinkten Vorstellungen, Weltsichten und Positionen gegenüber den Grundgegebenheiten des Lebens und Alltags verdanken, die sich zu einer Einheit, einer M., zusammenfügen. Nicht immer trennscharf wird darunter daher ein verbindendes Element zwischen kulturspezifischen Formen des Wahrnehmens, Empfindens, Urteilens, Handelns und Sichverhaltens verstanden. Versuche in Soziologie und Geschichtswissenschaft, den der außerwissenschaftlichen Bildungssprache entstammenden Begriff wissenschaftlich-empirisch zu fassen, sind jüngeren Datums.

1. Mentalität in der Geschichtswissenschaft

In der Geschichtswissenschaft wird „M.en-Geschichte“ seit den ausgehenden 1960er Jahren in programmatischer Absicht gebraucht. Das ihr zugrundeliegende Programm geht auf die französische „Schule der Annales“ zurück, die man von den sozialhistorischen Vorstellungen ihrer beiden Gründerväter Marc Bloch und Lucien Febvre herleiten kann. Deren Kernanliegen war die Erforschung sozialer Strukturen längerer Dauer (longue durée) und breiter gesellschaftlicher Prozesse. Diese Historiker wandten sich offensiv gegen den Individualitätskult und die die traditionelle Politikgeschichtsschreibung dominierende Betonung der Leistung großer Persönlichkeiten. Dass zur Erforschung solcher Strukturen, Prozesse und ihrer Träger auch die Beschäftigung mit gruppenspezifischen Einstellungen und mentalen Dispositionen gehörte, stand für die französischen Sozialhistoriker von Anfang an fest.

2. Abgrenzungen

Derartige sozialgeschichtliche Forschungen standen damit auch unter dem Zwang, sich von den Gegenständen und Methoden der klassischen Geistesgeschichte und psychologisierender Reflexion über die Handlungsantriebe großer Männer zu distanzieren. Drei weitere Abgrenzungen trugen zur Profilierung der histoire des mentalités bei. So dominierten erstens in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung zur selben Zeit Ansätze (etwa sog.e „Bielefelder Schule“), die sich an sozioökonomischen Theorien orientierten und in ihren Forschungen von den vermeintlich „harten“, empirisch leichter zu erhebenden Parametern sozialer Schichtung ausgingen. Aus ihrer Sicht war die M.en-Geschichte eine französische Spezialität, die man erst spät und unter dem Einfluss der historischen Kulturwissenschaften in die eigenen Programme zu integrieren bereit war. Dies lag auch daran, dass die erfolgreichsten Realisationen der französischen M.en-Geschichte überwiegend vormoderne Gegenstände behandelten, während die deutsche sozialhistorische Forschung auf Phänomene der Moderne (Industrialisierung, Nationalismus, etc.) konzentriert war. Die zweite, epistemologische Abgrenzung der M.en-Geschichte betraf ihr Verhältnis zu marxistischen Positionen einer- und idealistischen andererseits: Nach ersteren waren Phänomene des Fühlens, Meinens und Wissens Elemente eines ideologischen Überbaus und damit „realen“ sozioökonomischen Produktions- und Machtverhältnissen nachgeordnet, nach letzteren waren sie das eigentliche Explanandum historischer Erkenntnis. Die M.en-Geschichte ging dagegen von Schemata aus, die Vorstellungen, Imaginationen, Meinungen etc. dezidiert als geschichtsmächtige Bestandteile der Wirklichkeit selbst behandelten und nach deren wirklichkeitsüberformender Macht fragten. Unter diesem Vorverständnis standen „gedachte“ und „reale“ Welt in einem kybernetischen Verhältnis zueinander, bedingten sich also wechselseitig (so programmatisch Jacques Le Goff). Die dritte Abgrenzung betraf das Verhältnis zur klassischen Hermeneutik, die die M.en-Historiker nicht rundheraus ablehnten, die sie aber für die Arbeit an großen, serienmäßigen Text- und Bildcorpora modifizieren wollten. Die Blütezeit der M.en-Geschichte fiel zusammen mit Anstrengungen, quantifizierende Verfahren auf massenhafte Überlieferungen anzuwenden und auf diesem Weg mentale Kollektivphänomene zu erschließen.

3. Bewertung

Durchgesetzt hat sich M.en-Geschichte auf die Dauer nicht; schon früh wurde gegen sie eingewandt, dass sie historischen Wandel und Phänomene abseits eines epochalen Mainstreams nur schwer zu fassen vermochte. Wegen zunehmender Vorbehalte gegenüber der Schöpfung neuer „Bindestrich“-Geschichten konzentrierte sich die Methodendebatte seit 1990 stärker auf die Diskussion übergreifender Paradigmen wie „Gesellschaft“ versus „Kultur“. Wo man sich doch für spezifische Sektorwissenschaften stark machte, präferierten Historiker anderen Designs: microstoria, Alltags-, Emotionen- bzw. Körpergeschichte, histoire de l’imaginaire, historische Anthropologie etc. Zudem stand die M.en-Geschichte von Anfang an in der Kritik, auch ihre theoretische Fundierung nicht hinreichend plausibilisieren zu können, was angesichts der zunehmenden Konkurrenz besser operationalisierbarer Angebote (v. a. „Habitus“, „Kapital“ und „Feld“ bei Pierre Bourdieu, „Diskursanalyse“ nach Michel Foucault und die umfassende „Theorie sozialer Systeme“ Niklas Luhmanns) ihren heutigen Ruf als einer gut gemeinten, aber theoretisch unterkomplexen Episode sozialhistorischer Forschung noch verstärkt. Man spricht in der Geschichtswissenschaft noch von M. und M.en-Geschichte, doch zunehmend ohne damit ein von anderen Zugängen unterscheidbares großes Forschungsdesign zu meinen.