Medizin

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Die M. (lateinisch: mederi, heilen, kurieren, helfen; medicina, Heilkunst, Heilmittel) verfolgt als wissenschaftliche Heilkunde die vier klassischen Ziele der Vorbeugung (Prävention), des Erkennens (Diagnose) und der Behandlung (Therapie) von Krankheiten sowie der Linderung (Palliation) von Beschwerden in nicht kurativ behandelbaren Situationen. Spätestens seit dem 20. Jh. lassen sich auch die Wiederherstellung von Gesundheit (Rehabilitation) sowie die medizinische Forschung den systematischen Zielsetzungen der M. zuordnen. Auch wenn sich die M. im Verlauf ihrer Geschichte bis heute ganz überwiegend dem naturwissenschaftlichen Paradigma angeschlossen hat, geht ihr Ziel und Auftrag weit darüber hinaus. Denn sie richtet sich an Menschen als Patienten und wird innerhalb einer Gesellschaft betrieben. Mit beiden Aspekten beschäftigen sich die ärztliche Anthropologie und die medizinische Soziologie. Die Reflexion auf die Wissenschaftstheorie und Praxistheorie ist das Arbeitsgebiet der M.-Theorie. Die M.-Ethik sowie das den Rechtswissenschaften zugehörende M.-Recht beschäftigen sich mit den normativen Aspekten der M.

1. Geschichtliche Entwicklungslinien der westlichen Medizin

1.1 Frühzeit und Antike

Die Kenntnisse über Heilhandlungen in der Frühzeit der Menschheit sind wenig gesichert. Erst mit der Entstehung neuer Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens in den frühen Hochkulturen (Mesopotamien, Ägypten, Indien und China, die kretische Kultur, die indianischen Hochkulturen in Mittelamerika und die altperuanische Kultur in den Anden) belegen bildliche und schriftliche Zeugnisse eine Aufgliederung von Tätigkeitsbereichen in einzelne Berufs- und Bildungsschichten und damit auch die Etablierung eines heilkundigen Standes, dessen Angehörige i. d. R. der Klasse der Priester angehörten. Die Heilkunden beruhten auf religiösen und magischen Anschauungen und empirischen Erfahrungen. Bestimmte Verfahren dieser Heilkunden waren durchaus therapeutisch wirksam; Elemente der vedischen (Ayurveda) und der traditionellen chinesischen M. (z. B. Akupunktur) haben sich bis heute erhalten.

Eine der ältesten Quelle für archaische Heilverfahren im Mittelmeerraum stellen die um 800 v. Chr. während der mykenischen Stufe der älteren Hochkultur von Kreta entstandenen Heldenepen des Homer (Ilias und Odyssee) dar, die Auskunft über das empirische Wissen über die chirurgische Behandlung von Kriegsverletzungen und die religiösen Vorstellungen von der Einflussnahme der Götter auf die Geschicke der Menschen geben. Im 7. Jh. v. Chr. tauchten in Griechenland mit der ionischen Naturphilosophie die ersten systematischen Versuche auf, das Wesen von Natur und Welt und damit auch den gesunden und kranken Menschen auf einer natürlichen Grundlage zu verstehen. Die Lehre von einem Urstoff als einzigem Prinzip, aus dem alles entsteht, wurde im 6. Jh. durch die Lehre von den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde als Bausteine der natürlichen Welt abgelöst, auf deren Grundlage die Säftelehre oder Humoralpathologie entworfen wurde, die für die Entwicklung der Heilkunde für viele kommende Jahrhunderte bestimmend wurde. Der Säftelehre zufolge entsprach dem harmonischen Gleichgewicht der vier Elemente im Makrokosmos im Mikrokosmos eines gesunden Körpers das richtige Gleichgewicht der vier augenfälligen körpereigenen Säfte des Blutes, der gelben Galle, der schwarzen Galle und des Schleims, die mit ihren Qualitäten warm, trocken, kalt und feucht den Qualitäten der vier Urelemente entsprachen. Mit der Methode des Analogieschlusses von der Naturbeobachtung auf das Innere des Menschen löste sich die griechische Naturphilosophie vom vorrationalen magischen und empirischen Denken zugunsten der Fragen nach den Gesetzmäßigkeiten im Naturgeschehen, der Methode wissenschaftlicher Ursachenforschung und der Formulierung logischer Theorien. Für die hippokratische M. im 4. Jh. v. Chr. (Hippokrates von Kos) besteht der Zweck der Heilkunde daher nicht mehr im Kampf gegen übernatürliche Kräfte, sondern in dem durch die Naturgesetze begrenzten Ziel, den menschlichen Organismus in seiner Auseinandersetzung mit dem natürlichen Krankheitsgeschehen zu unterstützen und die natürlichen Heilkräfte zu lenken. Hierfür erforderlich waren die Einbeziehung schriftlich überlieferter ärztlicher Empirie, die differenzierte Krankenbeobachtung, die Bildung einer Prognose sowie sich hierauf beziehende therapeutische Maßnahmen, die v. a. in der Diätetik (im weiten Sinne einer maßvollen Lebensführung), aber auch in medikamentöser oder chirurgischer Behandlung bestanden. Grundlegend war der Anspruch, dem Kranken zu nützen oder ihm wenigstens nicht zu schaden, woraus sich die bis heute gültige ethische Grundverpflichtung des „primum nil nocere“ entwickelt hat. In der Zeit des römischen Weltreiches fasste Galenos von Pergamon den medizinischen Wissensstand der Antike systematisch zu einer Krankheitslehre zusammen, die die Säftelehre der Hippokratiker und eine dem Körper innewohnende natürliche Heilkraft zur Grundlage hatte. Galens Lehre blieb bis ins 16. und 17., teilweise sogar bis ins 19. Jh. hinein für die Ausbildung der Ärzte verbindlich. In der Krankenversorgung stand in der Folge allerdings v. a. die Pflege im Vordergrund. Mit der Entstehung der ersten christlichen Gemeinden und der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion im römischen Reich im Jahre 380 entwickelte sich mit der Auffassung, dass der Kranke durch seine Hinfälligkeit durch Gottes bes. Liebe ausgezeichnet und der Dienst am hilflosen Nächsten mit dem Dienst an Gott gleichzusetzen sei, die christliche Caritas als eine nicht auflösbare Einheit der Gottes- und der Nächstenliebe sowie die Diakonie als Organisationsform des Dienstes am Menschen (Caritas/Diakonie). Nach der Teilung des römischen Reiches im Jahr 395 brachte im oströmischen Reich die griechische M. in Verbindung mit der christlichen Religion, begünstigt durch römische Organisationsformen und die einheitliche Verwendung der griechischen Sprache, ein wohlorganisiertes Hospitalwesen hervor, während der westliche Teil des Reiches allmählich zerfiel und der allg.e Bildungsstand und mit ihm auch das Heilwissen dem Niedergang anheimfiel.

1.2 Mittelalter

Im westlichen Abendland bewahrten v. a. die Mönche das Heilwissen, soweit dieses zugänglich war, und übten in den Klöstern, denen vielerorts Klosterhospitäler angeschlossen wurden, die Heilkunde und Pflege aus. Die Heilkunde nahm im benediktinischen Bildungsprogramm einen festen Platz ein. Wenngleich es im Klosterhospital keine Versorgung durch Ärzte gab, wurden dort praktische heilkundliche Erfahrungen und Kenntnisse erworben und angewendet (z. B. Hildegard von Bingen). Die systematische Auseinandersetzung mit dem antiken medizinischen Wissen begann im christlichen Abendland erst, als antike wissenschaftliche Schriften, die mit der Eroberung großer Teile des oströmischen Reiches durch die Araber in deren Besitz gelangt waren, durch Constantinus Africanus mit einer Sammlung arabischer medizinischer Schriften nach Salerno in Süditalien gebracht wurden, wo eine Gruppe von Ärzten zu Bekanntheit gelangt war. Die Übersetzung dieser Schriften in die lateinische Sprache sowie der Fall von Toledo auf der iberischen Halbinsel 1085, mit dem die Hochburg der islamischen westlichen Wissenschaft in christliche Hand fiel, führte dem Abendland das antike, aber auch das hochentwickelte arabische medizinische Wissen (z. B. Avicenna) zu. Als neuer Typus der Bildungsstätte, die diesen Wissensstoff aufnahm und verarbeitete, entstand im 12. Jh. in mehreren europäischen Städten die Universität, zu deren vier Fakultäten neben der Theologie, Philosophie und Jurisprudenz die M. gehörte. Insb. von der Universität in Paris ging durch die Dominikaner Albertus Magnus und v. a. Thomas von Aquin die Synthese des christlichen Glaubens mit der antiken aristotelischen Philosophie aus. Sie legten den Grundstein für eine neue, am aristotelischen Muster geschulte Naturschau, auf deren Grundlage später die Naturwissenschaften entwickelt wurden. Das medizinische Lehrgebäude wurde allerdings weiterhin uneingeschränkt von den Lehren des Hippokrates, Galen und Avicenna beherrscht. Die Universitätsmediziner, die zunächst dem geistlichen Stand angehörten, wurden durch das Konzil von Tours (1163) von jeder manuellen, den Körper verletzenden M. ausgeschlossen. Zudem wurde die M. an der Universität ausschließlich theoretisch gelehrt, wodurch die Versorgung der Bevölkerung von den intellektuellen Entwicklungen unberührt blieb. Durch diese Umstände gewann der in einer Zunft zusammengeschlossene Handwerkerstand der Chirurgen eine bes. Bedeutung, der seine Trennung von der M. über viele Jahrhunderte bewahrte und durch die Entwicklung eigener Chirurgenschulen neben dem Universitätsmediziner den Typus des gelehrten Wundarztes etablierte, der jedoch im Handwerkerstand der Chirurgen verblieb. Der Übergang der Wissenschaftspflege an die Universitäten und die Einschränkung der Tätigkeit der Mönchsärzte durch das Edikt von Clermont (1130) hatte eine intensivere Ausrichtung der christlichen Gemeinschaften auf die barmherzige Pflegetätigkeit zur Folge, der sich v. a. christliche Ordensbewegungen wie einige geistliche Orden sowie neu gegründete Ritterorden und weltliche Ordensgemeinschaften annahmen. Die weiteren Wege von M. und Krankenpflege begannen sich zu trennen. Die eigentliche Krankenversorgung im Mittelalter lag praktisch ausschließlich in Händen der Pflegegemeinschaften, die die Hospitäler versorgten, sowie von Chirurgen, Badern und Kräuterkundigen.

1.3 Humanismus und Aufklärung

Im 16. Jh. bildeten sich Anfänge einer medizinischen Grundlagenforschung auf dem Boden exakter Naturbeobachtung heraus. 1543 veröffentlichte Andreas Vesalius sein umfangreiches Werk „Vom Bau des menschlichen Körpers in sieben Büchern“ (De humani corporis fabrica libri septem) als Ergebnis einer systematischen Präparation der menschlichen Leiche, in welchem er die Lehren des Galen behutsam widerlegte. Auch die „Iatrochemie“ des Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, gen. Paracelsus, stellte die alte Humoralpathologie in Frage. Zudem erhielt die Chirurgie, z. B. durch die von Ambroise Paré eingeführten neuen Formen der Wundbehandlung, mit der die durch die neuartigen Feuerwaffen verursachten schweren Kriegsverletzungen behandelt wurden, neuen Auftrieb.

Im 17. Jh. gewannen in der Naturwissenschaft und damit auch in der Heilkunde in zunehmendem Maße Mathematik, Physik und Chemie an Bedeutung. In der M. wurde die Lehre von der Form, die Anatomie, durch die Lehre von der Funktion, die Physiologie, erweitert. Ein wichtiges Beispiel für die neue Art, die Funktionen des menschlichen Körpers zu denken, war die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey. Marcello Malpighi komplettiert das Kreislaufmodell mit Hilfe des neu entwickelten Mikroskops durch die Entdeckung der Kapillaren. Die neuen Methoden der wissenschaftlichen Naturbeobachtung und des Experimentes erbrachten zahlreiche wichtige Entdeckungen und Ansätze in der Physiologie. Für den praktisch tätigen Wissenschaftler etablierte sich, in Absetzung von den Universitäten, als neue Forschungsinstitution die wissenschaftliche Akademie (z. B. Académie fran&ccedi;aise 1635, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina 1652, Royal Society 1662). Die Krankenpflege wurde neben der Versorgung in den jungen protestantischen Gemeinden bes. durch die Gründung neuer katholischer Pflegegemeinschaften belebt (z. B. durch Vinzenz von Paul). Für die medizinische Versorgung der Bevölkerung hatten Ärzte allerdings weiterhin eine geringe Bedeutung.

1.4 Achtzehntes Jahrhundert

Mit der Übertragung der neuen wissenschaftlichen Denkansätze auch auf soziale Prozesse nahm die M. zunehmend eine allg.e soziale Verantwortung in den Blick. Der alte hippokratische Gedanke der Prävention wurde neu aufgegriffen und in Form einer sozialhygienischen Volksaufklärung umgesetzt, die kaum einen Lebensbereich ausließ. Im Bereich der medizinischen Grundlagenforschung wurde durch die Synthese von Anatomie und klinischer Beobachtung die neue Ära der Pathologie eingeleitet (Giovanni Battista Morgagni), die sich endgültig gegen die an den Universitäten immer noch gelehrten Theorien der alten Humoralpathologie wendete. Eine Krankheit und ihre Symptome wurden nun durch das befallene Organ und seine anatomischen Veränderungen bestimmt, denen bei wiederholtem Auftreten bei verschiedenen Betroffenen statistische Beweiskraft sowohl für die wissenschaftliche Normierung als definierte Krankheit als auch für ihren klinischen Nachweis zukam. Hiermit wurde die Grundlage für eine systematische Krankheitslehre geschaffen. Zudem wurde in der klinischen M. der noch heute gültige Gang einer klinischen Untersuchung entwickelt (Herman Boerhaave). Bedeutsam war auch die Aufhebung der jahrhundertelangen Trennung von Chirurgie und M. 1794 durch die Französische Revolution, die sich auch in anderen Ländern rasch durchsetzte und der Chirurgie in den Stand eines akademischen Fachs verhalf. In der Folge übernahmen Chirurgen auch zunehmend die Geburtshilfe, und neue gesetzliche Bestimmungen ließen Hebammen nur noch zu unkomplizierten Geburten zu, während in Zweifelsfällen die ärztliche Entscheidung maßgebend war. Die M. zog nun als forschende, lehrende und praktizierende Institution auch ins Hospital ein und wandelt dieses von einer Sozialinstitution zum Krankenhaus, das nun unter ärztlicher Leitung stand und in das nur noch Kranke zum Zwecke ihrer Heilung und zur Erforschung ihrer Krankheit aufgenommen und zudem räumlich nach Krankheitsarten getrennt wurden. Überdies wandelte sich die Sozialstruktur der Patienten, indem sich nun auch begüterte Bürger im Krankenhaus von wissenschaftlich und praktisch gebildeten Klinikärzten behandeln ließen. Als Problem erwies sich, dass ein für alle diese Veränderungen vorbereitetes Pflegepersonal nicht vorhanden war. In diese Zeit fällt die Gründung erster „Krankenwärterschulen“ sowie erster Literatur für das Pflegepersonal (Franz Anton Mai). Die Bemühungen, die Grundpflege wissenschaftlich abzustützen, traf allerdings verschiedentlich auf heftige Kritik, womit die noch heute virulente Diskussion um die Grenzen zwischen ärztlicher und pflegerischer Profession ihren Anfang nahm.

1.5 Neunzehntes Jahrhundert

Seit der Mitte des Jahrhunderts begannen alle medizinischen Disziplinen, sich an den Methoden der Naturwissenschaften, d. h. der Physik und Chemie, zu orientieren. Im Unterschied zu anderen Ländern entstanden in Deutschland mit der deutschen Romantik zunächst eine Vielzahl von naturphilosophischen Krankheitsauffassungen, die Gesundheit und Krankheit als entgegengesetzte Erscheinungen eines einzigen lebendigen Prinzips definierten. Hierzu gehörten z. B. die Lehre von der Lebenskraft als Beweger aller Lebensvorgänge (Christoph Wilhelm Hufeland), der Magnetismus, der durch Handauflegen und Bestreichen mit Magneten eine spezifische kosmische Heilkraft auf den Kranken übertragen wollte (Franz Anton Mesmer) oder die homöopathische Heilkunde nach Samuel Hahnemann, die im Gegensatz zu dem alten Gegensatzprinzip (contraria contrariis curantur) eine Therapie der Krankheit mit niedrigdosierten Mitteln vorsah, die die Symptome der Krankheit beim Gesunden hervorzurufen vermochten (similia similibus). Entscheidend für die Ablösung der alten Heilkunde war der Nachweis, dass der gesamte tierische und pflanzliche Organismus aus Zellen aufgebaut ist (Theodor Schwann und Matthias Schleiden) sowie die Erkenntnis, dass eine Zelle nur aus einer Zelle durch deren Teilung entstehen kann (Rudolf Virchow). Die „Zellularpathologie“ als eine biologisch und pathologisch allg. verbindliche Grundtheorie des Lebendigen trat an die Stelle aller humoralpathologischen und idealistischen Krankheitsauffassungen. Eine Fülle neuer Verfahren, Methoden und Erkenntnisse schuf die Grundlage eines neuen medizinischen Weltbildes, in dem die M. sich nun nicht mehr der Naturwissenschaften bediente, sondern sich zur experimentell arbeitenden Naturwissenschaft erklärte (Claude Bernard). Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden Grundlegungen der Histologie, Elektrophysiologie und Kreislaufphysiologie, der Biochemie und Pharmakologie sowie der Bakteriologie, Serologie, Immunologie und Endokrinologie erarbeitet. Neue diagnostische Verfahren, insb. die Entdeckung der Röntgenstrahlen im Jahre 1895 (Wilhelm Conrad Röntgen), ermöglichten zielgerichtete Eingriffe. Die Entwicklung aseptischer Operationsmethoden sowie der Narkose mit Äther und später mit Chloroform erlaubten der Chirurgie bisher undenkbare Eingriffe, etwa in Bauchhöhle, Brusthöhle und Gehirn. Aus der Chirurgie heraus entwickelten sich als eigenständige Disziplinen Augenheilkunde, Dermatologie, Ohrenheilkunde, Orthopädie und um die Jahrhundertwende Unfallheilkunde und Urologie. Auch die anfangs von meist privat ausgebildeten Chirurgen und Dentisten betriebene Zahnheilkunde gewann akademisches Ansehen. Ihr Studium wurde in Deutschland 1909 dem Studium der Human-M. gleichgestellt. Die Geburtshilfe wurde ergänzt durch ein wachsendes Interesse an Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, wodurch sich das Gebiet zur Gynäkologie erweiterte. Aus den Entbindungshäusern des 18. Jh. wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Frauenkliniken. Kerngebiet der Heilkunde blieb die seit 1868 in Deutschland so genannte Innere M. Noch heute bestehende Binnenspezialisierungen orientierten sich an der Physiologie und Pathologie einzelner Organe (Kardiologie, Nephrologie, Pulmonologie, Gastroenterologie etc.), bestimmten Funktionszusammenhängen (Hämatologie, Endokrinologie etc.) oder einzelnen Techniken (Endoskopie, Elektrophysiologie etc.). Die Ausformung der Inneren M. war eng verbunden mit der Entwicklung des Krankenhauses, das als Universitätsklinik der dreifachen Aufgabe der Forschung, Lehre und Krankenversorgung diente, während sich städtische, konfessionelle und private Krankenhäuser ausschließlich der Krankenbehandlung widmeten. Eine eigenständige, im Hinblick auf die Versorgung v. a. bedürftiger Bevölkerungsteile wichtige Institution waren die medizinischen Polikliniken, die meist durch Initiative einzelner Professoren gegründet wurden, die mit ihren Studenten Armensprechstunden abhielten. Die Poliklinik war das Bindeglied zwischen Fakultät und Stadt, und ihr Leiter war meist gleichzeitig städtischer Armenarzt. Schließlich betreuten die Polikliniken auch erkrankte Kinder in ihrem häuslichen Milieu und wurden damit zu Wegbereitern einer institutionalisierten Kinderheilkunde. Das Kinderkrankenhaus gewann im 19. Jh. wegen seiner Bedeutung für die wissenschaftliche Pädiatrie wachsende Aufmerksamkeit. Als Gegenbewegungen zum Aufkommen der naturwissenschaftlichen M. intensivierten sich in der Mitte des 19. Jh. auch traditionelle Krankheitsauffassungen, die zu einer Entfaltung der Homöopathie und insb. der verschiedenen großen Naturheilkundebewegungen (z. B. Sebastian Kneipp) führten. Ihr gemeinsames Ziel war, empirisch erprobte Heilverfahren, die von der naturwissenschaftlichen M. zunehmend als unwissenschaftlich erachtet wurden, zu bewahren und weiterzugeben. In der Folge entstanden die beiden sich bis heute oftmals unversöhnlich gegenüberstehenden Lager der „Schul-M.“ mit ihrem Anspruch der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und der inzwischen so genannten „Alternativ-M.“, die ihren Anspruch auf den Heilungserfolg stützt.

Mit der zunehmenden Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution), einer sich rapide verändernden Gesellschaftsstruktur und einer sich auf die Lehre von Charles Darwin stützenden Bereitschaft, kausale Erklärungsweisen auch auf gesellschaftliche Ausleseprozesse anzuwenden, wurden an die neue M. Herausforderungen herangetragen, die weit über die hygienische Volksaufklärung des 18. Jh. hinausgingen. Das neue Fachgebiet der Hygiene, das sich in enger Beziehung zur Bakteriologie als selbstständige Wissenschaft mit einer öffentlichen Gesundheitslehre beschäftigte, wurde zur wissenschaftlichen Grundlage für ein öffentliches Gesundheitswesen. Staatliche Maßnahmen, wie sie in Deutschland z. B. mit der gesetzlichen Einführung der Pockenschutzimpfung durch das Reichsimpfgesetz von 1874 umgesetzt wurden, konnten nun wissenschaftlich legitimiert werden. Auch begann der Staat, mit sozialpolitischen Maßnahmen, z. B. der Einführung einer verschiedenen Trägern unterstellten Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung im Jahre 1883 (Sozialversicherung), in die öffentliche Gesundheitspflege einzugreifen.

1.6 Zwanzigstes Jahrhundert

Im frühen 20. Jh. begannen Bestrebungen, die zahlreichen Einzelergebnisse der Chemie, Physik und der medizinischen Wissenschaften in übergeordneten Konzepten zusammenzufassen. Der Biologismus (Ernst Haeckel) versuchte, gestützt auf den Darwinismus, alle Lebensäußerungen durch biologische Funktionsabläufe zu erklären und erlangte wachsenden Einfluss auf alle Wissenschaften einschließlich der Philosophie. Die Vererbungslehre gewann in Verbindung mit dem Sozialdarwinismus nicht nur biologische, sondern zunehmend politische und ideologische Dimensionen und bereitete den Gedanken einer Eugenik und die Idee der Rassenhygiene vor, die v. a. nach den Verlusten des Ersten Weltkrieges und den kriegsbedingten Einschränkungen in den Wissenschaften auf Interesse stieß und in der Weimarer Zeit eine Diskussion über die Euthanasie befeuerte. Der Gedanke der Sozialhygiene als Beziehung zwischen Krankheit und sozialer Situation führte zu einer wachsenden Zahl von Gesundheitsämtern, Beratungs- und Fürsorgestellen für Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder, für Tuberkulosekranke, Alkoholiker und Geschlechtskranke.

Das nationalsozialistische Regime leitete sofort nach der Machtergreifung das Ende der sozialhygienisch orientierten Gesundheitspflege ein und wandelte die öffentliche Gesundheitspflege in eine rassenhygienisch orientierte Erb- und Rassenpflege, in der nicht mehr der karitative Gedanke der Hilfe für das Individuum, sondern ein völkischer Kollektivismus im Vordergrund stand. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 wurden jüdische, halbjüdische und politisch „unzuverlässige“ Beamte entlassen, die Lehrer der alten Sozialhygiene entfernt und die Ortskrankenkassen von rassisch belasteten oder politisch nicht konformen Kräften „gesäubert“. Im Juli 1934 erfolgte die Zerschlagung der kommunalen Gesundheitsämter, die dem Reichsinnenministerium unterstellt wurden. Am 14.7.1933 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, das die zwangsweise Sterilisation bei einer Reihe von Krankheiten vorschrieb und genaue organisatorische Durchführungsbestimmungen für Ärzte, Kliniken und Anstalten verfügte. Im Frühjahr 1939 bereitete ein Reichsausschuss die Tötung geistig behinderter und missgebildeter, später auch gesunder, aber rassisch diskriminierter Kinder vor, die in eigens eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ vollzogen wurde. Die Planung der Tötung Erwachsener, insb. von Patienten von Heil- und Pflegeanstalten, schwer chronisch Kranken, geisteskranken Kriminellen, aber auch „Patienten fremder Staatsangehörigkeit oder Rasse“ (sog.e Aktion T4), begann im Sommer 1939 und wurde am 1.9.1939 durch einen persönlichen Befehl Adolf Hitlers in Gang gesetzt, im August 1941 jedoch aufgrund des deutlichen Widerstandes in der Öffentlichkeit eingestellt. Die Durchführung wissenschaftlicher Experimente an lebenden Menschen ohne deren Einwilligung durch Ärzte in den Konzentrationslagern war Gegenstand des 1946/47 vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg abgehaltenen Prozesses gegen beteiligte Ärzte. Als erste Deklaration zur medizinischen Ethik in der Nachkriegszeit hat der „Nürnberger Kodex“ die Diskussionen über Versuche an Menschen in der M. wesentlich beeinflusst. Nach 1938 war ein Austausch deutscher Wissenschaftler mit den Wissenschaften im Ausland zunächst nicht mehr möglich, während aus Deutschland emigrierte Wissenschaftler im Ausland maßgeblich zu wichtigen wissenschaftlichen Entwicklungen in der M. beitrugen.

Die Nachkriegsgeschichte war durch den Ost-West-Gegensatz bestimmt. Für die wissenschaftliche M. in Deutschland war die Internationalisierung der Forschungssituation mit einer Führungs- und Vorbildfunktion der USA einschließlich der Etablierung der englischen Sprache als Wissenschaftssprache prägend. In der klinischen M. differenzierten sich die medizinischen Disziplinen und Berufe. Zu den Vorteilen dieser Entwicklung gehört u. a. die (Sub-)Spezialisierung der Diagnostik und Therapie, zu den Nachteilen, dass der Patient oftmals durch mehrere Ärzte behandelt und die Arzt-Patient-Beziehung geschwächt wird. Zudem bedingt die Technisierung vieler diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen wachsende Abhängigkeit von einer komplizierten Technik und eine erhebliche Kostenentwicklung. Die Entwicklung der Beatmung mit positiven Drucken, der Techniken der kardio-pulmonalen Reanimation sowie kreislaufwirksamer pharmakologischer Substanzen führten zur Einführung der Intensiv-M. und erlaubten es, den Patienten auch nach einem Herz- und Kreislaufstillstand am Leben zu erhalten, womit sich Fragen nach dem Todeskonzept und nach Grenzen des ärztlichen Handelns aufdrängten. Durch die Einführung der Computer-Tomographie, Kernspin-Tomographie und der sonographischen und anderen bildgebenden Verfahren wurde die Diagnostik revolutioniert. Therapeutisch setzen sich zunehmend minimalinvasive Techniken wie Katheter-Techniken und endoskopische Verfahren durch. Ein auch für die Krankheitssystematik höchst bedeutendes neues Fachgebiet wurde mit der Humangenetik etabliert, das auf der Grundlage der durch das Humangenomprojekt erreichten Sequenzierung und Kartierung des menschlichen Genoms eine zunehmend genaue genetische Diagnostik und durch die Entwicklung von Verfahren wie CRISPR-Cas, die einen präzisen Eingriff in das Genom ermöglichen, neue Ansätze für gentherapeutische Anwendungen in den Blick nehmen lassen. Das naturwissenschaftliche Paradigma kommt insb. in den Überlegungen zu einer System-M. zum Ausdruck, in der sämtliche Funktionen des menschlichen Körpers physikalisch und chemisch beschreibbar und gezielt beeinflussbar sein sollen.

2. Philosophische Anthropologie in der Medizin

Das Wissenschaftsgebiet der philosophischen Anthropologie wird in einer Ausrichtung auf die M. und das ärztliche Handeln auch als ärztliche Anthropologie bezeichnet; es grenzt sich ab von der naturwissenschaftlichen medizinischen Anthropologie, hat jedoch enge Beziehungen zur praktisch ausgerichteten psychosomatisch-anthropologischen M. Die Anthropologie betrachtet die auf dem naturwissenschaftlichen Paradigma beruhende „Lehre von den Krankheiten“ als einen zwar notwendigen, jedoch nicht hinreichenden Ansatz. Sie versteht sich als eine „Lehre vom kranken Menschen“, die Orientierung über die Wesensnatur des Menschen gibt und Charakteristika identifiziert, die durch das dem Menschen mögliche Selbstverhältnis für sein Krankheitsverständnis und für das Verhältnis von Arzt und Krankem mitbestimmend sein können. Denn die Antwort auf die Frage, was der Mensch ist, erschöpft sich nicht nur in der Außen- oder Beobachterperspektive, wie sie die empirischen Wissenschaften einnehmen. Zum Menschen gehört auch das, was nur aus der Innen- oder Teilnehmerperspektive wahrgenommen werden kann, nämlich dass er ein Wissen um sich selbst hat und sich als ein durch alle Erlebnisse und die Zeit durchhaltendes Ich erfährt, sich als Subjekt seiner Wünsche und Pläne wahrnimmt und sich als verantwortlicher Urheber seines Tuns und Lassens versteht. Die Selbsterfahrung macht darüber hinaus auch deutlich, dass das, was aus beiden Perspektiven wahrgenommen wird, eine Einheit ist, da die Ich-Erfahrung unlöslich mit der Leib-Erfahrung, die Selbstwahrnehmung untrennbar mit der Wahrnehmung der anderen, das Selbstbewusstsein mit dem Weltbewusstsein verbunden ist. Während in den empirischen Humanwissenschaften und in den Geisteswissenschaften Außen- und Innenperspektive je für sich thematisiert und in methodischer Begrenzung untersucht werden, geht die philosophische Anthropologie darüber hinaus und untersucht die Frage nach der die beiden Perspektiven übergreifenden Einheit des Menschen. Diese Frage ist für ärztliches Handeln unabdingbar, denn um verantwortlich handeln zu können, muss der Arzt nicht nur die körperliche Befindlichkeit des Patienten, sondern auch seine Einheit und Ganzheit als eine innerhalb ihres kulturell vermittelten Daseinsentwurfes und ihrer sozialen Sphäre stehende Person in den Blick nehmen. Zum Gegenstand der Untersuchung gehören zahlreiche Aspekte wie das spezifische Verhältnis des Menschen zum Leben, seine Subjekthaftigkeit und das Verhältnis von Natur und Vernunft, seine Leiblichkeit und die Leib-Seele-Beziehung, seine Geschlechtlichkeit und sein Sich-Fortpflanzen, seine Zeiterfahrung, die Bedeutung von Krankheit und Tod und die Erfahrung dieser Kontingenzen, seine Raumerfahrung, seine Sozialität, seine Kultur und die ihm eigene Sinnerfahrung.

3. Medizinsoziologie

Die M.-Soziologie ist seit Mitte des 20. Jh. ein im medizinischen Kontext eigenständig bestehender Teilbereich der Soziologie, der sich mit den Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Faktoren und Krankheiten befasst. Unterscheiden lassen sich die Soziologie in der M., welche die Auswirkungen gesellschaftlicher Faktoren auf die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten untersucht, und die Soziologie der M., die sich mit dem Einfluss gesellschaftlicher Strukturen auf die Funktionsweise von Gesundheitssystemen auseinandersetzt. Als erste genuin medizinsoziologische Arbeit gilt gemeinhin das zehnte Kapitel von Talcott Parsons 1951 erschienenem Buch „The Social System“. Seit der Approbationsordnung für Ärzte von 1970 ist die M.-Soziologie Teil der ärztlichen Ausbildung in Deutschland. Zu den klassischen Themen der M.-Soziologie zählen z. B. der Zusammenhang von sozialem Status und Krankheit, die gesellschaftliche Dimension des Krankheitsbegriffs, die Besonderheiten der ärztlichen Profession und die Untersuchung der institutionellen Strukturen von Gesundheitssystemen.

4. Medizintheorie

Die Theorie der M. umfasst im weitesten Sinne die Philosophie und die Methodenlehre der medizinischen Praxis und Forschung und befasst sich mit der Wissenschaftstheorie und Praxistheorie. Ziel ist die methodologische Sicherung und Kontrolle der für die Tätigkeit des Arztes relevanten Urteile. Grundlegend sind die Erkenntnisse, dass dem Erkenntnisakt bestimmte vorbestehende Wertgebungen entgegenstehen, neue Erkenntnisformen immer durch Reste überwundener Denkweisen mitgeprägt sind (Gaston Bachelard) und der Gegenstand der Forschung auf die Konstitution des Wissens um diesen Gegenstand zurückwirkt (George Canguilhem). Bedeutung für die medizintheoretischen Debatten hatte auch die These von Thomas Samuel Kuhn, dass ein vorherrschendes konsensfähiges wissenschaftliches Denkmuster, ein Paradigma, grundsätzlich nicht falsifiziert, sondern nur als unzulänglich ersetzt werden kann, und dass ein Paradigma selbst Erwartungen erzeugt und daher gegen neue Erklärungsmodelle resistent machen kann. Wichtige Forschungsthemen der M.-Theorie sind die komplexen, mehrdimensionalen und dynamischen Phänomene von Krankheit und Gesundheit und ihre praktischen Bezüge sowie die erkenntnis- und handlungsphilosophische Untersuchung unterschiedlicher Krankheitskonzepte und der Möglichkeiten ihrer Erforschung am Menschen.

5. Medizinethik

Medizinisches Handeln hat immer schon Fragen und Probleme moralischer Natur aufgeworfen. Ansätze zur moralischen Normierung ärztlicher Tätigkeit lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Als paradigmatisch hierfür gilt der sog.e hippokratische Eid, der erstmals im 1. Jh. n. Chr. Erwähnung findet und Regeln für den professionsinternen Umgang, v. a. aber für das Arzt-Patient-Verhältnis im Behandlungskontext formuliert. Insb. zwei Bestandteile des Eids lassen ihn spätestens seit dem 15. Jh. in den Rang eines allg. anerkannten Standesethos aufsteigen und gelten noch heute als wesentliche Grundsätze der medizinischen Praxis: die ärztliche Verpflichtung auf das Patientenwohl („salus aegroti suprema lex“) sowie, allen voran, das Gebot, dem Patienten nicht zu schaden („primum nil nocere“). Der Eid stellt die Selbstverpflichtung eines Berufes dar, dessen wesentliche Aufgaben bis heute durch das Recht und öffentliche Gesetze allenfalls einzurahmen, nicht aber abzudecken sind. Die Aufdeckung der Menschenversuche in deutschen Konzentrations- und japanischen Kriegsgefangenenlagern führte in der Mitte des 20. Jh. allerdings zur Einsicht, dass weitere Richtlinien notwendig sind, um missbräuchlichen medizinischen Praktiken vorzubeugen. Im Gefolge wurden zunächst verschiedene ethische Kodizes für ärztliches Handeln, u. a. der „Nürnberger Kodex“ (1947), die Deklaration des Weltärztebundes von Genf (1948, zuletzt aktualisiert 2017), oder die Deklaration von Helsinki (1964, zuletzt aktualisiert 2013) entwickelt, die sowohl den Bereich der medizinischen Forschung als auch den Behandlungskontext regeln. Daneben sind für die Entstehung der modernen M.-Ethik als Teilbereich der allg.en Ethik zwei weitere Entwicklungen maßgeblich: Zum einen der rasante medizinische Fortschritt in der zweiten Hälfte des 20. Jh., in dessen Folge etwa Antibiotikabehandlungen, Chemotherapien, Organtransplantationen, künstliche Befruchtungen, lebensverlängernde Maßnahmen oder genetische Diagnoseverfahren möglich wurden und die behandelnden wie forschenden Ärzte vor bislang nicht gekannte Entscheidungsprobleme stellten, die mit dem tradierten ärztlichen Ethos nicht eindeutig zu beantworten waren. Zum anderen die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die das bis dahin weitgehend paternalistisch aufgefasste Arzt-Patient-Verhältnis in Frage stellte und Patienten wie Angehörige in medizinische Entscheidungsprozesse zu integrieren suchte. In der Folge der ethischen Aufarbeitung der „Tuskegee-Syphilis-Studie“ 1972 sowie der Forschung an lebenden Foeten nach Schwangerschaftsabbruch in den USA wurden 1978 im „Belmont-Report“ der US-amerikanischen „National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research“ mit den Prinzipien der Patientenautonomie (respect for persons), des Wohltuns (beneficence) und der Gerechtigkeit (justice) drei grundlegende Prinzipien benannt. Die beiden US-amerikanischen Bioethiker Tom Lamar Beauchamp und James Franklin Childress arbeiteten diesen Ansatz zu einer umfassenden Theorie aus, die von vier Prinzipien ausgeht, indem sie zusätzlich zwischen beneficence (Wohltun) und non-maleficence (Nichtschaden) unterscheiden. Gemäß diesem Modell sind medizinethisch relevante Entscheidungssituationen unter Maßgabe dieser vier prima facie gültigen Prinzipien zu betrachten, die jeweils kontextabhängig zu spezifizieren und zu gewichten sind. Wenngleich die theoretische Grundlegung der vier Prinzipien, ihr Verhältnis untereinander und ihre Rolle und Tragweite bei der konkreten ethischen Entscheidungsfindung Gegenstand kontroverser Diskussionen ist, haben sie eine weite Akzeptanz und Verbreitung gefunden und kommen heute in der Arbeit zahlreicher klinischer Ethikkomitees und Ethikkommissionen zur Anwendung.

Ab den 1970ern Jahren erfolgte eine zunehmende Institutionalisierung der M.-Ethik, etwa durch die Einrichtung spezieller Forschungsinstitute, klinischer Ethikkomitees in Krankenhäusern, übergeordneten Ethikkommissionen, sowie der Gründung einschlägiger wissenschaftlicher Zeitschriften. In Deutschland wurde die M.-Ethik im Jahre 2003 als verpflichtender Teil in das M.-Curriculum aufgenommen und entspr.e Lehrstühle an den medizinischen Fakultäten eingerichtet. Zudem setzte eine vermehrte rechtswissenschaftliche, theologische und philosophische Auseinandersetzung mit medizinethischen Fragen ein, die neben dem Behandlungs- und Forschungskontext nun auch die sozialen und ökonomischen Randbedingungen medizinischer Therapie und Forschung in den Blick nimmt und sich nicht mehr nur an Ärzte und Patienten, sondern bspw. auch an Angehörige, Pflegekräfte, Kostenträger, Interessenverbände und die Politik richtet. Die von der M.-Ethik bearbeiteten Themen beziehen das Arzt-Patient-Verhältnis und praktisch die gesamte Bandbreite ärztlichen Handelns vom Beginn (z. B. Schwangerschaftsabbruch, Gendiagnostik) bis zum Ende des Lebens (z. B. Intensiv-M., assistierter Suizid) einschließlich des Forschungskontextes ein. Eine bes. Herausforderung ergibt sich mit der Zunahme interkultureller Behandlungssituationen und der Herausbildung einer interkulturellen M.