Masse

  1. I. Soziologisch
  2. II. Politikwissenschaftlich

I. Soziologisch

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Politisch betrachtet ist die „M.“ etwas rein Potenzielles. Sie tritt auf, wo politische Ordnung „noch nicht“ oder „nicht mehr“ existiert. Die M. ist die primäre Zustands- und Erscheinungsform einer Gesellschaft, deren politische Ordnung sich grundlegend verändert. Sie lässt sich zwar beschreiben, charakterisieren, psychologisch und soziologisch untersuchen, politisch aber markiert der Begriff „M.“ eine reine Form.

Diese strukturelle Potenzialität der M. begleitet die Semantik des Begriffs seit seinen Anfängen und macht seine Modernität aus. Erst als sich die unteren Schichten in den revolutionären Bewegungen des 18. Jh. gegen den Absolutismus erhoben, tauchte der Begriff M. als Name für jene anonyme, ungeordnete Vielheit auf, welche die politische Ordnung aus den Angeln zu heben drohte. In den politischen Diskurs eingeführt wurde der Begriff v. a. durch Edmund Burkes „Beobachtungen zur Französischen Revolution“ von 1790 (Französische Revolution), wo aber noch von crowd die Rede ist. Friedrich von Gentz übersetzte dann crowd 1793 mit dem aus dem Französischen adaptierten Begriff der „M.“ als einen Namen für die Gesellschaft im Rohzustand, für eine politisch so zerstörerische wie kreative Potenz.

1. Die Masse in der Moderne

Die meisten Berichte des 19. Jh. schildern die M. als etwas Schockierendes, wie es etwa in den revolutionären Barrikadenkämpfen dieser Epoche sinnfällig wurde, wenn eigentlich wehrlose Menschen unter Ausschaltung jeder Vernunft Akte der Verzweiflungsgewalt begingen, auf die das Militär nicht selten mit M.n-Vernichtung reagierte. Den unbewaffneten M.n blieb, wie es Victor Hugo 1848 formulierte, kaum etwas anderes übrig, als „hervorbrechen“ zu lassen, „was die Schwäche an Stärke im Innersten birgt“ (zit. n. Hertz 2001: 206). Dieser radikal asymmetrische Kampf bewaffneter Einheiten gegen unbewaffnete M.n war in seiner Gewalt nur mit der Niederschlagung aufständischer Kolonialvölker (Kolonialismus) vergleichbar und beide Kontexte bilden in der Tat den historischen Hintergrund, vor dem die M. um 1900 dann auch sozialpsychologisch theoretisiert wurde.

So untersuchte Gustave Le Bon 1895 die M.n aus einer rassentheoretisch geschulten Perspektive und beschrieb sie als die noch unterhalb der „Rasse“ angesiedelte, ungeordnete und chaotische Rohform eines Kollektivs. Sie galt einerseits als etwas Archaisches, andererseits aber auch als Verfallsform vormals stabiler Ordnungen. Für G. Le Bon zeigte sich das in den sozial verelendeten M.n der modernen Industriegesellschaft ebenso wie in den Mini-M.n etwa demokratischer Parlamente. Hier wie dort gehe die eigentliche Struktur der Gruppe ebenso verloren wie jede Individualität und an ihre Stelle trete die wilde, irrationale, eben deshalb aber auch verführbare M.

Diese Manipulierbarkeit der M. sowie ihre Zerstörung von Individualität gehören seitdem und bis heute zu den am meisten betonten Eigenschaften der M. Besonders seit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte eine vielfältige und interdisziplinäre Beschäftigung mit der M. ein. So deutete Sigmund Freud die M. trotz ihrer Verführbarkeit als Trägerin eines kollektiven Unbewussten. Theodor Geiger konzipierte die M. positiv als ein potentiell weltveränderndes Subjekt. Zur gleichen Zeit entdeckte die moderne Werbeindustrie die M. als das eigentliche Zielobjekt ihrer „Propaganda“, wie es Edward Bernays 1928 nannte, was heute PR heißt (Propaganda). Und schließlich entwickelte auch Joseph Goebbels Theorien über die M.n, die diese gleichermaßen herabwürdigten und heroisierten. Bis heute einflussreich blieben aber v. a. jene kritischen Schriften, die in den M.n ein Verfallssymptom der modernen Gesellschaftsentwicklung sahen. Zu ihnen gehören u. a. Sigfried Kracauer, José Ortega y Gasset, Wilhelm Reich, und nach dem Zweiten Weltkrieg Herrmann Broch, David Riesman und Elias Canetti.

Trotz sehr unterschiedlicher Thesen waren sich diese Autoren in der negativen Bewertung der M. als gefährliches Phänomen einig. Daran hat sich bis zum späten 20. Jh. wenig geändert, zumal auch immer wieder auf sie rekurriert wurde. Bis heute gilt die M. als das genaue Gegenteil einer stabilen und strukturierten Sozialform, doch wird ihr zugl. zugesprochen, eine solche werden zu können oder einmal gewesen zu sein.

2. Gegenwartstendenzen

Eben das macht die M. neuerdings für die Demokratietheorie interessant. Denn der eigentliche Souverän einer Demokratie, das „Volk“, muss keineswegs eine vorab geordnete und definierte Gemeinschaft sein. Vielmehr sind heute die meisten Staatsvölker multikulturelle Verbände, ebenso wie etwa die EU und andere Supra-Nationen ihre Legitimität kaum mehr aus einem präexistenten „Volk“ herleiten. Zugl. wird heute der Ruf nach mehr direkter Demokratie lauter. Der damit einhergehende Plausibilitätsverlust repräsentativer und institutionell vermittelter Demokratien hat das Konzept und das Phänomen der ungeordneten, unstrukturierten, aber machthungrigen M. wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt. So richten sich nicht zuletzt die neuen Formen des Populismus bewusst an sehr große, abstrakte Gruppen „normaler“ Menschen, denen sie einen gemeinsamen Willen zuschreiben. Damit wollen sie, obgleich sie bevorzugt vom „Volk“ reden, genau das Potenzial nutzen, das von je her in der noch ungestalteten M. steckte.

Weniger der Begriff der M. scheint damit heute wieder aktuell zu werden als das Versprechen, das mit dem Begriff und dem Phänomen immer schon einherging: im Rückgang auf den Ur- und Rohzustand sozialer Ordnung deren Erneuerung möglich zu machen.

II. Politikwissenschaftlich

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1. Zwei Deutungsmuster

Die Vorstellung von M. ist in den klassischen Arbeiten zur Theorie der M. zumeist negativ konnotiert. Der Einzelne verliert in der M. seine individuellen Eigenschaften und wird dadurch vom handelnden Subjekt zum manipulierbaren Objekt. Der M.n-Zustand des Menschen ist demnach verbunden mit der Absenkung von vorher erreichten zivilisatorischen Standards. „Da der Mensch in der Masse also ein Geringerer wird, als er eigentlich ist, so muß überall, wo die Masse vorherrscht, der seelische Entwicklungsstand sinken“ (Hasse 1919: 50). Dieser kulturkritische Ton (Kulturkritik) findet sich auch in der Auseinandersetzung mit den Phänomenen der M.n-Gesellschaft und der M.n-Demokratie, die von Alexis de Toqueville über Friedrich Nietzsche bis Friedrich August von Hayek in verschiedenen Varianten und mit unterschiedlichen Intentionen formuliert wurde. In der Kritik am M.n-Konsum verbinden sich elitäre, mitunter demokratiefeindliche Ansichten mit ökologischen Argumenten.

Den Übergang zwischen Individuum und M.n-Wesen nennt Elias Canetti „Entladung“: „Vorher besteht die M. eigentlich nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten loswerden und sich alle als gleiche fühlen“ (Canetti, 1999: 16; Hervorhebung im Original). Dieser negativen Sicht der M. stehen allerdings positive Deutungen der M. gegenüber, die in E. Canettis Beschreibung – wenn gleich unfreiwillig – aufscheinen. Sie koppeln den Begriff der M. mittels Egalitätspostulaten an Demokratisierungs- und Emanzipationsvorstellungen, machen aber auch auf die totalitären Implikationen (Totalitarismus) aufmerksam. In revolutionären Situationen avanciert die M. zur Triebkraft des politischen und gesellschaftlichen Fortschritts. In der Rede von der levée en masse, der militärischen M.n-Mobilisierung zur Verteidung der Errungenschaften der Französischen Revolution, wird diese Interpretation sichtbar. Damit rückt wieder der Zusammenhang von M. und Gewalt in der Vordergrund, den auch Karl Marx thematisiert: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ (MEW 1: 385). Die Revolution ist ohne M.n. weder denk- noch durchführbar. Für Wladimir Iljitsch Lenin bedürfen die „revolutionären Massen“ (LW 25: 382) der expliziten Führung der Partei (Kommunistische Parteien), die den Prozess der Revolution anleitet und steuert. Auch im Begriff der „M.n-Organisation“ in der politischen Sprache der DDR spiegelt sich das positive Verständnis wider. Die M.n Organisationen sollen einerseits die Beschlüsse der SED in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verankern, andererseits deren spezifische Interessen systemkonform aufbereiten. Totalitäre Regime sind auf Idee und Organisation von M.n existentiell angewiesen.

2. Masse im Zeitalter der Digitalisierung

Doch weder mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus noch mit den Individualsierungstendenzen in postmodernen westlichen Gesellschaften ist die M. als politisch-soziale Handlungeinheit obsolet geworden. Die Möglichlichkeit der Digitalisierung erleichert die Bildung von realen M.n erheblich. Mittels sozialer Netzwerke können sich große Mengen von Menschen an einem Ort zur selben Zeit verabreden und so eine M. bilden, die friedlich demonstrieren aber auch gewaltätig werden kann. Für Peter Kernskötter und Herbert Stoffels bilden shitstorms eine virtuelle Form von „Hetzmassen“ (Cannetti 1999: 54) im Sinne von E. Canetti. Hetz-M.n sind auf Beute aus. Das Opfer dieser Hatz ist gegenüber der schieren Anzahl seiner Verfolger wehrlos, die Verfolger sind dadurch geschützt. Die Hetz-M. ist „aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will“ (Canetti 1999: 54). Zwar vermag ein shitstorm sein Opfer nicht real zu töten, dennoch kann er ihm enormen und irreversibelen Schaden beifügen. Zudem ist lassen sich mittels social bots M.n. simulieren, die zu Manipulationszwecken benutzt werden.