Lebenswelt

Mit dem Begriff L. hat sich seit der Wende zum 20. Jh. Verheißung und Kritik gleichermaßen verbunden: Die Verheißung von Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und „einfacher“ Wahrheit innerhalb von Kultur, Moral und Schule sowie die damit einhergehende Kritik an der Modernisierung, Technologisierung und Bürokratisierung von Gesellschaft und Wissenschaft. In der Pädagogik verbünden sich Lebensphilosophie und Reform in Ablehnung des „verkopften“, abstrakten schulischen Lernens und in der Suche nach einer lebendigen Einheit authentischer Lebensformen im unmittelbaren Erlebnis.

In der Phänomenologie wird mit dem Begriff der L. die wissenschaftskritische Perspektive zusammen mit der Aufwertung der Doxa der konkreten Erfahrung aufgegriffen. L. wird als Fundierungshorizont ausgewiesen und von einem unkritischen Alltagsbegriff und dessen Trivialisierungen abgegrenzt. Edmund Husserl bestimmt in „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ L. erstens als vorreflexiven Erfahrungsboden und Fundament wissenschaftlichen Wissens, der zweitens genealogisch und strukturontologisch zu rekonstruieren und drittens transzendentalphilosophisch im konstituierenden Subjekt zu begründen ist. L. wird damit zugl. als Lebensumwelt, die sich phänomenal, historisch oder sozialwissenschaftlich rekonstruieren lässt, und als mundane und doxalische Struktur der Konstitutionsleistungen des Subjekts bestimmt. In einer genealogischen Analyse zeigt E. Husserl, dass die „Lebensweltvergessenheit“ (vgl. Hua VI: 48: „Die Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft“) der Wissenschaften mit der Geometrisierung und Mathematisierung des Wissens seit Galileo Galilei und René Descartes einsetzt. Die lebensweltlich „erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt“ wird damit durch eine „Unterschiebung der mathematisch-substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene“ (Hua VI: 49) Welt gehalten. Subjektive Erfahrungen werden als sekundäre, nicht-objektive Erfahrungen gegenüber ihrer methodisch-objektiven, feststellbaren Eigenschaften abgewertet: „Das Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist“ (Hua VI: 52). Gleichwohl führt die These vom Fundierungshorizont der L. und der Entmündigung vorwissenschaftlicher Erfahrungen nicht zu einem unkritischen Alltagsbegriff. Vielmehr versucht E. Husserl unter Anerkenntnis der wissenschaftlichen und humanen Rationalität Universalisierungen mathematisch-naturwissenschaftlicher Theorien aufzubrechen und eine Pluralität differenter Erfahrungs- und Wissensformen zuzulassen und einzuholen.

In der Nachfolge E. Husserls werden die subjekt- und transzendentalphilosophischen Ambitionen verabschiedet und die leiblichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen betont. Martin Heidegger nimmt die Frage nach der L. als Frage nach der Welt auf und wendet sie ontologisch als Frage nach „Weltlichkeit von Welt“ (Heidegger 2001: 63). Deren Beantwortung führt ihn zu einer Daseinsanalyse, die vom besorgenden und vorsorgenden „Um-zu“ des alltäglichen Handelns im praktischen Umgang mit lebensweltlichen und alltäglichen Dingen ausgeht. Bei Maurice Merleau-Ponty tritt an die Stelle der L. der Leib als Medium und Fundament der Erfahrung im „Zur-Welt-Sein“ (Merleau-Ponty 1966: 16). Auch M. Merleau-Ponty betont die Unaufhebbarkeit des doxalischen Grundzugs lebensweltlichen Wissens sowie die Differenz zwischen dem Wissen der Wissenschaften und der lebensweltlichen Erfahrung, wobei der Rückgang auf eine „natürliche Einstellung“ (Hua III: 55) als Illusion ausgewiesen wird (Merleau-Ponty 1966: 82).

In der Soziologie wird die L.-Thematik von Alfred Schütz zu einer phänomenologischen Theorie von der Konstitution der sozialen Welt ausgebaut und von Thomas Luckmann zu einer Proto-Theorie des Sozialen verdichtet (Schütz/Luckmann 1979). Seitdem ist die phänomenologische L.-Analyse fester Bestandteil der interpretativen Sozialforschung. Jürgen Habermas’ Schlagwort von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981: 293) ist ein weiteres Beispiel für eine sozialphilosophische Bestimmung der L. als Medium und Wissensfundament kommunikativen Handelns. In der Sozialpädagogik wird von Hans Thiersch eine „Lebensweltorientierung“ bzw. eine „Alltagsorientierung“ in der sozialen Arbeit ausgerufen (Thiersch 2005).

In der phänomenologischen Erziehungswissenschaft wird von Wilfried Lippitz in den 1980er Jahren das Programm einer lebensweltlichen Wende als „Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung“ (Lippitz 1980) verfolgt. Mit Bezug auf die hermeneutisch-phänomenologische Lerntheorie Günther Bucks betont Käte Meyer-Drawe die Brüche und Diskontinuitäten im Lernen, die mit der Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und lebensweltlicher Erfahrung aufbrechen. Unter Einbezug einer an M. Merleau-Ponty anknüpfenden Theorie der Interkorporalität hat sie eine Theorie des Umlernens entwickelt. Phänomenologische Untersuchungen widmen sich insb. der lebensweltlichen Erfahrung und Wahrnehmung von Kindern, dem kindlichen Raum-, Ding- und Zeit-Erleben unter den Leitaspekten der Leiblichkeit, Fremdheit und Sinnlichkeit bzw. Aisthesis. Diese werden in unterschiedlichen Feldern vorangetrieben – im Horizont der Expressivität des kindlichen Leibes im Theater und im Tanz, im Horizont ästhetischer Praxis und Erfahrung und in unterschiedlichen Fachdidaktiken. Die L.en in Kindertagesstätte, Schule und Unterricht werden empirisch und theoretisch untersucht, wobei Erziehen (Erziehung), Lernen und Aufmerksamkeit als Praktiken geteilter Erfahrung bestimmt werden. In den empirischen Analysen von L.en kommen unterschiedliche Verfahren zum Einsatz: ethnographische, ethnomethodologische, hermeneutische sowie beispieltheoretische in Verbindung mit phänomenologischen.

Aktuell hat die Doxa des lebensweltlichen Alltags meist in Anlehnung an M. Heidegger und Pierre Bourdieu in der soziologischen Praxistheorie sowie in den sozialwissenschaftlichen Forschungen zur Materialität Konjunktur. Damit zeichnet sich eine Verschiebung ab. Die einstigen Verheißungen eines unmittelbaren L.-Bezuges werden zugunsten einer beschreibenden Perspektive auf die dinghaften und materialen Lebensvollzüge sowie auf den praktischen Umgang damit zurückgeführt. Ob sich allerdings damit das von Hans Blumenberg ausgewiesene L.-Paradox – der Suggestion der einen Welt, „in der man nur leben müsse, um in ihr zu leben“ (Blumenberg 1981: 4) – umgehen lässt, wird noch zu prüfen sein.