Kontingenz

K. bezeichnet die gleichzeitige Nicht-Notwendigkeit und Nicht-Unmöglichkeit. Kontingent ist also dasjenige, was es geben kann, aber nicht geben muss bzw. was so sein kann, aber nicht muss. Der deutsche Ausdruck stammt vom lateinischen contingentia her und ist erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. gebräuchlich geworden. Auf K. wird Bezug genommen, um entweder bes., evtl. sogar unvorhersehbare Umstände für das Bestehen jeweiliger Zustände herauszustellen, die Instabilität oder Wandelbarkeit des Bestehenden zu thematisieren oder die Offenheit von Verhältnissen zu betonen.

Daneben gibt es eine Verwendungsweise des Ausdrucks in der Statistik, mit dem der Grad der Wahrscheinlichkeit angegeben wird, dass zwei voneinander unabhängige Sachverhalte gemeinsam auftreten. Diese Verwendungsweise wird hier nicht weiter betrachtet.

1. Geschichte

Die Bestimmung der K. hat ihren Ausgang bei Aristoteles genommen: In seiner „Hermeneutik“ unterscheidet er die (logisch) notwendige Wahrheit der Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden, oder es wird keine stattfinden.“ von der kontingenten Wahrheit bzw. Unwahrheit der Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden.“ (19a 23–33). Bereits dieses Beispiel verdeutlicht, dass K. nicht mit Zufall (tyche) gleichzusetzen ist, wenn jener so verstanden wird, dass er keine Ursache im Vorhergehenden hat. K. gibt vielmehr einen Indeterminismus an. Dies formuliert Aristoteles in der „Ersten Analytik“, wenn er das „Allermeist-so-seiende“ (endechomenon) erklärt, das den griechischen terminologischen Vorläufer für die lateinische contingentia bildet. Kontingent ist sowohl das Erwartbare, was aber auch nicht eintreten kann, wie auch das Unerwartbare, das aber nicht ausgeschlossen ist.

Die mittelalterliche Philosophie greift die antiken Ausgangspunkte auf und diskutiert intensiv über die Notwendigkeit natürlicher Kausalverhältnisse und die futura contingentia, d. h. die Wahrheitswerte von Aussagen über zukünftige Sachverhalte. Dabei unterbreiten Autoren wie Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham unterschiedliche Überlegungen, wie die relative kausale Indeterminiertheit der physikalischen Welt, also deren teilweise K., mit der Notwendigkeit der Geltung des göttlichen Willens in der Welt einhergehen kann. Diese Diskussionen betreffen nicht nur die Naturphilosophie, sondern sie zielen auch darauf ab, den Spielraum menschlicher Willensfreiheit zu umreißen. Die Einsicht in die K. des Handelns führt spätestens ab dem 16. Jh. bei Autoren wie Niccolò Machiavelli zu einer Konzeption politischer K., die die Politik zum paradigmatischen Bereich von Verhältnissen erklärt, die keinen strengen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Daraus wird abgeleitet, dass ein Erfahrungswissen von diesen Verhältnissen sowie ein strategischer Umgang mit ihnen erforderlich ist, was gewährleistet, dass auf jeweils sich bietende Möglichkeiten adäquat reagiert wird.

Vom 16. Jh. an breitet sich die Untersuchung der K. sowohl in den entstehenden Naturwissenschaften, als auch in normativen Diskursen zunehmend aus, wobei der Ausdruck im Englischen bereits im 16. Jh. häufig gebraucht wird, im Spanischen ab dem 17. und im Italienischen und Französischen dagegen erst seit dem 18. Jh. Im Deutschen werden insb. in der Aufklärung ähnliche Themen verhandelt, allerdings unter dem Titel der „Zufälligkeit“. Im 20. Jh. dient der Bezug auf K. zunächst v. a. dazu, sowohl das Verhältnis der Naturgesetze zu Einzelphänomenen bzw. die Gesetzmäßigkeit der physikalischen Welt, als auch logische Abhängigkeiten genauer zu bestimmen.

2. Systemtheorie

Zu einem Modebegriff ist die K. seit den 1970er Jahren geworden, als sie in verschiedenen gesellschafts- und kulturtheoretischen Ansätzen ins Zentrum gerückt wird. Insb. in der Systemtheorie Niklas Luhmanns wird sie zu einem wichtigen Ausgangspunkt: Die natürliche, wie auch die soziale Welt bietet Akteuren eine Vielfalt heterogener Anreize, Schwierigkeiten und Anschlussmöglichkeiten, so dass nicht davon auszugehen ist, dass weltliche Gegebenheiten das Handeln determinieren. Akteure müssen vielmehr eine Selektion vornehmen, womit sie kontingent auf die Welt reagieren. D. h. nicht, dass die Selektion willkürlich oder zufällig wäre, aber sie ist weder durch die Welt selbst, noch durch andere Akteure eindeutig festgelegt, sondern auch durch Interessen, Ziele, Aufmerksamkeit, Erfahrungen und vielem mehr bestimmt. Unter Aufnahme eines Terminus von Talcott Parsons folgert N. Luhmann aus diesem Verhältnis zwischen Akteuren und Welt bzw. anderen Akteuren, dass in sozialen Situationen von einer doppelten K. auszugehen ist. Für alle Interagierenden gilt (also auf beiden Seiten der Interaktion, daher „doppelt“), dass sie in einem kontingenten Welt- und Sozialverhältnis stehen und daher für die jeweils anderen Interaktionspartner nicht über Externes, wie den aktuellen Weltzustand, natürliche Bedürfnisse oder die Einbettung in eine soziale Umwelt, zu verstehen sind. Sozialität, also koordiniertes oder sogar kooperatives Handeln, ist folglich „unwahrscheinlich“, d. h. eine bes. Herausforderung. Soziale Systeme bilden sich daher, so N. Luhmann, nicht primär deswegen aus, weil mit ihnen spezifische Probleme oder Anliegen bearbeitet werden. Sie dienen v. a. zur Reduktion der doppelten K., also als Beitrag dazu, dass soziales Handeln mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt. Die sozialen Systeme werden damit selbst in gewissem Maß kontingent, da sie keine unmittelbaren Funktionen für bestimmte Koordinationen oder Problemlösungen erfüllen, sondern vielmehr dafür überhaupt erst die Voraussetzungen schaffen.

In einer allg.eren kulturkritischen Perspektive (Kulturkritik) wird auch die K. selbst und ihre Erfahrung als Problem für Menschen erachtet, so dass insb. die Religion und andere Ordnung bietende Lebensentwürfe als Phänomene der K.-Bewältigung verstanden werden.

3. Postmoderne

Heute wird der Verweis auf K. oft so verstanden, dass mit ihm die Offenheit und Revidierbarkeit sozialer oder politischer Ordnung betont bzw. gefordert wird, und zwar deshalb, weil ihre Grundlagen nicht notwendigerweise so sein müssen, wie sie sind. Stichwortgeber für dieses Verständnis war insb. Richard Rorty, der im Anschluss an die Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins von der K. jeweiliger Sprachen, subjektiver Selbstverständnisse sowie der darauf aufruhenden politischen oder sozialen Gemeinschaften spricht. Der Verweis auf die K. soll dabei einerseits erklären, warum kritisch-dekonstruktive Perspektiven (Dekonstruktion) auf gegebene Strukturen bzw. Sachzwänge und deren bloß vermeintliche Normalität möglich oder sogar erforderlich sind. Andererseits soll herausgestellt werden, dass auch moralische oder sonstige normative Verpflichtungen nicht schon deswegen auf Erfüllung dringen, weil sie vernünftigerweise gelten. Moralität oder Solidarität ist, dieser Perspektive zufolge, selbst kontingent und bedarf daher beständiger Erneuerung, die jedoch immer fragil bleibt und tendenziell verdeckt, dass sie nur eine Möglichkeit unter anderen ist, Verbindlichkeit zu erzeugen. Dieses K.-Bewusstsein kennzeichnet viele Theorien der Postmoderne, die jene als Zeitalter begreifen, in dem offensichtlich geworden ist, dass moralische Erwartungen, Wissensbestände und jegliche Form von Ordnung nur relativ zu lokalisierbaren Praktiken gelten.