Konstitutionalisierung

Der Begriff der K. bezeichnet im Grundansatz eine Prozesskategorie – ein Rechtszustand bewegt sich hin auf Formen des Konstitutionalismus, bildet Elemente einer Verfassungsordnung aus. Begriffslogisch steht das Konzept der K. damit in einem engen Zusammenhang mit dem Verfassungsbegriff. Welche Entwicklungsprozesse als Phänomene der K. beschrieben werden können, hängt eng mit den Konturen des jeweils verwendeten Verfassungsbegriffs zusammen. Dies ist erkennbar schon im Kontext der Verfassungsgeschichte, wo der Begriff seit Jahrzehnten als beschreibende Kategorie Verwendung findet. Geläufig ist der Begriff auch im nationalen öffentlichen Recht. Hier bezeichnet er einen Prozess der allmählichen Überformung des einfachen Rechts durch Konzepte des Verfassungsrechts und die Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung, im Sinne einer zunehmenden Ausrichtung des einfachen Rechts an Vorgaben der Verfassung. Aus dem öffentlichen Recht ist der Begriff der K. dann auch übertragen worden auf das Europarecht. Der Prozess der Ausformung einer eigenen Schicht „europäischen Verfassungsrechts“ ist in der Literatur vielfach beschrieben worden als Prozess der K. Europas. Stärker umstritten ist dagegen die Verwendung des Begriffs der K. im Völkerrecht. Lassen sich zentrale Wandlungsprozesse des Völkerrechts tatsächlich als Phänomene der K. beschreiben? Problematisch ist hier schon die Reichweite des Verfassungsbegriffes, der auf die internationale Ordnung nicht bruchlos zu übertragen ist. Weite Teile der klassisch orientierten Völkerrechtswissenschaft stehen dem Konzept der K. daher bis heute skeptisch gegenüber, wenn sich auch das Paradigma der K. und des Global Constitutionalism in der völkerrechtlichen Debatte zunehmender Prominenz erfreut.

1. Der Begriff der Konstitutionalisierung im Kontext der Verfassungsgeschichte

Seit vielen Jahrzehnten wird der Begriff der K. im Rahmen der Verfassungsgeschichte verwendet. Völlig unstreitig ist dabei seine Anwendung auf die bürgerlichen Verfassungsrevolutionen seit dem späten 18. Jh. V. a. für den Siegeszug des liberalen Konstitutionalismus im 19. Jh. hat sich ein Narrativ der K. fest eingebürgert, das die fortschreitende Ausbildung von Verfassungsurkunden und deren grundsätzlichen Primats in Kategorien eines gerichteten historischen Fortschrittsprozesses beschreibt. Teile der Disziplin benutzen den Verfassungsbegriff auch für vormoderne Formen der rechtlich institutionalisierten Herrschaftsbegrenzung. So beschreibt etwa Dieter Wyduckel die allmähliche Ausformung einer Schicht spezifisch herrschaftsbegrenzender Normen, in Form der Wahlkapitulationen und „Reichsgrundgesetze“ des Alten Reiches, ausdrücklich als Prozess der K. In einem solchen, eher weiten (und beschreibenden) Sinne einer Entwicklung hin zu einer „verfassten Ordnung“ wird der Begriff vielfach anschlussfähig und kann für recht unterschiedliche Phänomene der Ausbildung von institutionalisierten Ordnungsstrukturen verwendet werden.

2. Der Begriff der Konstitutionalisierung im Kontext des Öffentlichen Rechts

Eine ähnliche Prozesshaftigkeit kommt dem Begriff auch im öffentlichen Recht zu. Verwendet wird er dort als Prozesskategorie schon seit Jahrzehnten. So sprach das BVerfG etwa im Urteil zum KPD-Verbot (BVerfGE 5, 85, 388) schon 1956 davon, das GG habe mit der Bestimmung des Art. 21 GG „bewußt den Schritt der ‚Konstitutionalisierung‘ der politischen Parteien getan“. Gemeint ist damit der Schritt der verfassungsrechtlichen Aufladung der Position der politischen Parteien in ihrer bes.n Rolle für das Funktionieren des demokratischen Systems. In einer prozesshaften Dimension wird der Begriff der K. seither im Rahmen des öffentlichen Rechts immer wieder verwendet. „Als ein solcher Prozessbegriff lenkt er innerhalb des traditionellen Begriffsfeldes von Verfassungsstaatlichkeit die Aufmerksamkeit auf die Zeit nach der Verfassunggebung. In ihr muss die Verfassungsidee und müssen die Prinzipien der Verfassung erst Kraft gewinnen und im Laufe der Zeit tiefere Wurzeln schlagen“ – so Rainer Wahl (2002: 191). Thematisiert ist damit ein Problem, das die Staatsrechtslehre bis heute beschäftigt. Mit der politischen Grundentscheidung, über Verfassunggebung bestimmte Vorgaben für die Ausgestaltung der Rechtsordnung zu schaffen, ist die Rechtsordnung selbst noch lange nicht transformiert. Die Verfassung mit ihren Vorrangnormen hat zunächst Programmcharakter; ihre Vorgaben müssen in einem langwierigen Prozess erst dessen Institutionen, Gestalt und Praxis umgestalten und langsam den Leitprinzipien und konkreten Vorgaben der Verfassung anpassen. Wissenschaftliche Prominenz hat der Begriff der K. im deutschen öffentlichen Recht 2000 mit dem Buch von Gunnar Folke Schuppert und Christian Bumke zu „Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ (2000) erlangt. Die Debatte über die Folgewirkungen der K. ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen.

3. Der Begriff der Konstitutionalisierung im Kontext der Europäischen Union

Die Übertragung des Konzepts der K. auf die Entwicklung der EU lag nahe. Mit dem Quantensprung des Maastricht-Vertrages setzte eine Debatte über den Charakter der europäischen Verträge als „Vertragsverfassung“ ein. Begreift man jedoch das Primärrecht der EU als „Verfassung“, so drängt es sich auf, von der weiteren Verfassungsentwicklung der EU als einem Prozess der K. zu sprechen. Mit großer Wucht setzte dieser Diskurs im Kontext der Debatten um den (letztlich gescheiterten) Verfassungsvertrag ein. Eine ganze Flut an Veröffentlichungen europarechtlicher wie politikwissenschaftlicher Natur nahm das Paradigma der K. auf und beschrieb den Entwicklungsprozess der Verträge (und die darüber geführten Debatten) als K.s-Prozess. Die Verwendung des Begriffes für die Entwicklungsdynamik der EU wird dabei heute kaum mehr problematisiert. Streitig ist vielmehr im Kern die normative Deutung und Bewertung des so beschriebenen Prozesses hin zu einem europäischen Konstitutionalismus. Lassen sich die tragenden Grundsätze moderner Verfassungsstaatlichkeit wirklich ohne dramatische Verluste auf das Verbundgefüge der EU übertragen? Die Polarität der Positionen lässt sich an den Namen von Dieter Grimm und Jürgen Habermas festmachen. Ein Teil der Literatur (wie etwa D. Grimm) bleibt skeptisch und mahnt an, die Verschiebung immer mehr staatlicher Funktionen auf die europäische Ebene führe zu erheblichen Verlustanzeigen nationaler Verfassungsstaatlichkeit, insb. im Blick auf das Demokratieprinzip. J. Habermas beklagt demgegenüber fatale Denkblockaden im traditionellen Verfassungsdenken und plädiert für ein neues Narrativ, in dem er den Einigungsprozess in den langfristigen Zusammenhang der Verrechtlichung und Zivilisierung staatlicher Gewalt einordnet. Um demokratische Verfassungsstaatlichkeit auch auf europäischer Ebene möglich werden zu lassen, müsse das bislang hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt endlich auf den Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umgepolt werden.

4. Der Begriff der Konstitutionalisierung im Kontext des Völkerrechts

Ungefähr zeitgleich mit der Übertragung auf die Verfassungsentwicklung im Rahmen der EU hat auch eine Debatte über die K. des Völkerrechts eingesetzt. Ausgangspunkt ist dabei der von einer Reihe von Autoren konstatierte Befund, dass auch das Völkerrecht in wichtigen Bereichen zunehmend Züge einer verfassungsähnlichen Ordnung annimmt. In der Folge ergebe es durchaus einen Sinn, die zunehmende innere „Hierarchisierung“ der internationalen Rechtsordnung, die „Ausbildung einer normativen Vorrangordnmung mit übergeordneten Prinzipien und herrschaftslegitimierenden Elementen“ (Knauff 2008: 455) sowie die Ausbildung institutioneller Organisationsverfassungen für wichtige Teilbereiche des Völkerrechts als Prozess der Entwicklung hin zu „Konstitutionalität“ zu beschreiben, wenn auch der Konstitutionenbegriff hier sehr weit verstanden bleibt, abgelöst vom staatszentrierten Verfassungsbegriff deutscher Tradition. In den ersten Jahren um 2000 war dieser Diskurs sehr durch deutsche Autoren geprägt. Über die Jahre hinweg internationalisierte sich der K.s-Diskurs jedoch und verlagerte sich in die zentralen Zeitschriften und Sammelbände englischer und amerikanischer Provenienz. Z. T. wurde das Paradigma der K. emphatisch bejaht, als Prozess einer gradual emergence konstitutionalistischer Elemente in der internationalen Rechtsordnung, die festgemacht wurde an der Relativierung der Souveränität, der graduellen Ersetzung des Konsensprinzips (Konsens) durch (qualifizierte) Mehrheitsentscheidungen (Mehrheitsprinzip), der Einlagerung fundamentaler Wertsetzungen (wie der Menschenrechte) in den Korpus des internationalen Rechts und der zunehmenden „Autonomisierung“ rechtlicher Steuerungsdiskurse durch die Überantwortung verbindlicher Streitentscheidungen an internationale Gerichte. Zugl. wurde das Paradigma der K. aber auch heftig kritisiert – als empirisch-analytisch nicht fundiert und als politisch überambitioniert. Empirisch sei die K. eine wenig belegbare Behauptung – das Anwachsen von Verfassungsfunktionen sei nicht nachweisbar, die zum Beleg herangezogenen Einzelphänomene würden in ihrer Bedeutung für das Ganze der Völkerrechtsordnung völlig überinterpretiert. Zugl. sei das Paradigma der K. politisch eher gefährlich – es werde in Teilen zu affirmativ verwendet und schreibe dem Völkerrecht überschießende konstitutionelle Elemente zu, die eine nicht gerechtfertigte Legitimitätsbehauptung implizierten; in anderen Teilen werde es in überkritischer Tendenz als Mittel der Denunziation des bestehenden Völkerrechts eingesetzt. Mit anderen Worten: K. sei ein „academic artefact“ (Koskenniemi 2007: 18), das der Entwicklung des Völkerrechts von außen eine Teleologie unterlege, die ihr eigentlich fremd sei, laufe letztlich auf „policy proscriptions“ (Wood 2009: 97) hinaus, die dem Völkerrecht eine (gewünschte) Entwicklungsrichtung unterschöben. Doch genau aus diesem Charakter des „akademischen Artefakts“ bzw. des „Narrativs“ sucht der avancierte Strang der Theoretiker der K. positive Kraft zu ziehen. Im Angesicht der fortschreitenden Verflechtung der Gesellschaften und Staaten, der unabweisbaren Notwendigkeit der Verlagerung immer weiterer wichtiger Politikfunktionen auf die internationale Ebene und der im Gefolge drohenden Auszehrung des nationalen Konstitutionalismus sei die Ausbildung herrschaftsbegründender wie herrschaftsbegrenzender Bauelemente, also konstitutioneller Elemente, im Recht der internationalen Gemeinschaft mehr als dringend. Das Paradigma der K. halte die wichtigen Grundfragen der Fairness, Gerechtigkeit und Effektivität der internationalen Rechtsordnung wach. Gerade als mindset sei die Brille des global constitutionalism von enormer Wichtigkeit, sei die große Tugend der konstitutionalistischen Sichtweise doch ihr „universalizing focus allowing extreme [injustice] in the world to be not only shown but also condemned“ (Koskenniemi 2007: 35). Die konstitutionalistische Sichtweise fungiert in dieser Wahrnehmung als normatives Gewissen der Völkerrechtslehre wie Völkerrechtspraxis, die sie immer wieder mahnt, die zahlreichen Defizite der bestehenden Völkerrechtsordnung nicht zu verdrängen.