Konsens

1. Begriff und Begriffsgeschichte

K. leitet sich vom lateinischen consensus ab und bedeutet Übereinstimmung i. S. d. Einmütigkeit oder Einstimmigkeit eines Beschlusses. Vom Individuum her betrachtet, meint er dessen Zustimmung. Verwendung in zentraler Bedeutung findet er sowohl in der theoretischen Philosophie (in Erkenntnis- und Wahrheitstheorie), als auch in der praktischen Philosophie (Ethik und Politik). Als Gegenbegriffe fungieren u. a.: Dissens (bei Verständigungsprozessen), Konflikt (in Gesellschaftstheorie und Politikwissenschaft), Kompromiss (als Entscheidungsmodus), Mehrheitsprinzip (als Entscheidungsregel). Zu unterschieden ist, ob der K. als ein realer verstanden wird oder – wie zumeist – als fiktiver und normativ qualifizierter („begründeter K.“).

In der Wahrheitstheorie stehen K.-Theorien der Wahrheit u. a. Auffassungen gegenüber, die Wahrheit mit Bezug auf die Korrespondenz von Aussage und Sachverhalt oder mit Bezug auf Kohärenz bestimmen. Schon in der antiken Philosophie spielt K. in der Wahrheitssuche eine zentrale Rolle. So lässt etwa Platon durch Sokrates feststellen: „Ich weiß gewiss, dass, was du mir zugibst von meinen Meinungen, dieses dann gewiss die Wahrheit selbst ist.“ (Gorg. 486e). Weitergehend anerkennt Aristoteles das übereinstimmende Urteil als gültiges Kriterium der Wahrheit (NE 1172 b 36 f.). Während aber in antiken Quellen Homologie oder K. als Indiz für die Wahrheit fungiert, die selbst als Verhältnis der Korrespondenz zwischen dem Verständnis einer Sache und der Sache selbst aufgefasst wird, wird Wahrheit in den K.-Theorien der Philosophie des 20. Jh. durch K. erst bestimmt. Danach ist mit Wahrheit nichts anderes gemeint, als was sich in einem zeitlich unbegrenzten Forschungsprozess als K. herausbilden würde. Oder mit Wahrheit einer Behauptung ist nichts anderes gemeint als das Versprechen, unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation mit jedem potentiell Beteiligten einen argumentativ begründeten K. über das Behauptete erzielen zu können und damit den Geltungsanspruch auf Wahrheit diskursiv einzulösen.

2. Positionen praktischer Philosophie

In der praktischen Philosophie fungiert K. ebenfalls seit der Antike als Grundbegriff. Laut Cicero ist das Volk (populus) in der politischen Ordnungsform der res publica durch die Gemeinschaft des Nutzens (communio utilitatis) sowie durch die Übereinstimmung des Rechts (consensus iuris) definiert. In der Übereinstimmung der Völker (consensus omnium gentium) wiederum will Cicero ein Gesetz der Natur erkennen (Tusc. I, 30). Auch der Gedanke der allseitigen Zustimmung findet sich bereits vor der neuzeitlichen Vertragstheorie seit dem 13. Jh. in der politischen Umdeutung eines Prinzips des römischen Rechts, dass, was alle betrifft, auch von allen akzeptiert werden müsse („Quod omnes tangit ab omnibus tractari et approbari debet“). Als K.-Erfordernis findet die Formel u. a. Eingang in das (kirchen-)politische Denken des Spätmittelalters bei Wilhelm von Ockham. In dessen „Dialogus“ heißt es, der Gesamtheit der Sterblichen dürfe niemand vorgesetzt werden, es sei denn durch ihre Wahl und Zustimmung („nisi per eleccionem et consensum“). Ergänzend fügt W. von Ockham hinzu: „was alle betrifft, muss von allen verhandelt werden“ (III Dialogus 2, 3, c. 6). Auch Nikolaus von Kues macht von der Formel für seinen Konziliarismus und seine K.-Politik Gebrauch. „Da von Natur aus alle Menschen frei sind, beruht jede Herrschaft, sei es in der Form des geschriebenen Gesetzes, sei es in Form des lebendigen Gesetzes des Fürsten, allein auf der Konkordanz und der Zustimmung (consensus) der Untergebenen […] wie auch das Gesetz nur durch einen Konsens konstituiert wird“ (De concordantia catholica II: 14).

„Eine philosophische Schlüsselfunktion übernimmt der Begriff Konsens […] in der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts“ (Bayertz 1996: 61). Im politischen Denken der Neuzeit werden Gesellschaft und Staat weder ohne weiteres als traditionelle oder natürliche noch als göttliche Gegebenheiten betrachtet. Daher kommt der individuellen Zustimmung aller in den Vertragstheorien des 17. und 18. Jh. entscheidendes Gewicht zu, um eine politische Ordnung einzusetzen und zu rechtfertigen. John Locke betont: „Da die Menschen […] von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung (without his own Consent) aus diesem Zustand verstoßen werden und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen […]“ (Locke 1995: II § 95). J. Locke wird damit zu einem der Vorläufer liberaler Theorien (Liberalismus). Die Bedeutung von individueller Freiheit, Autonomie und Gleichheit hat die Forderung eines K.es zur Folge, um sicherzustellen, dass niemandes Freiheit gegen seinen Willen eingeschränkt wird. Da die Entscheidungskosten beim K.-Prinzip indes sehr hoch sind und kollektive Entscheidungen dadurch nahezu ausgeschlossen wären, rechtfertigt J. Locke in einem zweiten Schritt das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel. „Wenn eine Anzahl von Menschen darin eingewilligt (consented) hat, eine einzige Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden, so haben sie sich ihr damit gleichzeitig einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten“ (Locke 1995: II § 95). Die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen hat aber die urspr.e konsensuale Zustimmung zur Voraussetzung. Auf charakteristische Weise zugespitzt wird das K.-Erfordernis bei Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk „Du contrat social“. Der einheitliche Wille einer politischen Gemeinschaft ergibt sich bei ihm nicht aus einem Kompromiss bzw. aus der Summe der jeweiligen Einzelwillen (volonté de tous), sondern wird als allg.er Wille (volonté générale) vorausgesetzt, in dem sich kollektives Interesse bekundet. Die politische Gemeinschaft besteht daher als sittlich geeinte, vornehmlich kleine Republik mit hoher K.-Fähigkeit.

3. Politikwissenschaftliche Ansätze

In der deutschen Politikwissenschaft hat insb. Ernst Fraenkel J.-J. Rousseaus Idee eines vorgegebenen Allgemeinwillens zurückgewiesen und das politische K.-Problem als Problem der pluralistischen Demokratie (Pluralismus) reformuliert. Während einerseits die Anerkennung individueller Freiheit einen erhöhten Bedarf an K. in der Gründung und Rechtfertigung politischer Ordnung erzeugt, erschwert sie andererseits zugl. dessen Zustandekommen. Der Gebrauch der Freiheit lässt Menschen verschiedene Lebensformen praktizieren, unterschiedliche Weltauffassungen und Wertvorstellungen entwickeln und führt damit zu einer pluralistischen Gesellschaft, in der soziale und politische Konflikte zu erwarten sind. In modernen Gesellschaften geht es daher um Bildung politischer Ordnung und das Treffen politischer Entscheidungen sowohl unter K.- als auch unter Konfliktbedingungen, wobei der zugrundeliegende K. einerseits die Bedingungen und Verfahren eines gewaltfreien Konfliktaustrags regelt, andererseits ein Maß relativer Homogenität (ein schmaler „Grundkonsens“ nach E. Fraenkel) verbürgt, das bes. auf Partizipation und Loyalität beruhende demokratische Regierungsformen dauerhaft stabil hält. John Rawls hat in diesem Zusammenhang die liberale Idee eines übergreifenden K. (overlapping consensus) entwickelt. Niklas Luhmann hingegen negiert die Möglichkeit, dass moderne Gesellschaften sich überhaupt noch mittels eines freien normativen, wenn auch politisch begrenzten Grund-K.es integrieren können.

Laut Hans Vorländer bedeutet K. „zum einen die prozeßhafte Gemeinwohlbildung in einem durch Interessen gestalteten Pluralismus, zum anderen die gemeinsame Basis für den Interessenaustrag. Konsens […] wird sowohl prozessual wie auch ordnungspolitisch verstanden“ (1981: 223). Deliberative Demokratietheorien weisen darüber hinaus darauf hin, dass sich im konsensorientierten kommunikativen Prozess Interessen und Überzeugungen nicht allein in geregelter Form kompromisshaft austarieren, sondern sich auch unter dem Gesichtspunkt eines möglichen allg.en Interesses bewähren müssen und wandeln können. So besehen kann der „vernünftige K.“, wie er in Theorien deliberativer Demokratie firmiert, als „ein Nachfolgebegriff der volonté générale“ (Petersen 1991: 27) verstanden werden.

Demokratietheorien unterscheiden ferner zwischen K.- (Consensus Model) und Mehrheitsdemokratien (Westminster Model). Das K.-Modell ist durch eine Vervielfältigung der Orte der Macht charakterisiert. Arend Lijphart nennt als Kriterien: Teilung der Exekutivgewalt durch Koalitionsregierungen, ausgeprägte Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative; Mehrparteiensystem; Verhältniswahlrecht; Interessengruppen-Korporatismus; Föderalismus; Zweikammernsystem; eine nur schwer änderbare Verfassung; Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die Unabhängigkeit einer Zentralbank.