Kommunitarismus

  1. I. Philosophisch
  2. II. Politikwissenschaftlich

I. Philosophisch

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John Rawls meisterliche Gerechtigkeitstheorie (Gerechtigkeit) löste vornehmlich in den USA der Reagan- und Bush-Administration eine international lebhafte Debatte über die politisch-ethischen Bestandsvoraussetzungen freiheitlich verfasster Gesellschaften aus. Auf der Seite der Kritik formierte sich schnell eine Avantgarde aus nicht minder begabten Köpfen, die den einseitigen liberal-individualistischen Fairness-Ansatz von J. Rawls durch eine sittlich ausbalancierte, gemeinwohlorientierte Vision des Guten überwinden helfen wollte. Die argumentative Strahlkraft der kommunitaristischen public philosophy verdankte sich dabei v. a. der rhetorisch-dramatischen Begabung ihrer (politisch durchaus heterogenen) Autorenschaft, die normative Selbstverzehrung des modernen Liberalismus in immer neuen Bildern und originellen, Stil prägenden Metaphern, Begriffen, Mentalitätsgeschichten und Narrativen durchspielen zu können. So befeuerte die These von der Unhintergehbarkeit des Sozialen insb. die Debatte um die erodierende Zivilgesellschaft; und ihre Gemeinsinn- und Bürgerrhetorik zirkulierte nicht nur in den esoterischen Kreisen der akademischen Selbstverständigung, sondern sie prägte darüber hinaus eine zeitlang auch den soziologischen Blick von Politik, Öffentlichkeit und Medien auf Gesellschaft, Kultur und Philosophie. Auf geschickte Weise verknüpfte dabei der K. ein zeitdiagnostisch-diffuses Gefühl des Unbehagens an der Moderne mit einer historisch-hermeneutisch imprägnierten Gemeinschafts- und Sozialphilosophie, die über die apriorischen Selbst-Konstruktionen des Gerechtigkeitsliberalismus ein Netzwerk aus sozialen Beziehungen legte.

1. Die Philosophie des Kommunitarismus

In seinem philosophischen Selbstverständnis geht es dem K. im Wesentlichen um die Analyse der modernen Gesellschaftspathologien – und nicht darum, Demokratie, Gewaltenteilung und die Neutralität des Rechts in toto abzulehnen. Sein bevorzugtes Denkmilieu ist deshalb die Kritik: Kritik allerdings nicht im Sinne eines universalistisch formalisierten Anderswo, sondern im Sinne eines sich unter Zugehörigkeitsbedingungen abspielenden unendlichen Prozesses von Austausch und Interpretation. Folglich konzentriert sich das immanente Reformprojekt des K. in der Post-Rawls-Ära im Wesentlichen auf drei Debattenfelder: Es formuliert erstens eine Kritik am atomistischen Personenbegriff des Liberalismus, verteidigt zweitens die Priorität des Guten vor dem Rechten und kontextualisiert drittens den Universalismus der Moderne im Hinblick auf Interpretation und Narration. Damit ist eine methodische Aufwertung von Tradition und Sittlichkeit, von Tugend und Gemeinsinn verbunden, die auch neue Impulse in der gegenwärtig geführten Debatte über eine „Wiederkehr der Religion“ zu setzen vermag. Das hermeneutische Panorama reicht hier von der Wiederentdeckung der politischen Kraft religiöser Narrative über eine Kritik an der teleologischen Säkularisierungsthese (Säkularisierung) bis hin zur Verherrlichung einer jenseits von Institutionen und Regelwerken existierenden aristotelisch-thomistischen Gemeinschaftsethik.

Philosophisch ist die kommunitaristische Kritik am politischen Liberalismus insofern relevant, als dass sie erstens dessen fatale Abhängigkeit von einem atomistisch-solipsistischen Personenkonzept zu beweisen sucht; für den K. stellt nämlich die liberalistische Fixierung auf ein einsames, frei wählendes Vertragssubjekt schlichtweg eine Verkennung des anthropologischen Grundfaktums unseres menschlichen Situiertseins dar. Und folglich ist auch die Rede von der Existenz eines solch ungebundenen Menschen nichts weiter als eine liberalistische Mär: „The problem here [is] not the distance of the self from its ends, but rather the fact that the self, being unbounded in advance, [is] awash with possible purposes and ends, all impinging indiscriminately on its identity, threatening always to engulf it. The challenge to the agent [is] to sort out the limits or the boundaries of the self, to distinguish the subject from its situation, and so to forge its identity“ (Sandel 1982: 152).

Zweitens ist der K. der Überzeugung, dass Autonomie und Selbstverwirklichung sich nicht getrennt voneinander denken lassen; mit dieser evaluativen Grundauffassung rücken indes jene sozialen Voraussetzungen in den Mittelpunkt, die den Einzelnen erst dazu befähigen, von seiner Freiheit in einem positiven, d. h. inhaltlich vernünftigen und selbstbestimmten Sinne Gebrauch zu machen. Ohne intakte Gemeinschaften und ihre normative Bezogenheit auf das Gute würde diese menschliche Begabung zur Freiheit, zu „Selbstbewusstsein“ und „moralischer Urteilsfähigkeit“, verkümmern: „Doktrinen positiver Freiheit haben eine Auffassung von Freiheit zum Thema, die ganz besonders die Ausübung von Kontrolle über das eigene Leben betrifft. Dieser Auffassung zufolge sind wir nur in dem Maße frei, in dem wir tatsächlich über uns selbst und die Form unseres Lebens bestimmen. Der Freiheitsbegriff ist hier ein Verwirklichungsbegriff. Negative Theorien können sich im Gegensatz hierzu einfach auf einen Möglichkeitsbegriff berufen, dem zufolge frei zu sein davon abhängt, was wir tun können, was unserem Handeln offensteht, unabhängig davon, ob wir etwas tun, um diese Optionen wahrzunehmen oder nicht“ (Taylor 1988: 124).

Drittens schließlich verändert sich unter dem Eindruck der kommunitaristischen Kritik auch der spezifische Charakter der universalistischen Gerechtigkeitsmoral. Sie muss kontextsensibler werden und d. h.: An die Stelle eines im Lande des Nirgendwo apriorisch konstruierten Gesetzesverfahrens tritt eine wiederholende Moral, die v. a. die „differenzierten Gemeinsamkeiten“ (Walzer 1996: 160) in der Begegnung mit ethisch-kulturell divergenten Gerechtigkeitserfahrungen betont. Dieser interpretatorische Vorgang der Reiteration wird nicht mehr aus dem normativen Nichts heraus angeleitet, sondern er gewinnt seine Legitimität einzig und allein durch die hermeneutische Auseinandersetzung – z. B. mit den exemplarischen Befreiungserfahrungen anderer Nationen: „Befreiung ist eine besondere, von jedem unterdrückten Volk wiederholte Erfahrung. Gleichzeitig ist sie in jedem Einzelfall eine gute Erfahrung […]. Wir können den Exodus als exemplarisches, entscheidendes Ereignis einer partikularen Geschichte auffassen, eine Erfahrung, die von anderen Völkern auf je eigene Weise wiederholt wird – ja, die wiederholt werden muß, soll diese Erfahrung jemals die eigene sein. […] Andere Befreiungen sind aber möglich. Nach dieser […] Auffassung gibt es keine Universalgeschichte, sondern nur eine Reihe von Geschichten, die jeweils für sich wertvoll sind. […] Anstelle vieler Völker und eines Berges sehen wir hier einen Gott und viele Segnungen. Und da die Segnungen verschieden sind, vereinigen sich die Geschichten der drei Völker nicht zu einer einzigen Geschichte“ (Walzer 1996: 144 f.).

2. Konsequenzen des Kommunitarismus

Aus der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus lässt sich politisch, moralphilosophisch und sozialtheoretisch eine umfassende Apologie des Guten extrapolieren. Politisch mündet das kommunitaristische Plädoyer für eine solidarische Kultur der wertegeleiteten Selbstverwirklichung ein in einen affektiven Republikanismus der Tat, der „nicht nur diejenigen Praktiken und Institutionen schützt, die die Freiheit sichern, sondern auch diejenigen, die das Verständnis der Freiheit aufrechterhalten“ (Taylor 1988: 176).

Moralphilosophisch sind die Auswirkungen indes noch vielschichtiger. Denn der – wesentlich von Georg Wilhelm Friedrich Hegel inspirierte – Sittlichkeitszusammenhang aus individueller Selbstverwirklichung und gemeinschaftlichem Sozialbezug lässt jeden moralischen Hinweis auf einen apriorisch bzw. prinzipiell zu denkenden Vorrang des Richtigen ins Leere laufen. Denn selbst die Antworten der Vernunft (Vernunft – Verstand) bestehen „aus einer positiven Explikation der conditio humana und folglich auch des Guten“ (Taylor 1986: 119). Sozialontologisch bedürfen daher die prozeduralen Verfahrensmoralen i. S. v. Immanuel Kant, J. Rawls und Jürgen Habermas einer „Reformulierung in substanzieller Form“ (Taylor 1986: 118), um weiterhin moralische Kohärenz beanspruchen zu können. Denn aus der Sicht des K. beruhen alle Theorien des Richtigen „in Wirklichkeit auf einer Idee des Guten“ (Taylor 1986: 119). Und das gleich in „zweierlei Hinsicht: a) daß es der Artikulation dieser Idee bedarf, um deren Motive zu verdeutlichen, und b) daß jeder Versuch, an einer Theorie des Richtigen ohne Untermauerung durch eine Theorie des Guten festzuhalten, zum Scheitern verurteilt ist“ (Taylor 1986: 119). Die Schwächen einer bloß auf einer formalen Rationalitätsethik entwickelten Philosophie der Verständigung treten daher bes. zu Tage, „sobald man sich den radikalen Fragen der Begründung zuwendet. Als Handelnder kann ich immer die Frage stellen, warum ich eigentlich nach einer bestimmten Norm (rational) verfahren soll? Warum soll dies eine Norm sein, der ich mich nicht verweigern kann?“ (Taylor 1986a: 45). Kommunitaristen wie Charles Taylor machen hier als Antwort ihre Artikulationstheorie geltend, wonach der Zweck der Verständigung immer auch schon ein intersubjektiv geteilter Ausdruck einer substanziellen Version des guten Lebens ist.

Aufgrund seiner sozial-ontologischen Grundauslegung neigt der K. sozialphilosophisch allerdings dazu, Gesellschaft und Gemeinschaft gegeneinander auszuspielen. Ein radikales Beispiel bietet hierfür die aristotelisch-thomistische Tugendethik von Alasdair MacIntyre, die er als solidarische Praxisform ganz bewusst außerhalb der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft ansiedelt, um auf diesem Wege die narrative Einheit unseres Personseins vor ihrer bürokratisch-systemischen Kolonialisierung zu schützen. Moralische Gemeinden können in dieser Perspektive ihre lebendigen Traditionen nur dann bewahren und weiter entwickeln, wenn sie aus dem geschichtsphilosophischen Stadium der liberal-kapitalistischen Verwahrlosung (Kapitalismus) heraustreten. In diesem Sinne ist der Liberalismus der Aufklärung also eine permanente Quelle der Sinn-Interruption, die A. MacIntyre zufolge in ihrem artifiziellen Bestreben nach sprachlicher Verallgemeinerung gegen die narrative Rahmung unserer je bes.n persönlichen Identität verstößt: „Worin besteht die Einheit eines individuellen Lebens? Die Antwort lautet, daß diese Einheit in der Einheit einer in einem einzigen Leben verkörperten Einstellung besteht. Zu fragen ‚Was ist das Gute für mich?‘ bedeutet zu fragen, wie ich diese Einheit am besten leben und vervollständigen könnte“ (MacIntyre 1995: 292). Außerhalb dieser teleologischen Erzählformen des Guten würde das menschliche Leben nach A. MacIntyres Ansicht in einzelne sinnlose Episoden zerfallen: „Im Verlauf der Suche und nur durch das Zusammentreffen und Fertigwerden mit vielfältigen Leiden, Gefahren, Versuchungen und Ablenkungen, die jede Suche mit Episoden und Zwischenfällen ausstatten, wird das Ziel der Suche schließlich verstanden. Eine Suche ist immer auch Erziehung über das Wesen dessen, was gesucht wird, und zur Selbsterkenntnis“ (MacIntyre 1995: 293).

3. Kritik des Kommunitarismus

Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus hat mit ihrer expressivistischen Überhöhung des Selbst und ihrer romantisch verklärten Sicht auf Tradition und Gemeinschaft zwar schnell das kulturkritische Bedürfnis (Kulturkritik) nach Authentitzität in den Sinn-Vakanzen der post-kommunistischen Ära befriedigen können, doch sind innerphilosophisch ihre nostalgischen Abwehrreaktionen gegen den Liberalismus der Aufklärung stets mit großer Skepsis rezipiert worden. So bleibt z. B. ungeklärt, inwiefern der K. überhaupt in der Lage ist, zwischen falschen und richtigen Visionen des guten Lebens unterscheiden zu können, wenn er das Gute nur je kontextuell im Hinblick auf eine bestimmte Tradition, auf eine bestimmte Gemeinschaft oder auf eine bestimmte Identität hin zu konkretisieren vermag. Denn die Maßstäbe dafür, was eine Praxis zu einer guten Praxis macht, ein Leben zu einem geglückten Leben und die Tradition zu einer rational überlegenen Tradition, sind den habituell eingespielten Formen menschlich-kooperativer Tätigkeiten eben nicht vollständig zu entnehmen. Auf ein weiteres Manko der kommunitaristischen Theoriebildung hat Rainer Forst schließlich hingewiesen. Er moniert, dass sich die unterschiedlichen ethischen, rechtlichen, politischen und moralischen „Kontexte der Gerechtigkeit“ (1996) im ganzheitlichen Gemeinschaftsansatz nicht hinreichend abbilden lassen und so die rechtfertigungstheoretische Differenz in diesen praktischen Gerechtigkeitsfragen vom K. systematisch vernachlässigt werde.

II. Politikwissenschaftlich

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1. Definition und Formation kommunitarischen Denkens

Kommunitarisches Denken kann verstanden werden als Antwortversuch auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse (Modernisierung), welche traditionelle Sozialstrukturen auflösen und ersetzen durch individualistische Nutzenorientierung statt Einbindung in gemeinschaftliche Wertorientierungen und Wertvorstellungen. Charakteristische Kernelemente kommunitarischer Theorien lassen sich in den folgenden fünf Punkten zusammenfassen: eine hermeneutische Methodologie; eine Kritik an dem, was als atomistischer Individualismus perzipiert wird; ein aristotelisches und damit inhaltlich gefülltes Konzept des Guten im Gegensatz zu abstrakten Rechten; die Renaissance einer Idee der Gemeinschaft; und eine erneuerte Einsicht in die wichtige politische Funktion von Bürgertugenden, die manchmal auch unter dem Begriff des „Republikanismus“ diskutiert wird. Gemeinschaften können definiert werden als Gewebe von Sozialbeziehungen, die ein gemeinsames Verständnis dessen schaffen, was als relevant gelten soll, und die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gemeinsam geteilte Werte implizieren. Familien gelten herkömmlicherweise als Gemeinschaften; Dörfer und hochintegrierte Stadtbezirke sind dies oft, aber nicht notwendigerweise. Gemeinschaften müssen nicht geografisch konzentriert sein, wie z. B. die wissenschaftliche Gemeinschaft. Insb. traditionelle Gemeinschaften sind auch nicht unbedingt Orte der Tugend, sondern können, wie kommunitarische Theoretiker betonen, auch unterdrückerisch, patriarchalisch und autoritär sein. Daraus ergibt sich als Hauptproblem kommunitarischer Autoren, übergreifende Kriterien zu finden, um zu vermeiden, dass jede Gemeinsamkeit in der Selbstwahrnehmung auch schon als gute Gemeinschaft gilt.

In den 1980er Jahren hat eine Gruppe politischer Theoretiker – Charles Taylor, Alasdair MacIntyre, Michael Sandel, Michael Walzer und Amitai Etzioni – begonnen, das damals prägende Gesellschaftsverständnis in Frage zu stellen, welches sie als exzessiven Individualismus wahrnahmen. Ihr zentrales Argument war: Individualität basiert nicht nur immer auf einem sozialen Kontext, sondern ist von diesem letztlich auch jederzeit abhängig. Die Voraussetzung einer freien Entfaltung von Individualität ist somit nicht nur eine umfassende soziale und ökonomische Pragmatik von Ermöglichungsbedingungen, auch nicht nur die rechtsstaatliche Grundlage von individuellen Rechten und deren Durchsetzung, sondern eben ein Gesellschaftsverständnis, dass sich dieser Zusammenhänge und Abhängigkeiten bewusst ist; andernfalls wird nämlich der politische Prozess dazu tendieren, diese Voraussetzungen zu missachten und deren Erhaltungsnotwendigkeit zu unterschätzen. Das reine Insistieren auf eigenen Abwehrrechten gegenüber der gesellschaftlichen Gemeinschaft führt am Ende somit zu Entfremdungsprozessen (Entfremdung), denen es durch die Betonung ziviler Tugenden, geteilter Wertvorstellungen und zivilen Engagements entgegenzuwirken gilt. Die radikalliberale Idee des von allen Belastungen freien Individuums wurde deshalb als selbstwiderlegend kritisiert: Solches Denken fördere antisoziale Verhaltensweisen und tendiere deshalb dazu, schon die Bedingungen der Möglichkeit freier Individualität zu untergraben.

Die akademische wie die öffentliche Wirksamkeit des kommunitarischen Denkens hatte v. a. zwei Ursachen. Erstens schien es ein theoretisches Gegenkonzept zu entwickeln gegen die wichtigste normative politische Philosophie jener Zeit, nämlich den individualistischen Liberalismus in der erneuerten Vertragstheorie von John Rawls u. a. Der zweite Grund war sogar noch wichtiger. Politisch gesehen, war das kommunitarische Denken nämlich eine kritische Reaktion auf den sog.en Liberalismus der Gier der Thatcher- und Reagan-Jahre. Daher wurde dieses Denken attraktiv für die sich zu jener Zeit erneuernde demokratische Partei in den USA sowie für New Labour in Großbritannien, und wenn auch nur als rhetorische Strategie, um die Stimmen der werteorientierten, hart arbeitenden Mittelschichten zurückzugewinnen. In den frühen 1990er unternahmen es dann A. Etzioni u. a., diese Gedankengänge aus den Universitäten in die Gesellschaft zu tragen. Sie gründeten die Zeitschrift „The Responsive Community“ und versuchten, kommunitarische Ideen als anerkannten dritten Weg zwischen Liberalismus und Konservatismus zu etablieren. Bewusst grenzte man sich ab von traditionalen kommunitarischen Konzepten wie bei Ferdinand Tönnies und Robert Nisbet, doch auch von asiatischen Kommunitariern, weil diese die gesellschaftliche Harmonie überbetonten. Die neue amerikanische Linie kommunitarischen Denkens konzentrierte sich vielmehr auf die Balance zwischen individuellen Rechten und gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten.

2. Spektrum der Argumente

Das Spektrum der kommunitarischen Theoretiker reicht von Linkskatholiken wie A. MacIntyre und C. Taylor bis zu unorthodoxen, nichtmarxistischen Linken wie A. Etzioni, M. Walzer und Martha Nussbaum, von denen die letzteren beiden sich – ganz unamerikanisch – explizit als Sozialdemokraten im europäischen Sinne verstehen. Charakteristische Gemeinsamkeit ist immer eine originäre kritische Distanz zur eigenen Gesellschaft, sogar auch zum jeweils eigenen Herkunftsmilieu. Der anthropologische Kerngedanke des modernen kommunitarischen Denkens ist C. Taylors Verständnis von Menschen als „selbstinterpretierende[n] Lebewesen“ (Taylor 1985b). Moderne Identitäten beruhen danach auf unvermeidbaren Interpretationskontexten, welche die Grundlage bilden für ausgeprägte Wertungen von richtig und falsch, von gut und böse, von wertvoll oder unbedeutend. Die Qualität dieses Wertungskontextes ist entscheidend für die Qualität einer Gesellschaft. M. Sandel hat diesen Gedanken radikalisiert und in ein Argument gegen den Liberalismus von J. Rawls umgewandelt: Der Rawls’sche Urzustand, in dem niemand im Augenblick einer Entscheidung wissen soll, ob er daraus einen Vorteil oder Nachteil ziehen wird, ist als Metapher für Gerechtigkeit nicht nur praktisch unmöglich (was J. Rawls zugeben würde), sondern auch normativ nicht wünschenswert, weil diese Gerechtigkeitsvorstellung zu einer Welt führen würde, die von Menschen ohne Charakter bewohnt würde; Personen ohne Loyalitäten zu ihrer Familie, ihrer Gemeinschaft, Nation oder ihrem Volk sind nämlich nach M. Sandels Auffassung „Menschen ohne Charakter“ (1982: 179). A. MacIntyre betonte darüber hinaus die fehlende Grundlage der liberalen Gerechtigkeitstheorien, weil diese den Menschen keinerlei Motivation an die Hand gäben, moralisch zu handeln, da sie nicht auf moralisch voll verantwortliche, wirkliche Menschen zielten. Vielmehr beriefen liberale Gerechtigkeitstheorien sich im Grunde auf künstliche Rollenmodelle oder Charaktermasken wie den Manager, den Therapeuten oder den Kierkegaard’schen Ästheten, die A. MacIntyre in ziemlich vernichtender Weise als negative Idealtypen beschreibt.

M. Walzer hat dann versucht, ein einigermaßen kohärentes interpretatives Konzept zu entwickeln, in dem Sozialkritik und Reformvorstellungen auf die Interpretation gemeinsam geteilter Werte zurückgreifen können. Nicht der utopische Prophet, der vom Berg herabsteigt und seine Ideen verkündet ist hier das sozialreformerische Vorbild, sondern der geduldig vor Ort arbeitende und permanent nach Verbesserungsmöglichkeiten suchende Community Organizer. Das permanente Spannungsverhältnis zwischen gemeinsamen Werten und sozialer Wirklichkeit reiche nämlich völlig aus, um soziale Reformen zu begründen. M. Walzers Ansatz unterscheidet sich auf der einen Seite vom progressiven Sozialkonstruktivismus, auf der anderen Seite aber auch vom konservativen Glauben an die Objektivität traditioneller Werte („Sozialontologie“). Gerechtigkeit wäre nämlich nur möglich, wenn sie die Differenzierung verschiedener gesellschaftlicher Sphären beachte. Unterschiedliche Distributionsmethoden müssten deshalb angewandt werden, wenn es um so verschiedene Dinge gehe wie Mitgliedschaftsrechte (z. B. kraft Einwanderung), politische Macht, Sicherheit, Wohlfahrtsstaatlichkeit, Geld, Erziehung, Berufswahl, Anerkennung, Verwandtschaft, Liebe oder Glaube. Also gäbe es keine allg.e Gerechtigkeitstheorie, sondern nur einen je bes.n Gerechtigkeitsmodus für jede dieser Sphären. Was als gerecht angesehen wird, beruht dann auf gemeinsam geteilten und öffentlich diskutierten Meinungen über Gerechtigkeitskriterien.

Inzwischen scheint die große Debatte zwischen den Kommunitariern und den Liberalen aus den 1980er und 1990er Jahren vorüber zu sein. Diejenigen, die sich entschlossen hatten, bei der Selbstbezeichnung „Kommunitarier“ zu bleiben, nennen sich heute meist „liberale Kommunitarier“ oder „kommunitarische Liberale“. Bes. A. Etzioni hat sich um die Lösung eines zentralen Problems bemüht: Wie kann dieses Denken reinen Perspektivismus und Relativismus vermeiden, und wie kann es Kriterien entwickeln, um autoritäre und repressive Gemeinschaftswerte auszuschließen? Das erste Kriterium ist hierbei die interne demokratische Struktur einer Gemeinschaft. Es gehören aber weitere Kriterien hinzu, weil ein Mehrheitsbeschluss in einer bestimmten Gemeinschaft individuelle oder Minderheitsrechte verletzten könnte. Das zweite Kriterium ist ein substantieller Prozess der Konsensbildung (Konsens) innerhalb einer Gemeinschaft. Jenseits jeder bes.n Gemeinschaft sind nämlich die Werte einer Gesellschaft als ganzer der Rahmen einer höheren Legitimitätsordnung, zumal die Anwendung einer Verfassung. Die dritte Ebene sind dann gesellschaftsübergreifende moralische Dialoge, in welchen die eigenen gesellschaftlichen Werte gegenüber anderen begründet werden müssen. Das vierte Kriterium ist die globale Gemeinschaft. Allerdings kann selbst diese repressiv agieren, hat sie doch fast weltweit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Frauenwahlrecht ausgeschlossen. Die fünfte Bezugsebene, um abweichende Meinungen und damit Veränderungsbedarf zu begründen, ist deshalb die klar kommunizierbare Selbstevidenz einiger grundlegender Werte. All diese Kriterien haben gemeinsam, dass sie auf moralischen Diskursen unterschiedlicher Reichweite basieren. Der kommunitarische Weg besteht dabei in der Unterstützung konkreter gesellschaftlicher und – wenn erforderlich – gesellschaftsübergreifender moralischer Dialoge. Damit versucht A. Etzioni die Restriktionen traditionellen kommunitarischen Denkens zu überwinden und die Vorstellung einer globalen Gemeinschaft in die Diskussion einzubringen. Bei alledem geht es um Fragen, die durch die weltweite Debatte über kommunitarische Ideen unausweichlich geworden sind: Welche Gemeinschaft? Was für eine Art von Gemeinschaft? Wer gehört dazu und wer nicht? Und offenbar wird das alles künftig die Diskussion um den Multikulturalismus bestimmen.

3. Zukünftige Perspektiven

Eine gewisse Unzufriedenheit mit der Bezeichnung „K.“ ist außer bei A. Etzioni ein generelles Charakteristikum vieler einschlägiger Autoren. Das kommunitarische Denken scheint zwar ein ständiges Begleitphänomen des Liberalismus zu sein, ist aber offenbar nicht hinreichend eigenständig, zumal sich die herkömmlichen Sozialstrukturen der Gemeinschaftsorientierung im Prozess der Modernisierung, der Individualisierung und der Globalisierung zunehmend aufgelöst haben. Versuche, dichte Formen der Sozialintegration als Antwort auf die Modernisierung wiederherzustellen oder neu zu erfinden, wie der Kommunismus, der Faschismus (Volksgemeinschaft) oder einige Formen des islamischen Fundamentalismus, sind dabei allerdings wegen ihrer Grausamkeiten und ihrer Verachtung für individuelle Rechte diskreditiert. Deshalb bleibt in einer modernen, technologiebasierten Dienstleistungsgesellschaft dem kommunitarischen Denken v. a. eine Rolle als reflexive Erinnerung an das Gemeinwohl, weniger aber als eine kohärente und mobilisierende soziale ideelle Gesamtkonzeption. Daraus ergibt sich die Voraussage, dass kommunitarische Ideen in der moderaten Form gesellschaftlicher Selbstreflexion und sozialer Integrationsprogramme eine andauernde Nebenmelodie in der Musik sich weiter modernisierender Gesellschaften bleiben werden. Sie formulieren nämlich auf theoretischer Ebene ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach sozialer Integration.