Kirche im Sozialismus: Unterschied zwischen den Versionen

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C. Kähler: Kirche im Sozialismus, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Kirche im Sozialismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
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C. Kähler: Kirche im Sozialismus, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Kirche im Sozialismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 4. Januar 2021, 11:21 Uhr

Die Kurzformel „K. i. S.“ gehört zu den auslegungsbedürftigen Verhältnisbestimmungen von Staaten und Kirchen oder Religionsgemeinschaften – wie „Thron und Altar“, „Symphonie“, „Laïcité“, „Trennung von Staat und Kirche“, „fördernde Neutralität“ usw. (Kirche und Staat). Diese werden gebildet, wenn die politischen und religiösen Instanzen eines Territoriums nicht identisch sind, doch das Miteinander konfliktträchtig und damit klärungsbedürftig erscheint. Die Bedeutungen changieren je nach der Situation, den Sprechern und der weiteren inhaltlichen Füllung.

1. Historischer Kontext

Nach dem Scheitern der Demokratie in Deutschland sahen sich deutsche Kommunisten legitimiert, „den Sozialismus“ zu errichten. Die Verhältnisbestimmung zwischen den Kirchen und den Machthabern der SBZ/DDR war stets dringlich und prekär, weil die vom sowjetischen Kommunismus geprägte und weltanschaulich atheistische SED auf eine evangelische Kirche traf, die 1950 noch über 80 % der Bevölkerung umfasste. Anders als die zwangsweise auf den Kult reduzierte russisch-orthodoxe Kirche in der UdSSR war sie durch ihre Gottesdienste und weit darüber hinaus öffentlich wirksam in Diakonie, Pädagogik, Jugend- und Akademikerarbeit. Religionen jedoch galten nach dem ideologischen Anspruch der herrschenden Partei als Relikt der Vergangenheit, das aktiv überwunden werden musste. Wegen dieses totalen Anspruchs konnte es grundsätzlich keine „ideologische Koexistenz“ mit dem christlichen Glauben geben. Die Strategie einer die Kirchen bekämpfenden Religionspolitik wurde bereits im Moskauer Exil von Wilhelm Friedrich Reinhold Pieck entworfen. Ihre taktischen Modifikationen waren jeweils abhängig vom politischen Kalkül der Herrschenden. Zunächst wurde 1945 „Bündnispolitik“ nach außen proklamiert und gefordert, um die Loyalität der christlichen Bevölkerung für die eigenen politischen Ziele zu erreichen. Für die herrschende Partei und ihre Machtinstrumente bis hin zum MfS blieb der Kampf gegen die Kirchen eine Konstante. Die eingesetzten Mittel wechselten mit der Zeit von gröberen zu subtileren Maßnahmen, von primitiver Propaganda, willkürlichen Verhaftungen und massiver Verfolgung der Jungen Gemeinde 1952/53 zu der bis 1989 anhaltenden Benachteiligung von christlichen Kindern und Jugendlichen in Bildungswesen und Beruf, einschließlich der erfolgreichen Verdrängung von Konfirmation und Firmung durch die mit staatlichem Druck seit 1954 durchgesetzte sozialistische Jugendweihe. Dass evangelische Christen 1989 nur noch ein Viertel der Bevölkerung ausmachten, resultiert auch aus dieser aktiv durchgesetzten Entkirchlichung und der Flucht vieler Gemeindeglieder in die BRD. Die Beziehung zwischen staatlichen und kirchlichen Vertretern innerhalb der „Diktatur des Proletariats“ wurde durch das asymmetrische „machtgestützte ‚Gespräch‘“ (Mau 1994: 75f.) charakterisiert, bei dem die Regierenden bis zum 6.3.1978 nur weisungsgebundene Vertreter schickten. Negative oder seltene positive Folgen der Gespräche betrafen zumeist schutzbedürftige Dritte.

2. Vorgeschichte der Formel

Als die letzten relativ unabhängigen Großorganisationen befanden sich die Kirchen in der DDR gegenüber den Staatsvertretern stets in einer ungewissen Situation. Auf diese prekäre Lage reagierten Gemeinden und Kirchenleitungen mit einem weiten Spektrum an Haltungen: neben- und nacheinander standen die zeitweise verbreitete Hoffnung auf ein kurzfristiges Verschwinden der DDR analog zum NS-Regime, die Verweigerung der Anerkennung als Obrigkeit, die drängende Frage, ob „Christen überhaupt noch in der DDR leben können“ (KJB 1962: 242), die Akzeptanz der Situation als von Gott gestellte Aufgabe (Günter Jacob, Johannes Hamel), die schweigende Missbilligung der kommunistischen Herrschaft (innere Emigration), die Selbstbeschränkung auf Gottesdienst und Seelsorge, die partielle, reflektierte Zusammenarbeit und die kritiklose Akklamation. Spätestens seit dem Bau der Mauer 1961 wurde deutlich, dass die Kirchen langfristig in diesem System zu leben und zu wirken hatten. In dieser Situation suchten die staatlichen Verantwortlichen einerseits nach Formen, mit denen sie ihre Interessen leichter durchsetzen konnten und experimentierten – relativ erfolglos – mit ausgewählten kirchlichen Partnern. Auf der anderen Seite suchten 1963 die Kirchenleitungen im Osten mit „Zehn Artikel[n] über Freiheit und Dienst der Kirche“ (EKD 1963) ihren Auftrag so zu bestimmen: „In der Freiheit unseres Glaubens dürfen wir nicht von vornherein darauf verzichten, in der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu unterscheiden zwischen dem gebotenen Dienst an der Erhaltung des Lebens und der gebotenen Verweigerung der atheistischen Bindung“ (EKD 1963: 2). Unter Rückgriff auf frühere Formulierungen (sog.e Kommuniqué 1958: „Sie [die Christen] respektieren die Entwicklung zum Sozialismus“ [zit. n. Henkys/Jauch 1985: 721]) reagierten 1968 sieben von acht evangelischen Bischöfen in einem „Brief aus Lehnin“ auf die angekündigte neue DDR-Verfassung: „Als Staatsbürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen“ (zit. n. Henkys 1970: 113). Dieser Satz war einerseits eine Anerkennung des Anspruchs der herrschenden SED durch die Aufnahme ihrer Selbstbezeichnung, andererseits durch die Unbestimmtheit („eine Gestalt“) und den Komparativ keine Übernahme ihres Absolutheitsanspruchs. Daher wurde u. a. gefordert, dass Christen „an der Verantwortung für unser Staatswesen mit unverletztem Gewissen teilhaben können“ (zit. n. Henkys 1970: 113) und die Trennung von Staat und Kirche auch staatlicherseits zu beachten sei.

3. Die Herausbildung der Kurzformel

Mit der zweiten Verfassung der DDR war 1968 der politische Spielraum der gesamtdeutschen EKD so weit eingeengt, dass sich die acht östlichen Landeskirchen eine eigene organisatorische Struktur im BEK schufen. Im Februar 1969 sprach der Staatssekretär für Kirchenfragen Hans Seigewasser von „den Aufgaben der Kirche im Sozialismus“ (zit. n. Henkys 1970: 140) wie von der „Existenz der Kirchen im Sozialismus“ (zit. n. Henkys 1970: 142), um mit diesen Formulierungen ein Ende der gesamtdeutschen EKD und damit der Verbindung zu den westdeutschen Landeskirchen zu fordern. Nach der Bildung des BEK im Juni 1969 und damit der organisatorischen Trennung von der EKD, bei dennoch gleichzeitigem Festhalten an der „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ (Art. 4 Abs. 4 Ordnung des BEK) stellte die Bundessynode 1970 fest: „Der Bund wird sich als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der sozialistischen Gesellschaft der DDR bewähren müssen.“ (zit n. Henkys 1970: 211). Als Heino Falcke auf der Bundesynode 1972 nicht nur von einer „verbesserlichen Welt“ (KJB 1974: 246) und einer „verbesserliche[n] Kirche“ (KJB 1974: 248), sondern auch von einem „verbesserlichen Sozialismus“ (KJB 1974: 251) und dem Einsatz von Christen gegen „Unfreiheit und Ungerechtigkeit“ (KJB 1974: 251) wie für die Schwachen in der Gesellschaft sprach, galt das den Regierenden als bes. gefährlicher Angriff auf das politische System. Die Formel „K. i. S.“ ist im offiziellen kirchlichen Sprachgebrauch erst in der Bundessynode 1973 nachweisbar, die sich auf ihre Beschlüsse von 1971 berief, aber nun formulierte: „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein“ (KJB 1975: 181). Spätestens seitdem diente die Formel je nach Interessenlage staatlichen Vertretern als Unterwerfungsforderung, kirchlichen Führungskräften als Loyalitätserklärung in und vor kritischen Anfragen, vielen Kirchenleitenden – vorzugsweise in der Langversion – als Standort- und Aufgabenbeschreibung in der „ideologischen Diaspora“ (Krusche 1990: 96), einigen als gesellschaftskritischer Anspruch. Seit 1975 war die Formel K. i. S. auch Titel einer westdeutschen Zeitschrift mit dem Untertitel „Materialien zu Entwicklungen in der DDR“. Nie aber war K. i. S. mehr als eine deutungsoffene kirchenpolitische Formel, die im Kern eine Art von Burgfrieden benannte, jedoch in den Gemeinden und in der Pfarrerschaft kaum positiv oder negativ rezipiert wurde. Dagegen gab es auf der Ebene der Landeskirchenleitungen und des BEK immer wieder Debatten um eine positive inhaltliche Bestimmung. Dafür wurde oft das Bonhoeffersche Motiv einer „Kirche für andere“ als Rollenbeschreibung einer aktiven Minderheitenkirche gewählt.

Im Umfeld der Krise, für die die öffentliche Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976 Symptom und Auslöser war, bemühten sich Staat und Evangelische Kirche um einen modus vivendi, der auch seit langem von Gemeindegliedern eingefordert worden war, die die staatlichen Pressionen unmittelbar erlitten. Bei dem erst spät zugelassenen „Antrittsbesuch“ der Leitung des BEK beim Staatsoberhaupt Erich Honecker am 6.3.1978 nahm Bischof Albrecht Schönherr wiederum das „Stichwort“ K. i. S. ausdrücklich mit den vollständigen Formulierungen von 1973 auf und unterstrich so die „Freiheit und Bindung des Glaubens“ (Schönherr 1981: 215) in der Suche nach dem „Beste[n] für alle und für das Ganze“ (Schönherr 1981: 215). In diesen Zusammenhang hielt er fest: „Das Verhältnis von Staat und Kirche ist so gut, wie es der einzelne christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt“ (Schönherr 1981: 217). Doch trotz einzelner Erleichterungen für Kirchen und Gemeinden setzte das DDR-Bildungswesen (Margot Honecker) seinen Kurs mit der Einführung des obligatorischen Wehrkundeunterrichts im Herbst 1978 fort. Diesem entzogen sich trotz kirchlichen Protestes und der inoffiziell zugestandenen Möglichkeit zur Verweigerung nur relativ wenige Jugendliche, weil vielfach auch die Unterstützung der Eltern fehlte. Dennoch gaben gerade diese Maßnahmen der Friedensbewegung in der DDR einen kräftigen Anstoß, durch den eine neue Generation mit den Friedensgebeten und dem Zeichen „Schwerter zu Pflugscharen“ ihren Protest und die brennenden Themen „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ artikulierte.

4. Das Ende der Formel

Nachdem Götz Planer-Friedrich und Richard Schröder 1988 die Formel für unbrauchbar erklärt hatten, schlug auch Landesbischof Werner Leich im März 1989 vor, nur mehr von der „Kirche in der DDR“ zu reden, um dem Missverständnis einer sich mit dem Sozialismus als Programm und politischem Resultat identifizierenden Kirche zu entgehen, was zu einer scharfen Erwiderung durch E. Honecker führte. Denn damit war faktisch die raison d’être der DDR negiert, deren Identität nicht national, sondern lediglich durch ein politisches System bestimmt war. In den Texten der Ökumenischen Versammlung in der DDR 1988/89 fand das Stichwort schon keine Aufnahme mehr, aber in ihrem Text 3 „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ wurde die Stellung von Christen zum Sozialismus zu den offenen und umstrittenen Fragen gerechnet. Retrospektiv wird die Kurzformel nicht selten verkürzend als Chiffre der Anpassung interpretiert.