Katholische Soziallehre: Unterschied zwischen den Versionen

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M. Heimbach-Steins: Katholische Soziallehre, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Katholische Soziallehre}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 4. Januar 2021, 11:21 Uhr

Im Folgenden werden der Begriff k. S. erläutert, deren Denkform, ihr normativer Anspruch, die Verbindlichkeit lehramtlicher Äußerungen und die Kompetenz der Kirche, zu sozialen Fragen zu sprechen, reflektiert sowie zentrale Themen skizziert. Die Ausführungen verweisen auf historische Phänomene, Texte, Einzelthemen und systematische Entwürfe, die in themenverwandten Artikeln behandelt werden.

1. Begriff

Der Begriff k. S. bezeichnet primär den Gehalt des seit dem späten 19. Jh. auf der Grundlage verschiedener sozialkatholischer Denkansätze (Sozialer Katholizismus; Politischer Katholizismus) entstehenden Textcorpus lehramtlicher Sozialverkündigung. Darin spiegelt sich die dynamische Auseinandersetzung der römisch-katholischen Kirche mit den sozialethischen Herausforderungen der Differenzierung, Modernisierung und Globalisierung moderner Gesellschaften. Es umfasst neben den päpstlichen Sozialenzykliken weitere Textgattungen gesamtkirchlicher Verkündigung (Apostolische Schreiben, Päpstliche Ansprachen; Konzilstexte; vatikanische Verlautbarungen, etwa des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden) sowie Äußerungen kontinentaler, regionaler und nationaler Bischofskonferenzen, aber auch einzelner Bischöfe. In jüngerer Zeit gehören auch ökumenisch verantwortete und auf Konsultationsprozesse gestützte Stellungnahmen sowie (einige von der katholischen Kirche offiziell mitgetragene) Ergebnisse des ökumenischen Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung (1983–2007) zur k.n S. Damit überschreitet deren tatsächliche Entwicklung zumindest in einigen Ortskirchen das konfessionell abgrenzende Verständnis von „katholisch“ i. S. d. Katholizität (umfassender Charakter) als eines theologischen Merkmals der Kirche Jesu Christi.

K. S. im Sinne der lehramtlichen Sozialverkündigung bildet einen der drei Träger der Soziallehre der Kirche als eines komplexen Ganzen. Im Horizont der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ist von einem geschichtlich konstitutiven, spannungsvoll konstruktiven Zusammenwirken dreier Subjekte auszugehen: Die lehramtliche Sozialverkündigung interagiert mit dem reflektierten und explizit formulierten Erfahrungsschatz der vom sensus fidelium geleiteten, gesellschaftlich engagierten Christinnen und Christen an der kirchlichen Basis – z. B. in Gestalt katholischer Verbände. Sie wird zudem inspiriert, unterstützt und kritisch begleitet durch die wissenschaftliche Reflexion der Christlichen Sozialethik auf Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

In einem weiter gefassten Verständnis umfasst k. S. auch die Analyse und Auslegung der kirchlichen Lehrtradition im Kontext der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer gerechten Ordnung der Gesellschaft im Horizont der Soziallehre der Kirche. In diesem Sinne ist der Begriff bis heute gelegentlich im öffentlichen Sprachgebrauch anzutreffen. Darin drückt sich das Bewusstsein der Angewiesenheit des Lehramts auf wissenschaftliche Expertise zur Erarbeitung qualifizierter Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen, aber auch ein bestimmtes Verständnis der so bezeichneten (theologischen) Wissenschaft aus. Etwa seit den 1980er Jahren geht die wissenschaftliche Entwicklung jedoch dahin, den Begriff Lehre (k. S.; Christliche Gesellschaftslehre) in der Selbstbezeichnung der Disziplin durch Ethik zu ersetzen. Dies markiert ein Verständnis der Christlichen Sozialethik als Disziplin, die ihren Gegenstand mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse erschließt, im Gespräch auch mit modernen und postmodernen Theorien philosophisch durchdringt und in einem christlich-theologischen Deutungshorizont reflektiert.

Der Wortbestandteil Sozial- in k. S. steht primär für deren sich geschichtlich beständig erweiternden Gegenstandsbereich und bezieht sich auf alle Gegebenheiten, Prozesse und Herausforderungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben betreffen und in irgendeiner Weise institutionell vermittelt sind. Insofern diese nicht allein beschreibend, sondern unter Rücksicht auf die „soziale“ Qualität gesellschaftlicher Verhältnisse analysiert und gerechtigkeitstheoretisch reflektiert werden, bildet das Soziale in doppelter Hinsicht den zentralen Referenzrahmen der k.n S.: zum einen als Strukturmoment menschlicher Existenz, das eine moderne Interpretation nicht mehr substanzontologisch, sondern als durch menschliche Interaktion konstruiert deuten wird; zum anderen als sittlichen Anspruch an einen menschengerechten Umgang mit den Erfahrungen von Abhängigkeit, Aufeinanderverwiesenheit und durch Machtverhältnisse (Macht) strukturierter Interaktionen. Diese doppelte Bewandtnis des Sozialen bestimmt seit den Anfängen – der Arbeiterfrage des Industriezeitalters als der „Sozialen Frage“ des 19. Jh. – das Profil der k.n S. Ein fixes Datum ist für diesen Beginn kaum zu benennen. Als markanter historischer Bezugspunkt gilt allerdings das Erscheinen der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891). Wie der Gegenstandsbereich verstanden, methodisch erfasst, analysiert und mit welchen Ressourcen er interpretiert wird, erklärt der Begriff selbst nicht zureichend.

2. Die Denkform der katholischen Soziallehre im geschichtlichen Wandel

Von Anfang an begleitete die Frage nach den Erkenntnisquellen und der Denkform die inhaltliche Entwicklung der k.n S.: Die Akzentuierung des theologischen oder des philosophischen Charakters, die Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft (Vernunft – Verstand) und Offenbarung sowie die Art und Intensität der Bezugnahme auf die modernen Sozialwissenschaften hängen einerseits von dem zugrundeliegenden Selbstverständnis des kirchlichen Lehramts, andererseits vom wissenschaftlichen Referenzrahmen ab.

Der Anspruch, eine Soziallehre oder Doktrin zu artikulieren, geht v. a. bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil mit einem autoritativen Anspruch auch bzgl. der normativen Beurteilung konkreter gesellschaftlich-politischer Gegebenheiten einher. Er basiert auf einem naturrechtlichen Ordnungsdenken (Naturrecht), das, auf neoscholastische Systembildung (Scholastik) zurückgreifend, von einem zeitunabhängig gedachten, deduktiven Verständnis sittlicher Normierung geprägt ist. Grundlegend dafür ist die Annahme einer der Welt inhärenten Ordnung, die menschliche Vernunfteinsicht als von Gott der Schöpfung eingestiftete Ordnung zu erkennen vermag und die dem kirchlichen Lehramt als Hüterin der Offenbarungswahrheit zweifelsfrei zugänglich ist. Aussagen über das Wesen des Menschen und der Gesellschaft sowie daraus abgeleitete konkrete normative Handlungserwartungen gründen auf diesen Voraussetzungen. Dieser Denkform entspr. ein Habitus, der nicht fragend und suchend an die soziale Wirklichkeit herantritt, sondern mit dem Anspruch auf Besitz der Wahrheit Antworten verkündet und einen (exklusiven) Orientierungsanspruch erhebt. Eben aus diesem Grund ist der Begriff „Soziallehre“ als solcher umstritten; das Zweite Vatikanische Konzil suchte ihn zu vermeiden; erst nach Verabschiedung der Pastoralkonstitution GS wurde er dort (76) wieder implementiert.

Das Zweite Vatikanische Konzil treibt einen Wandel im Verständnis der k.n S. voran und führt zu deren expliziter Reflexion im Kontext des Verhältnisses der Kirche zur modernen Gesellschaft (Kirche und Welt). Diese Entwicklung setzt Potentiale zur konstruktiven Auseinandersetzung mit den geschichtlich konkreten Herausforderungen der modernen Gesellschaft frei und betrifft den Habitus der k.n S. grundlegend. Der epochale Einstellungswandel drückt sich in bedeutsamen Akzentverschiebungen aus: Erstens wendet sich das ausdrückliche Bekenntnis zur Verantwortung für die Mitgestaltung der politischen Sphäre (GS; „De iustitia in mundo“; OA) gegen einen Rückzug ins Private, der das schuldhafte Schweigen der Kirche angesichts der Gräuel des Zweiten Weltkriegs mitbedingt hatte. Mit der Überzeugung, dass der Mensch durch seine Arbeit mitschöpferisch zur Gestaltung der Welt beitrage „De iustitia in mundo“ und dadurch am Wirken Gottes in der Geschichte teilnehme, wird zweitens das Engagement für die Humanisierung des gesamten menschlichen Lebens und des Lebens aller Menschen („Laborem exercens“; „Populorum progressio“; „Sollicitudo rei socialis“) als Aufgabe der k.n S. begründet. Damit wird die soziale Praxis im Sinne eines Ethos der Veränderung gegenüber dem Naturrechtsdenken neu gewichtet: „Die Geschichte bleibt […] nicht länger eine bloße Spielform einer ewigen Wesenheit, sondern es gibt umgekehrt Natur nur im umfassenderen Rahmen von Geschichte“ (Chenu 1991: 96). Angesichts der sozial-ökologischen Krise der Gegenwart radikalisiert Papst Franziskus diesen Gedanken gegen die von ihm kritisierte „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ („Laudato si’“ 52) wie gegen einen rückwärtsgewandten Kultur- und Geschichtspessimismus (Kulturkritik), indem er der Menschheit attestiert, sie besitze „noch die Fähigkeit zusammenzuarbeiten, um unser gemeinsames Haus aufzubauen“ („Laudato si’“ 13). Die allmähliche Überwindung des Eurozentrismus der k.n S. spiegelt sich drittens in der zunehmenden Artikulierung der weltweiten, partizipativ wahrzunehmenden Verantwortung der Kirche für Gerechtigkeit, insb. in den Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern und der Sorge für die Schwachen. Dieser Akzentsetzung entspr. viertens die Aneignung der – zuerst in den lateinamerikanischen Kirchen formulierten und umgesetzten – Option für die Armen auf der Ebene der Gesamtkirche („Sollicitudo rei socialis“ 42 f.). Erneut ist es Papst Franziskus, der diese Option in seinem herausfordernden Plädoyer für eine „arme Kirche an der Seite der Armen“ (EG 198) radikalisiert.

Dem Einstellungswandel entsprechen Veränderungen in Denkform und Methodik der k.n S.: Erstens eine Hinwendung zu einer geschichtlich-prozesshaften Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeiten: Insofern die k. S. jeweils auf zeitgeschichtlich konkrete gesellschaftliche Gegebenheiten und Entwicklungen Bezug nimmt, ist sie selbst geschichtlich gebunden, entwicklungs- und korrekturoffen. Einzelaussagen sind typischerweise kontextuell konkret und überholbar. Die k. S. repräsentiert in eminenter Weise die Prozesshaftigkeit und Geschichtlichkeit kirchlicher Verkündigung: Um sich selbst treu zu bleiben, wandelt sie sich mit den Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart entspr. der historisch-kulturell-sozialen Kontextualität menschlicher Existenz und Einsichtsfähigkeit. Sie bildet daher gerade kein geschlossenes Lehrsystem, sondern „ein Gefüge von generellen Sätzen, ein genus, ein weithin offenes System“ (Wallraff 1965: 37). Es ist offen für unterschiedliche Sozialethiken und legitimerweise durch unterschiedliche Modi ethischer Argumentation geprägt (dies gilt auch für die lehramtlichen Texte, die jeweils die „Handschrift“ der Päpste/Bischöfe/Bischofskonferenzen und ihrer wechselnden Berater tragen). Diese Offenheit hat eine normative Bewandtnis: Nur unter Voraussetzung ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Konkretheit, der daraus resultierenden Zeitbedingtheit und der Anerkennung der Pluralität der Wege ethischer Auseinandersetzung kann die k. S. überhaupt Relevanz gewinnen und beanspruchen. Dies drückt Papst Franziskus aus, indem er betont, „dass ‚die Zeit mehr wert ist als der Raum‘ ; dass wir immer dann fruchtbarer sind, wenn wir uns mehr darum kümmern, Prozesse auszulösen, als Räume der Macht zu beherrschen.“ („Laudato si’“ 178; Binnenzitat: EG 222).

Zweitens folgt aus dem Einstellungswandel eine Hinwendung zu einer geschichtlichen Hermeneutik und zur empirischen Erschließung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Gegenüber abstrakten Deduktionen aus einem metageschichtlich verstandenen Prinzipienkanon verpflichtet das Zweite Vatikanische Konzil die k. S. darauf, von den konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeiten auszugehen: Die programmatische Hinwendung zu den jeweils prägenden und herausfordernden sozialen Erfahrungen findet Ausdruck in der Aussage, der Kirche obliege „allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 4; 44). Die biblische Kategorie „Zeichen der Zeit“, die bereits die Enzyklika „Pacem in terris“ strukturiert, verweist auf eine erfahrungsorientierte, induktiv arbeitende und dialogische k. S. Dem entspr. methodisch die Aneignung des Dreischritts „Sehen – Urteilen – Handeln“ („Mater et magistra“ 236). Die k. S. adaptiert damit eine Vorgehensweise, die Joseph (später: Kardinal) Cardijn (1882–1967) als Gründer der CAJ (Christliche Jugendverbände) den jungen christlichen Arbeitern zur Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswirklichkeit vorgeschlagen hatte: ein herausragendes Beispiel für die Interaktion zwischen verschiedenen Trägern der Soziallehre der Kirche. Eine gründliche Erschließung der gesellschaftlichen Wirklichkeiten und ihrer sozialethischen Herausforderungen erfordert die Aufmerksamkeit für die konkreten Erfahrungen (v. a. der Exklusion, Marginalisierung und Missachtung) und Verletzlichkeiten der betroffenen Menschen, zudem aber auch eine mehr systematische und methodisch geleitete Annäherung, die auf wissenschaftliches Wissen und den Dialog mit unterschiedlichen Disziplinen rekurriert. Die Aneignung solcher Ressourcen stellt die k. S. gleichwohl vor bes. Anforderungen, insofern sie eine gewisse Sach- und Urteilskompetenz bzgl. der Quellen, der theoretischen Vorentscheidungen und der Darstellung von Forschungsergebnissen verlangt. Ein beständiger und intensiver Dialog mit Experten in Wissenschaft und Praxis ebenso wie mit den Ortskirchen und den Gläubigen in aller Welt gilt daher der k.n S. heute als unerlässlich, um das Fundament, auf dem lehramtliche Äußerungen aufbauen, möglichst solide zu entwickeln; ein herausragendes Beispiel dafür wie für die Wirkung, die k. S. auf einer solchen Basis erzielen kann, bietet die Analyse der ökologischen Krise in der Enzyklika „Laudato si’“ (17–61). In der lernbereiten und dialogischen Vorgehensweise äußert sich ein gewandeltes Selbstverständnis der k.n S.: Nicht als autoritative Stimme mit exklusivem Anspruch, sondern als Partnerin mit einem spezifischen religiösen Deutungshorizont stellt sie sich mit anderen kompetenten Akteuren (den „Menschen guten Willens“) in einen maximal geweiteten Horizont der Verantwortung für das gemeinsame Menschsein und die Integrität der geschöpflichen Lebensgrundlagen. Sie anerkennt die Perspektivität der eigenen Erkenntnis und die daraus resultierende Notwendigkeit zur Kooperation mit anderen, nicht weniger relevanten Perspektiven auf das gemeinsame Problem bzw. die verbindende Zielsetzung.

3. Der normative Rahmen der katholischen Soziallehre

Als normativen Orientierungsrahmen hat die k. S. „generelle Sätze“ (Wallraff 1965) ausformuliert, die als Sozialprinzipien bezeichnet werden. Innere Kohärenz beanspruchen sie aufgrund der Fundierung in christlichen Grundüberzeugungen, die als unhintergehbar, gleichwohl geschichtlich ergänzungsfähig und -bedürftig verstanden werden. Anthropologische Grundlagenreflexion und ethische Basisnormen sind mit den jeweiligen gesellschaftsethischen Herausforderungen zu vermitteln, vernunftethisch zu begründen und theologisch in einem biblisch-christlichen Deutungshorizont zu erschließen. Dieser komplexen interpretatorischen Aufgabe entspr. (auch im lehramtlichen Textkorpus) eine Vielzahl von Antworten bzw. sozialethischen Theorien, die sich auf die k. S. beziehen und diese anreichern. Das grundlegende Personprinzip wird durch das einander ergänzende Prinzipienpaar der Solidarität (Strukturprinzip) und der Subsidiarität (Zuständigkeitsprinzip) konkretisiert. Bzgl. des Verständnisses und der Zuordnung des Gemeinwohls gehen die Auffassungen darüber auseinander, ob es substantiell und als Zielwert oder als instrumenteller Wert zu verstehen sei. In jüngster Zeit antwortet zudem das Prinzip Nachhaltigkeit auf die normativen Anforderungen an die Gesellschaftsgestaltung unter dem Vorzeichen der ökologisch-sozialen Krise. In dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit kommt die normative Stoßrichtung der Prinzipien in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck, wobei „sozial“ im oben genannten zweifachen Sinne zu verstehen ist. In den sich wandelnden Problemlagen und angesichts der sich räumlich und zeitlich weitenden Dimensionen (globale Gerechtigkeit, intergenerationelle Gerechtigkeit) sowie der zielgruppenspezifischen Differenzierung der Gerechtigkeitsherausforderungen (Geschlechtergerechtigkeit) muss die k. S. das Verständnis ihrer „generellen Sätze“ bzw. Prinzipien im Dialog mit der Entwicklung des gesellschaftswissenschaftlichen Wissens und mit zeitgenössischer Philosophie beständig vertiefen und fortentwickeln. Im lehramtlichen Diskurs wird die Leitidee der Gerechtigkeit auch theologisch unterschiedlich akzentuiert und differenziert. So betont Papst Benedikt XVI. den Vorrang der Liebe vor der Gerechtigkeit und re-theologisiert die „Soziale Frage“, indem er die globalen Probleme von einer dogmatischen Anthropologie ausgehend theologisch-metaphysisch reflektiert („Caritas in veritate“). Seiner Vorordnung der Tugendethik vor der Institutionenethik entspr. das Plädoyer für eine „Entweltlichung“ (Benedikt XVI.: 2011) kirchlichen Handelns. Papst Franziskus, der die „pastorale Logik der Barmherzigkeit“ (EG; „Misericordiae vultus“; AL) betont, setzt gleichwohl mit dem Vorrang der Praxis und der Hinwendung zu den Armen auch deutliche sozial- und institutionenethische Akzente und lenkt die Aufmerksamkeit auf die notwendige wechselseitige Ergänzung von individual- und sozialethischer, tugend- und strukturenethischer Herangehensweise. Dies gilt auch und gerade für den institutionellen Kontext der Kirche, die nicht nur eine Soziallehre für die Gesellschaft anbietet, sondern um der eigenen Glaubwürdigkeit willen sich auch selbst an deren Maßstäben messen lassen muss.

4. Verbindlichkeit der katholischen Soziallehre und sozialethische Kompetenz der Kirche

Der Charakter der k.n S. provoziert die Frage nach der Verbindlichkeit entspr.er Äußerungen des kirchlichen Lehramtes. Damit zusammen hängt die Frage nach der sozialethischen Kompetenz der Kirche bzw. nach ihrer Legitimation, zu Fragen Stellung zu beziehen, die nicht (zureichend) durch Offenbarungswahrheiten beantwortet werden können. Diesbezüglich sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Auf der Ebene anthropologisch und ethisch begründeter Äußerungen zu fundamentalen Fragen der Personwürde, der Freiheit und der (sozialen) Gerechtigkeit kann die Kirche eine genuine religiöse Kompetenz geltend machen. Der daraus erwachsende Anspruch, gesellschaftliches Handeln (von Christen) zu orientieren sowie zur öffentlichen Urteilsbildung und Handlungsorientierung in allg. menschlich bedeutsamen ethischen Fragen beizutragen, kann nur dann mit Gehör und der Anerkennung eines Anspruchs auf Verbindlichkeit rechnen, wenn das Angebot aus sich heraus überzeugt: „Eine Enzyklika besitzt für Katholiken zwar eine gewisse Lehrverbindlichkeit, aber diese ist weit entfernt von jener Unfehlbarkeit, wie sie nur feierlichen Lehrerklärungen (Dogmen) zukommt […]. Verbindlichkeit kommt den lehramtlichen Aussagen zu kraft der Wahrheit der Lehre […]. Nicht deshalb muss etwas für wahr gehalten werden, weil ein Papst es gesagt hat, sondern ein Papst hat Lehrautorität, weil und insofern es wahr ist, was er verkündet“ (Kerber 1991: 11; Herv. i. O.).

Auf der Ebene konkreter gesellschaftlich-politischer Fragen ist das kirchliche Lehramt hingegen auf säkulare Erfahrungs-, Sach- und Fachkompetenz angewiesen, ohne die eine der Komplexität der Sachverhalte angemessene sittliche Urteilsbildung nicht möglich ist; die Kirche besitzt diesbezüglich keine genuine Urteilskompetenz. Deshalb betont die k. S. verschiedentlich, „keine technischen Lösungen“ zu politischen oder sozialen Problemen anbieten zu wollen (vgl. z. B. „Sollicitudo rei socialis“ 41).

Die k. S. reflektiert die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Herausforderungen der Zeit in dem Deutungshorizont einer christlichen, biblisch informierten und durch die Tradition christlicher Anthropologie und Ethik geformten Weltsicht. Unter diesem „Vorzeichen“ werden z. B. die Welt als „Schöpfung“ und der Mensch als Geschöpf gedeutet. Derartige Prämissen wurden in der älteren, naturrechtlich formatierten k.n S. meist nicht ausdrücklich ausgewiesen. Ihre Plausibilität wurde in einer religiös noch relativ homogenen geistigen Situation offensichtlich stillschweigend vorausgesetzt, zumal die älteren kirchlichen Dokumente ausschließlich katholische Gläubige adressierten. Die jüngere k. S. richtet sich nicht nur an die katholischen Gläubigen, sondern – so explizit seit der Enzyklika „Pacem in terris“ – an „alle Menschen guten Willens“ bzw. schlicht an „jeden Menschen“ („Laudato si’“ 3). Dementsprechend werden Brücken zwischen christlichen (biblischen) Deutungsressourcen und einer vernunftbasierten, auch Nicht-Gläubigen zugänglichen Argumentation geschlagen. Zudem wird im Bewusstsein der Grenzen der genuin kirchlichen Kompetenz zur Analyse der Herausforderungen nicht nur umfassender und systematischer, sondern auch grundsätzlich ohne Vorbehalt (wenngleich nicht unkritisch) auf das wissenschaftliche Wissen der Gegenwart zurückgegriffen.

Weshalb die Kirche zu Fragen, für die sie allenfalls eine eingeschränkte eigene Kompetenz geltend machen kann, überhaupt Stellung bezieht, wird v. a. seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ausdrücklich reflektiert. Legitimität und Notwendigkeit sozialethischer Stellungnahmen der Kirche zu konkreten Herausforderungen moderner Gesellschaften lassen sich aus ihrem Selbstverständnis als „Kirche in der Welt von heute“ (GS) theologisch begründen. Der Glaube an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bzw. die inkarnatorische Grundstruktur des christlichen Glaubens schließt ein, dass die Kirche die konkreten menschlichen Wirklichkeiten – „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) – zu ihrer Sache machen muss. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen leben und leiden, prägen diese Wirklichkeit; sie in Konzentration auf das vermeintlich Wesentliche zu ignorieren, käme einer Verkennung des Verkündigungs- und Zeugnisauftrags der Kirche gleich. Positiv hat die Römische Bischofssynode „De iustitia in mundo“ (1971) diesen Zusammenhang formuliert: „Für uns sind Einsatz für Gerechtigkeit und die Beteiligung an der Umgestaltung der Welt wesentlicher Bestandteil der Verkündigung der Frohen Botschaft, d. i. der Sendung der Kirche zur Erlösung des Menschengeschlechts und zu seiner Befreiung aus jeglichem Zustand der Bedrückung.“ („De iustitia in mundo“ 6) Dieser verbindliche Konnex zwischen der Verkündigung des Evangeliums und der Einlassung auf die Gerechtigkeitsherausforderungen in den konkreten Lebenswirklichkeiten als dem (einzigen) Ort, an dem Menschen die Verheißung des Heils glaubhaft erfahren können, bildet das theologische Fundament der k.n S.

5. Gegenstandsbereich und zentrale Themen

Das Themenfeld der k.n S. ist so breit und differenziert wie das „Soziale“ als Gegenstandsbereich. Es reicht in seinen Dimensionen von der Familie über die intermediären gesellschaftlichen Gruppen, den Staat als Organisationsform des Politischen bis zu den Konturen einer Weltgesellschaft. Es umfasst die unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen gesellschaftlicher Ordnung (Geschlechterordnung; politische Ordnung; Wirtschaftsordnung; Friedensordnung). Welche Fragestellungen zu welcher Zeit und in welchem Kontext vorrangig bearbeitet werden, hängt von den Zeitverhältnissen sowie den Perspektiven und der Aufmerksamkeitsökonomie der unterschiedlichen Akteure der k.n S. ab und ist damit in gewisser Weise kontingent.

Den historischen Ausgangspunkt der k.n S. als eigenständiges Reflexionsfeld und als Textkorpus bildet die „Soziale Frage“ des 19. Jh. Die sog.e Arbeiterernährungsfrage beschäftigte im Kontext der sich formierenden Industriegesellschaft und des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit etwa Mitte des 19. Jh. katholische Intellektuelle, Politiker und kirchliche Verantwortungsträger in Europa; man denke an zentrale Figuren wie Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Adolph Kolping, Karl Freiherr von Vogelsang, Franz Hitze, Ludwig Windthorst u. a. Der Gründungsdynamik entspr. liegt von Anfang an ein bes.r Fokus auf Fragen der Wirtschaft. Insofern sie als Schlüsselfrage für das soziale Wohlergehen und die Ermöglichung gerechter Teilhabe in den Blick kommt, führt die kritische Auseinandersetzung unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zu der (einer katholischen Gesellschaftsauffassung keineswegs von vornherein inhärenten) Einsicht in die Notwendigkeit einer sozialpolitischen Beanspruchung des Staatswesens. Die Frage nach einer gerechten Wirtschaftsordnung führt, resultierend aus der Kritik der Existenzbedingungen der Arbeiterschaft, zur Auseinandersetzung mit der Frage des Eigentums. Während zunächst die Verteidigung eines individuellen Eigentumsrechts zur Subsistenzsicherung der lohnabhängigen Arbeiter („Rerum novarum“) im Vordergrund steht, geht es später um die Begründung einer Eigentumsordnung („Quadragesimo anno“), die zwar ein relatives Recht auf Eigentum anerkennt, jedoch unter dem (schöpfungstheologisch fundierten) Vorzeichen der Gemeinwidmung der Erdengüter die Sozialpflichtigkeit allen privaten Eigentums hervorhebt. Damit fungiert diese Dimension der Ordnungsethik als ein Schlüsselaspekt in dem Ringen um eine gerechte Ordnung der Gesellschaft überhaupt. Diesbezüglich verficht die k. S. lange Zeit einen dritten Weg zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ (u. a.: „Quadragesimo anno“; „Centesimus annus“), wobei die Bedeutung beider Systembegriffe in den jeweils zeit- und kontextgebundenen Quellentexten der k.n S. erheblich variiert und deshalb jeweils genau untersucht werden muss, worauf sich die Kritik an dem einen oder anderen System tatsächlich bezieht. Die Texte spiegeln ein so breites und spannungsvolles Spektrum gesellschaftlicher und politischer Erfahrungen, dass auch die Wertungsaussagen im Textbestand – etwa zwischen der Enzyklika „Quadragesimo anno“ und Texten aus den lateinamerikanischen Kirchen der Nachkonzilsära – bis zur Widersprüchlichkeit divergieren; hiermit ist auch ein zentraler Punkt des lehramtlich ausgetragenen Konflikts zwischen k.r S. und den Theologien der Befreiung v. a. in den 1970/80er Jahren berührt (vgl. „Libertatis nuntius“; „Libertatis conscientia“).

Dem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang entspr. behauptet das Thema Arbeit von Anfang an eine prominente Stellung in der k.n S., jedoch enggeführt auf die lohnabhängige Beschäftigung. Erst die Enzyklika „Laborem exercens“ (1981) weitet das Spektrum und reflektiert den Stellenwert der Arbeit als Tätigkeit des Subjekts und Medium menschlicher Selbstverwirklichung anthropologisch und theologisch – weitgehend kontrafaktisch zu den Erfahrungen der Verdinglichung des arbeitenden Menschen unter den Bedingungen sowohl sozialistischer Plan- als auch liberal-kapitalistischer Marktwirtschaft. Positiv gewürdigt werden unter dem Vorzeichen der Subjektivität der Arbeit auch unternehmerische Initiative und Gestaltungsverantwortung. Eine sozial temperierte Marktwirtschaft findet Anerkennung, während die Antagonismen des Kapitalismus als Gesellschaftsmodell und eine ausschließlich an kurzfristiger Gewinnmaximierung interessierte, den Menschen als Subjekt missachtende und exkludierende Wirtschaftsweise scharf kritisiert werden („Centesimus annus“; „Laudato si’“). Am Thema Arbeit zeigt sich exemplarisch die patriarchale Prägung der k.n S.: Während in älteren Texten und Theorien auf der Basis essentialistischer Geschlechternormen außerhäusliche Arbeit von Frauen grundsätzlich abgelehnt wird, machen auch jüngere Dokumente (z. B. „Laborem exercens“) v. a. den Vorrang der Mutterschaft gegenüber der Beteiligung an außerhäuslicher Erwerbstätigkeit von Frauen geltend, auch wenn diese grundsätzlich akzeptiert und gleicher Lohn für gleiche Arbeit eingefordert wird. Weder wird (weibliche) Care-Arbeit im lehramtlichen Diskurs einer eigenen ethischen Reflexion gewürdigt noch das traditionelle Modell geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung grundsätzlich in Frage gestellt.

Neben dem Feld der Wirtschaft bilden das Verständnis von Staat und guter Regierung von jeher ein wichtiges Feld der Reflexion in der k.n S. Ein positives Verhältnis zur demokratischen Ordnung (Demokratie) hat die k. S. erst spät entwickelt. Der Anerkennung von gesellschaftlicher Pluralität, Säkularität des Staates und der Autonomie des Subjekts (Gewissensfreiheit; Religionsfreiheit) standen bis weit ins 20. Jh. eine fundamentale Moderne-Skepsis mit dem Verdacht des Relativismus, Indifferentismus und des Atheismus sowie die (vormoderne) Erwartung an den Staat, der katholischen Wahrheitsauffassung im politischen Gemeinwesen zur Geltung zu verhelfen, entgegen. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (DH; GS) konnte diese ideologische Barriere im Grundsatz überwunden werden.

V. a. die Anerkennung der modernen Menschenrechte als Fundament einer weltweiten Friedensordnung durch Papst Johannes XXIII. („Pacem in terris“) und die Hinwendung zu den epochalen Herausforderungen der Dekolonisierung in den 1960er Jahren repräsentieren die Ausweitung der Sozialen Frage in der globalen Dimension. Dieser Prozess geht mit der Transformation der eurozentrischen zu einer global dimensionierten k.n. S. im Kontext der (werdenden) Welt-Kirche einher. Ein Verständnis ganzheitlicher Entwicklung der Völker, die Fokussierung der Armut in den sog.en Entwicklungsländern, die Aneignung der Option für die Armen und die Bestimmung des Einsatzes für Gerechtigkeit als genuiner Auftrag der Weltkirche („Populorum progressio“ – „De iustitia in mundo“ – „Sollicitudo rei socialis“ – „Laudato si’“) markieren bedeutsame Aspekte der Globalisierung der k.n S. Die Sorge um eine gerechte weltpolitische Ordnung bzw. eine Friedensordnung kann aber schon seit Anfang des 20. Jh. in der k.n S. (Benedikt XV.) verfolgt werden; sie findet u. a. Ausdruck in den Botschaften Papst Pius’ XII. in der Ära des Zweiten Weltkriegs und kommt auch in jüngeren regionalkirchlichen Texten zum Frieden zur Entfaltung.

Seit den 1980er Jahren reagiert die k. S. explizit auf die Anzeichen der ökologischen Krise (OA; „Centesimus annus“). Mit Papst Franziskus’ Enzyklika „Laudato si’“ dokumentiert die Soziallehre der Kirche den untrennbaren Zusammenhang von ökologischer und sozialer Frage und schließt mit dem Modell einer „ganzheitlichen Ökologie“ („Laudato si’“ 137) zu den Herausforderungen der ökologischen Transformation auf (Umweltethik).

6. Ausblick

Als roter Faden zieht sich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit durch die Tradition der k.n S. Sie markiert eine unabgeschlossene und unabschließbare Aufgabe, welche die Träger der k.n S. in immer neue Lernprozesse führt. Aktuelle Desiderate betreffen u. a. das Verhältnis von Geschlechter- und Generationengerechtigkeit angesichts von Sorgeaufgaben, die Anforderungen der Digitalisierung, die Herausforderungen globaler Migration und lokaler Integration zunehmend heterogener Gesellschaften, die epochalen Gefährdungen des Friedens und der Freiheit, und nicht zuletzt die selbstkritische Anwendung der k.n S. auf die Institution Kirche angesichts von internen Krisen und Glaubwürdigkeitsverlust. Die Voraussetzungen für die glaubwürdige Präsentation eines Ansatzes zu sichern und zu stärken, der den Einsatz für Gerechtigkeit für sinnhaft und geboten hält und eine begründete Hoffnung auf gerechte Teilhabe aller Menschen an den Ressourcen für ein menschenwürdiges Leben vertritt, ist eine, wenn nicht die drängende Aufgabe der k.n S. angesichts des Vordringens rückwärtsgewandter und hoffnungsarmer populistischer Ideologien (Populismus), die mit den Ängsten und Sorgen von Menschen für eigene (machtpolitische) Zwecke kalkulieren.