Kathedersozialisten

1. Definition

Unter K. versteht man eine Strömung der frühen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Deutschland, die sich im Kontext der Hochindustrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) mit wissenschaftlichen Argumenten für soziale Reformen einsetzte. Die Bezeichnung war dabei keine Selbstbeschreibung, sondern eine polemische Benennung bestimmter Nationalökonomen durch ihre liberalen Kritiker. Anfangs nutzte v. a. Heinrich Bernhard Oppenheim den Begriff (1871), später schlossen sich weitere Stimmen, etwa Heinrich von Treitschke, an. Sie warfen Professoren, namentlich Gustav von Schmoller und Lujo Brentano, vor, von der Lehrkanzel herab Propaganda für die neugegründete Sozialdemokratische Partei zu machen. Zwar vertrat keiner der angegriffenen Professoren sozialistische Auffassungen im Sinne der SPD, aber sie hatten sich 1872 im Verein für Socialpolitik zusammengeschlossen und propagierten da entschieden den Gedanken sozialer Reformen, um einer drohenden sozialen Zuspitzung der sich in Zeiten der Hochindustrialisierung verschärfenden Klassengegensätze vorzubeugen.

2. Strömungen

Die dabei angestrebten Schritte hatten durchweg unterschiedlichen Charakter. Während das unbestrittene Haupt dieser Richtung G. von Schmoller (seit 1878 Professor für Nationalökonomie in Berlin) eine kluge, vom preußischen Staat getragene Sozialpolitik favorisierte, ging Adolph Wagner mit seinem Eintreten für einen Staatssozialismus noch einen deutlichen Schritt weiter. L. Brentano hingegen plädierte für eine Marktlösung mit starken Gewerkschaften, damit auf den Arbeitsmärkten Waffengleichheit entstünde, auf deren Basis die Löhne und Arbeitsbedingungen dann kollektiv ausgehandelt werden könnten. Gemeinsam war ihnen und den anderen K. (etwa Adolf Held oder Hans Delbrück) die Überzeugung, dass sich eine leistungsfähige, moderne Wirtschaft nur im Rahmen sozialintegrativer Institutionen entfalten könne; der wirtschaftliche Fortschritt habe zugl. ein Prozess der „Versittlichung“ zu sein und sei nur aus seiner historischen Gestalt begreifbar. Damit einher ging die Ablehnung der klassischen englischen Ökonomie und des mit ihr eng verbundenen Manchesterliberalismus. Die Ökonomie sei eine historisch-empirische Wissenschaft, die zugl. die Bedingungen des wirtschaftlichen Erfolgs und der sozialen Integration aus ihrem historischen Gewordensein begreiflich machen und entspr. Hilfestellung bei der Fortschreibung des institutionellen Rahmens der Wirtschaft geben könne.

3. Wirkung

Im Umfeld der Krise des ökonomischen Liberalismus (Gründerkrach 1873, Große Depression) fielen diese Überlegungen in der deutschen Gesellschaft durchaus auf fruchtbaren Boden. Spätestens mit Otto von Bismarcks Abwendung von Nationalliberalen und Freihandelsidee 1878 geriet der Liberalismus politisch wie ökonomisch in die Defensive. Mittelbar beeinflusste die Vorstellungswelt der K. auch die staatliche Sozialpolitik der 1880er Jahre (Einführung der Kranken–, Unfall– und Invalidenversicherung). Protektionismus und staatliche Sozialversicherung bei gleichzeitiger Bekämpfung der Sozialdemokratie („Sozialistengesetz“) entsprachen zwar nicht durchweg den Ideen der K., doch konnte sich eine Mehrheit damit arrangieren. Im Verein für Socialpolitik, der ausdrücklich mit dem Ziel gegründet worden war, akademische und praktische Sozialpolitik zusammenzubringen, brachte der Einsatz für politische Ziele indes eine Zerreißprobe, da für viele Unternehmer und Liberale die staatliche Sozialpolitik überzogen und der Protektionismus problematisch erschien. Der Verein konzentrierte sich daher in der Folge auf wissenschaftliche Arbeiten, v. a. Enqueten zur Lage der modernen sozialen Welt und deren kritische Diskussion.

4. Methodenstreite

Für die von G. von Schmoller repräsentierte Ökonomen-Gruppe blieb der Grundsatz der Verbindung von Wissenschaft und Politik freilich konstitutiv; nicht zuletzt diese Überzeugungen erklären die beiden großen Methodenstreite, in die G. von Schmoller an führender Stelle in den 1880er und den 1900er Jahren verwickelt war. Der erste oder ältere Methodenstreit mit den Kontrahenten G. von Schmoller und Carl Menger wurde v. a. um Fragen der Theoriebildung und Forschung ausgetragen. G. von Schmoller setzte sich hier für eine empirische Erfassung der weit gesehenen ökonomischen Realität und für wirtschaftshistorische Studien als Königsweg der Ökonomie ein, C. Menger dagegen für eine strenge, „spekulative“ ökonomische Theorie, die ausgehend von axiomatischen Setzungen (homo oeconomicus, methodischer Individualismus) durch theoretische Ableitungen zu allg.en ökonomischen Einsichten führen sollte. In der Grenznutzenlehre (Marginalismus) fand diese Richtung ihren deutlichsten Niederschlag, wohingegen G. von Schmollers Empirismus zu einer Fülle wirtschaftsgeschichtlicher Detailstudien ohne generalisierbare Einsichten führte; der politisch einflussreiche G. von Schmoller setzte eher auf Hintergrundgespräche als auf das Formulieren theoretisch hergeleiteter Rezepte. Der jüngere oder zweite Methodenstreit umfasste dann einen direkten Angriff auf das Zentrum des Selbstverständnisses der K. Max Weber und Werner Sombart bestritten schlicht die Vereinbarkeit von wissenschaftlichen Aussagen und Werturteilen. Im Hintergrund stand die Furcht einer jüngeren Generation von Nationalökonomen und Soziologen, dass, wie Joseph Schumpeter schreibt, das politische Räsonieren die wissenschaftliche Arbeit beeinträchtigte. Dieser Streit zeigte zugl., dass der Kathedersozialismus das Projekt einer speziellen historischen Situation und ihrer Generation war, das sich nicht beliebig fortschreiben ließ. Noch vor G. von Schmollers Tod 1917 verblasste daher das Konzept, das im Kern eine Art „Sozialer Marktwirtschaft“ avant la lettre gewesen ist.