Islamismus: Unterschied zwischen den Versionen

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W. Röhrich: Islamismus, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Islamismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 4. Januar 2021, 12:21 Uhr

1. Zwischen Religion und Politik

I. stellt eine Politisierung des Islam dar. Bei den islamistischen Terroraktionen erscheint der Islam nicht als Religion, sondern als politische Ideologie, auch wenn sie religiös begründet wird. Hierbei ist zunächst hervorzuheben, dass der I. mehrere Ausprägungen kennt und sich in unterschiedlichen Formen dokumentiert. Es gibt Islamisten in Gestalt des ehemaligen türkischen Staatspräsidenten Necmettin Erbakan oder in Gestalt Hasan al-Bannâs, des Gründers der ägyptischen Muslimbruderschaft. Es gibt aber auch Islamisten, denen es um die eindeutige Herrschaft der Scharia geht, und solche, die nicht nur Nicht-Muslime, sondern auch solche Muslime bekämpfen, die einem anderen Islamverständnis folgen. Zudem müssen die Unterschiede zwischen Islamisten und Dschihadisten beachtet werden. Denn in seiner extremen Form mündet der I. in den Terrorismus des Dschihadismus. Dies geschieht zumeist dann, wenn ihre Verfechter glauben, die Errichtung oder Verteidigung der „göttlichen Ordnung“ erfordere einen internen Umbruch oder einen extremen Dschihad, in dem die Ungläubigen und die Feinde des Islam zu bekämpfen seien. Die Terroranschläge der al-Qāida und die Gewalttaten des IS zeugen von dieser extremen Gestalt des I. bzw. des Dschihadismus.

Um den Unterschied zwischen I. als politischer Ideologie und Islam als Religion besser zu verstehen, muss man auf die islamische Geschichte zurückblicken. Hier wurde die Intention verfolgt, den Islam zu verbreiten und Reiche zu gründen. Diese Expansion vollzog sich mit den kriegerischen Mitteln des Dschihad, den die Muslime als gottgewollten Krieg führten und der als Herausforderung an die Christen gedeutet werden kann. Diese reagierten mit den Kreuzzügen, die bis heute das islamische kollektive Gedächtnis mitbestimmen. Im 19. Jh. wurde dann das islamische Dschihad-Projekt vom westlichen Globalisierungsprojekt verdrängt. Die urspr. bedrohten Europäer wurden durch die beginnende Kolonisierung (Kolonialismus) zur Bedrohung des Islam. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. breitete sich eine Re-Politisierung des Islam und damit ein I. aus, der darauf abzielt, die westliche Globalisierung zurückzudrängen und die Welt neu zuordnen.

Der Dschihad als Kriegstyp der Eroberungen in der islamischen Geschichte unterscheidet sich von der genuinen Bedeutung des Dschihad-Begriffs, der im Koran „Anstrengung zur Verbreitung des Islam gegen die Ungläubigen“ meint, was allerdings in concreto die Gewaltanwendung nicht ausschließt und die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Geschichte nicht ausschloss. Um dies nachvollziehen zu können, muss zwischen den Mekka- und den Medina-Texten im Koran unterschieden werden. Die zu Mekka offenbarte Sure Al-Kāfirūn fordert die Gläubigen auf, ihren Widersachern den Glaubenssatz entgegenzurichten: „Euch eure Religion und mir die meine“ (Sure 109:6). Der Dschihad ist hier eine Waffe der Überzeugung. Erst in den zu Medina offenbarten Suren verdichten sich die zur Gewaltanwendung aufrufenden Koranstellen zu einer Dschihad-Doktrin. Muhammad, der Prophet, war in Medina, der Keimzelle des islamischen Staates, zugl. Staatsmann und Feldherr, der den Dschihad zur Verbreitung des Islam führte. Unter diesem Aspekt ist die Sure Al-An’ām zu sehen, wo es heißt: „Und tötet keinen, welchen Gott verboten hat zu töten, es sei denn, rechtens“ (Sure 6:151). Dieser Koran-Vers bezieht sich in seiner normativen Ausrichtung auf die Dschihad-Kriege der islamischen Geschichte, in denen die Gewalt das kennzeichnende Merkmal war. Diese Kriege fanden seit der gescheiterten Belagerung Wiens (1683) nicht mehr statt. Mit dem Aufstieg des Westens verlagerte sich die Intention; der islamische Dschihad des 19. und 20. Jh. verband sich mit dem Antikolonialismus. Erst die Islamisten und später die Dschihadisten bedienten sich erneut des Dschihad als Gewaltmittel, um die von ihnen proklamierte islamische Weltordnung zu etablieren.

Die heutige Politisierung des Islam datiert seit den 1970er Jahren. Damals prägte sich eine De-Säkularisierung und eine Entwestlichung aus. Der I. entfachte abermals die Konfrontation zwischen dem Islam und der christlichen Welt. Seine anti-westliche Grundorientierung entstand – historisch-ökonomisch – aus der kolonialen Praxis und aus der strukturellen Abhängigkeit der islamischen Länder von den westlichen Industrienationen sowie nicht zuletzt aus der amerikanischen Intervention im Nahen Osten. Der I. zeichnet sich zudem durch eine neue, zeitgenössische Synthese zwischen Religion und Politik aus, die aus der Konfrontation des Islam mit der westlichen Moderne entstanden ist.

2. Beispiele

Der Begriff des I. soll an vier Beispielen verdeutlicht werden.

Beispiel 1: Die erwähnte Muslimbruderschaft war und ist die wichtigste islamistische Bewegung im ägyptischen – sowie im syrischen und jordanischen – politischen Islam. Ihr Gründer H. al-Bannâ und der islamistische Ideologe Sayyid Quṭb, der sich 1951 der Bewegung anschloss, aber unabhängig von ihr einen prägenden Einfluss auf bedeutende Terrorgruppen wie die al-Qāida ausübte, sind repräsentativ für die ägyptische Politisierung des Islam. Die Muslimbruderschaft, die bereits als religiöse Gesellschaft eine rasch wachsende Anhängerschaft erhielt, verdankte dies zunächst ihrer Verbreitung islamischer Moralvorstellungen und ihrer Unterstützung sozialer Einrichtungen. Erst in den 1930er Jahren nahm die Bewegung, die seitdem die Rückkehr zum „urspr.en Islam“ verfolgte und den Dschihad gegen Nicht-Muslime proklamierte, ihre politischen Konturen an. In den 1940er Jahren kam es zu den ersten Feindseligkeiten zwischen Mitgliedern der Bruderschaft und der ägyptischen Regierung. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt als 1948 Premierminister Mahmud Fahmy Nokraschi ermordet wurde und es im Februar 1949 zu einem tödlichen Anschlag auf H. al-Bannâ kam. Der Gründer der Muslimbruderschaft hatte ihre Grundüberzeugung in den programmatischen Worten zusammengefasst: „Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Auf dem Weg Allahs zu sterben, ist unsere größte Hoffnung“. Diese Worte bilden noch heute die Leitsätze der Bewegung.

Die Bruderschaft entwickelte sich sehr rasch zu einer streng hierarchisch strukturierten Gruppierung. Es entstand eine Massenbewegung mit den Zügen einer politischen Partei, die v. a. in der sich herausbildenden ägyptischen Mittelschicht starke Resonanz fand. H. al-Bannâ hatte betont, dass der von Gott offenbarte Islam als eine umfassende Lebensordnung anzustreben sei. Entspr. verkündete die Muslimbruderschaft in ihrem Programm, den Islam wieder zu seiner alten Größe und zu einer neuen Vorherrschaft zu führen. Ähnlich anderen islamistisch-dschihadistischen Gruppierungen idealisierte sie die islamische Vergangenheit. Mit Blick auf den Stadtstaat des Propheten in Medina entstand der programmatische Begriff des „islamischen Staates“, der für die erstrebte politische Ordnung der Muslimbrüder und für die von ihnen verfolgte Renaissance der authentischen islamischen Politik stand.

Beispiel 2: Im Februar 1979 ist mit Ruhollah Musawi Khomeini erstmals in der iranischen Geschichte die schiitische Konfession in ein Stadium eingetreten, in dem unter der Leitung des schiitischen Klerus eine religiös legitimierte Herrschaft entstand. Zwar hat sich der schiitische Islam immer auf einen Klerus stützen können, der sich autonomer gegenüber der jeweiligen Herrschaft verhielt als die sunnitischen Geistlichen. Doch während der Abwesenheit des „entrückten“ zwölften Imam, der den Safawiden zufolge seit dem 9. Jh. in „Verborgenheit“ lebt, war nach der schiitischen Doktrin im Grunde jede Herrschaft – auch die des Klerus – illegitim. Erst Ayatollah R. M. Khomeini entwickelte in diesem Kontext seine eigene Doktrin der Herrschaft des anerkannten Gottesgelehrten.

In dem von R. M. Khomeini bestimmten Jahrzehnt wurden wesentliche Grundlagen gelegt, die noch das heutige iranische Regime prägen. Dessen Kerngehalt ist die erwähnte Doktrin der Wilayat al-faqih, wie sie in der Verfassung vom Dezember 1979 betont wurde. Diese erste Verfassung, die eine Mischung aus Glaubensbekenntnis, Parteiprogramm und Grundgesetz darstellte, spiegelte das schiitische Staats- und Herrschaftsverständnis in khomeinischer Ausprägung wider: In der Islamischen Republik Iran stehe der Führungsauftrag, das Imamat, und die Führungsbefugnis in den Angelegenheiten der islamischen Gemeinschaft dem „gerechten, gottesfürchtigen, über die Erfordernisse der Zeit informierten, tapferen, zur Führung befähigten Gottesgelehrten“ zu. Nach dieser schiitischen Lehre war der Faqih der oberste Richter und der Bewahrer aller Staatsorgane, unter dessen direktem Einfluss sämtliche „legislativen, richterlichen und erzieherischen Institutionen“ standen. Die Verfassung benennt – auch in ihrer zweiten Fassung – den Islam zwölfer-schiitischer Ausprägung als die offizielle Religion des Iran, sie unterstreicht die dominierende Rolle der Geistlichkeit in den staatlichen Institutionen und sieht im islamischen Recht der Scharia die Grundlage des Rechtswesens.

Mit der Gründung der Islamischen Republik Iran erreichte der seit den frühen 1970er Jahren einsetzende Prozess der Entstehung und Ausbreitung des politischen Islam einen markanten Höhepunkt. Die Revolution erweckte die Hoffnung, als sei damit ein Weg aufgewiesen, den die Muslime zu gehen hätten, um die im Westen gesehene „Krankheit“ zu überwinden. Bei Beobachtern wie Betroffenen breiteten sich die Erwartung wie die Befürchtung aus, die urspr. von einem breiten Konsens der Bevölkerung getragene Revolution könne eine neue historische Epoche in der Welt des Islam einleiten.

Namentlich in der internationalen Politik trat die politische Revolte gegen den Westen in den Mittelpunkt – v. a. gegen den Protagonisten der Verwestlichung und den „Verursacher“ des Identitätsverlustes der Muslime: gegen die USA und im weiteren Kontext gegen Israel als Manifestation westlicher Dominanz und Einflussnahme auf die islamische Welt. Damals verbreitete sich der Slogan: „Der Weg nach Jerusalem geht über Kerbela“, über die im Irak gelegene Grabstätte des als Märtyrer verehrten schiitischen dritten Imam Husain. „Kerbela“ stand für die Befreiung der Muslime von ihren inneren Feinden wie Saddam Hussein. Und „der Weg nach Jerusalem“ kennzeichnete die Befreiung der Welt des Islam von ihren äußeren Feinden. In diesem Kontext ist die von der iranischen Führung im Krieg gebrauchte Rhetorik enthüllend. Der Krieg wurde zum Dschihad: ein Begriff, der hier – analog dem Dschihad in der Tradition der islamischen Welteroberung – als gottgewollter Krieg herausgestellt wurde. Das Heer wurde zum Heer des al-Mahdī, des auf die Welt zurückkehrenden „verborgenen Imam“, und das Sterben im Kampf wurde zum Martyrium.

Beispiel 3: Die Terroranschläge auf das World Trade Center mitten in Manhattan und auf das Pentagon in Washington vom 11.9.2001 haben eine Weltöffentlichkeit erschreckt, die sich noch immer weigerte, den islamischen Fundamentalismus im globalen Machtgefüge angemessen zu verstehen. In den USA lösten die islamistischen Anschläge mit ihrer hohen Symbolkraft einen tiefen Schock aus. Das World Trade Center in Trümmern, Teile des Pentagons in Flammen, das Weiße Haus evakuiert, die Flughäfen geschlossen: Die Szenerie übertraf selbst die Fiktion der ins Meer stürzenden Freiheitsstatue in Roland Emmerichs Film „Independence Day“.

Diesem „war on America“ (Bush 2001a) musste dem amerikanischen Präsidenten zufolge der „war on terror“ (Bush 2001b) folgen, dessen Konzeption sich in Umrissen erkennen ließ: In einer langandauernden Aktion mit verschiedenen militärischen Operationen gehe es darum, den Krieg zu führen. „This crusade“, so die problematische Wortwahl, „this war on terrorism is going to take a while“ (Bush 2001a). Demgegenüber erklärte Osama Bin Laden mit den Worten Sayyid Quṭbs: „Dieser Krieg ist ein Krieg zwischen Iman/Glauben und Kufr/Unglauben“ (Quṭb 1954: 125).

Das letzte Zitat ist aufschlussreich: Die Anschläge vom 11.9.2001 waren ein Glaubensakt, und O. Bin Laden wollte sie als einen Krieg zwischen dem Islam und dem Westen gewertet wissen. Dem so orientierten Terrorismus entsprach eine offensive Strategie im Rahmen eines asymmetrischen Kriegs. Er wurde als ein Dschihad-Krieg mit Dschihad-Kämpfern geführt, die sich als Glaubenskrieger verstanden. Die Legitimität dieser kriegerischen Gewalt war mit dem Ziel verbunden, die Welt von der Vorherrschaft des Westens durch eine „islamische Weltrevolution“ zu befreien.

Interessant in diesem Zusammenhang sind Details der Stellungnahme O. Bin Ladens: Amerikas „herrlichste Gebäude wurden zerstört, und dafür danken wir Allah. Da habt ihr Amerika, von Nord bis Süd, von West bis Ost mit Furcht erfüllt. Allah sei Dank dafür“. Dem folgte der Aufruf: „Diese Ereignisse haben die Welt gespalten. Auf der einen Seite stehen die Gläubigen, auf der anderen die Ungläubigen. Möge Allah euch von den Ungläubigen fernhalten. Alle Muslime müssen herbeieilen, um ihrer Religion zum Sieg zu verhelfen. Der Sturm des Glaubens hat sich erhoben“ (Wright 2008: 462).

Damit war das eingetreten, was jene Fatwa vom Februar 1998 intendierte, die von O. Bin Laden, Ayman al-Zawahiri u. a. verfasst wurde. Eine Kurzfassung der Fatwa (die sich auch gegen die US-Truppen in der Golfregion wandte) lautete: „Zur Pflicht eines jeden Muslim soll es werden, die Amerikaner zu töten, ob Zivilisten oder Militärs. […] Die Ungläubigen müssen niedergezwungen werden, um die Bedrohung von uns Muslimen abzuwenden. […] Im Namen Allahs rufen wir jeden gottgläubigen und gottgefälligen Muslim dazu auf, dem Befehl Allahs zu folgen und die Amerikaner zu töten. […] Wer der Pflicht nicht nachkommt, den wird Allahs bittere Rache ereilen“. Als Einleitung diente die Sure At-Tauba: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller (die Ungläubigen), wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt“ (Sure 9:5).

Beispiel 4: Der IS, der umfangreiche Gebiete erobern konnte und ganz bewusst Morde als Internetpropaganda nutzt, entstand im Irak. Nach dem amerikanischen Irak-Krieg (2003) und dem Sturz S. Husseins ergab sich im dortigen Sunna-Schia-Konflikt das Operationsfeld des jordanischen Terroristen Abu Mussab al-Sarkawi. Seine Terrorgruppen – u. a. die radikal-islamistische al-Qāida im Irak – waren für ihre brutalen Anschläge bekannt. Abu Mussab al-Sarkawi verkörperte jenen Terroristen, der in extremer Weise seine Schreckenstaten gegen die Schiiten ausführte. Diese Terrorakte entsprachen der bereits von Ibn Taymiyya vertretenen Ideologie. Der sunnitische Gelehrte hatte im frühen 14. Jh. die Schiiten und die Alawiten als gefährlicher als Christen und Juden bezeichnet und verfolgt. Abu Mussab al-Sarkawi wurde zum radikalen Vorkämpfer des entstehenden IS.

Nach den Terroranschlägen und Hinrichtungen im Irak kam es zu Gebietsgewinnen in Syrien. Dort war 2011 im Rahmen des Arabischen Frühlings jener Aufstand gegen das Regime Baschar al-Assads ausgebrochen, dessen gewaltsame Reaktion zum geschichtsträchtigen Bürgerkrieg führte. Der zunächst schleichende, bald aber brutale Prozess der IS-Eroberungen führte zur Einnahme der Provinzmetropole Raqqa, die der IS zu seiner Hauptstadt erklärte.

Im Irak gelang der Sturm auf Mossul, auf die zweitgrößte irakische Stadt mit zwei Mio. Einwohnern. Hier rief Abu Bakr al-Baghdadi am 29.6.2014, dem ersten Fastentag im Monat Ramadan, das lange akribisch geplante IS-Kalifat aus. Beim Freitagsgebet am 4.7.2014 in der dortigen ältesten Moschee stellte er die Tradition des Kalifats der ersten vier (der sog.en rechtgeleiteten) Kalifen heraus.

3. Zurück zur „großen Zeit“

Dieses Zurück zur „großen Zeit“ der ersten Kalifen entspr. der Ideologie der Islamisten und Dschihadisten, die im Frühislam die Leitbilder für alle Zeiten gesetzt sehen. Für sie sind die Ereignisse in Mekka und Medina während der Führung des Propheten keine unwiederholbaren Vorbilder, sondern ein politisches Programm für die Gegenwart. Damals bildete sich mit der Gemeinde von Medina ein islamischer Staat heraus, in dem Religion und Politik im Einklang standen. Bereits 630 n. Chr. erstreckte sich die islamische Ordnung über den größten Teil der Arabischen Halbinsel. Zwei Jahre darauf, nach dem Tod des Propheten, wurde das Kalifat zur Ordnungsvorstellung des Islam.

In der Periode der ersten vier Kalifen erfuhr das Kalifat eine streng religiöse Deutung: Die Autorität des Kalifen gründete auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Kalif war nicht nur Leiter der Umma, sondern auch Stellvertreter des Propheten. Der Dschihad-Krieg diente dem islamischen Welteroberungsprojekt, das zweifellos die IS-Dschihadisten in ihrem Anspruch auf eine universale Herrschaft nachhaltig inspiriert. Unbeachtet bleibt dagegen, dass bereits die Periode der ersten vier Kalifen zahlreiche innerreligiöse Konflikte aufwies und dass allmählich ein Kalifat entstand, dem primär die Funktion zukam, die Existenz der Umma zu wahren.

„Kalif“ Abu Bakr al-Baghdadi, der sich als legitimer Nachfolger des Propheten sieht und beim Freitagsgebet die Größe des Islam verkündete, wurde in dem von ihm verfolgten Dschihadismus nachhaltig von Abu Bakr Naji und dessen Manifest „The Management of Savagery“ (Naji 2006) beeinflusst. Die darin niedergeschriebenen Grundsätze nehmen das Handeln des IS vorweg. Da wird empfohlen, die Dschihadisten müssten zunächst in einer Phase der Grausamkeit Chaos hervorrufen, um sich danach als neue Macht zu präsentieren. Zonen der Gesetzlosigkeit seien zu schaffen. Barbarei, Willkür und das Massaker werden angeraten – und immer wieder schockierende Gewalt: Enthauptungen und Verbrennen bei lebendigem Leib.

Abu Bakr al-Baghdadi beansprucht noch immer die weltweite Führung der Muslime, die heute kaum noch denkbar ist. Der IS gleicht inzwischen einer Terrororganisation mit schwindender Macht. Er hat ein umfangreiches Territorium verloren. Irakische Städte wie Sindschar, Tikrit, Ramadi und Falludscha wurden zurückerobert. Offensiven gegen die beiden IS-Hochburgen Raqqa und Mossul dürften am Ende erfolgreich sein. Gleichwohl ist der IS bemüht, die Fronten seines Machtbereichs geographisch auszuweiten. Es geht hierbei um eine militante Expansion in Nachbarländer des Kalifats. Zu ihnen zählen v. a. Libyen, Nigeria und die ägyptische Halbinsel Sinai. Darüber hinaus hat der IS eine Front in Europa eröffnet und hier Anschläge in mehreren Städten verübt.