Internationale Strafgerichtsbarkeit: Unterschied zwischen den Versionen

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M. Böse: Internationale Strafgerichtsbarkeit, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Internationale Strafgerichtsbarkeit}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 4. Januar 2021, 12:21 Uhr

1. Bedeutung

Der Begriff „i. S.“ wird überwiegend in einem institutionell-organisatorischen Sinne verstanden und bezeichnet insoweit die Befugnis der von der internationalen Staatengemeinschaft geschaffenen Strafgerichte, Strafverfahren durchzuführen und auf der Grundlage von Völkerrecht (Völkerstrafrecht) Strafen zu verhängen. Da diese Strafgerichte wie internationale Organisationen auf der Grundlage von Völkerrecht agieren und ihre Spruchkörper und Organe mit Vertretern aus mehreren Staaten besetzt sind, werden diese Gerichte als international bezeichnet. Im weiteren Sinne gilt dies auch für „internationalisierte“ Strafgerichte, die im Rahmen einer UN-Übergangsverwaltung (Kosovo, Osttimor) oder eines bilateralen Abkommens des betreffenden Staates mit einer internationalen Organisationen (i. d. R. der UNO, z. B. mit Sierra Leone, Kambodscha und dem Libanon) in Bezug auf die Zusammensetzung als auch auf das anzuwendende Recht nationale und internationale Elemente miteinander verbinden und deshalb auch als „gemischte“ bzw. hybride Strafgerichte bezeichnet werden. Der Begriff „i. S.“ kann schließlich auch in einem koordinierenden Sinne verstanden werden, der die Reichweite der staatlichen Strafgewalt in grenzüberschreitenden Fällen bestimmt (internationale Zuständigkeit in Strafsachen); insoweit wird jedoch in neuerer Zeit eher der Begriff „transnationale S.“ verwendet.

2. Entstehung

Die Entstehung einer i.n S. ist auf das Bestreben zurückzuführen, die Täter schwerwiegender Verbrechen, die zumeist im Rahmen bewaffneter Konflikte gegen die Zivilbevölkerung oder Teile davon begangen werden, aber aufgrund der Beteiligung staatlicher Stellen an der Tatausführung de facto straflos bleiben, strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem erste Ansätze in den Friedensverträgen von Versailles (1919) und Sèvres (1920), die im Ersten Weltkrieg von deutscher Seite begangenen Kriegsverbrechen und den Völkermord an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich vor internationale Strafgerichte zu bringen, gescheitert waren, wurde unter dem Eindruck der unter dem Nationalsozialismus begangenen Gräueltaten, insb. des Völkermordes an den europäischen Juden (Shoa), mit dem Londoner Abkommen (1945) der IMG errichtet, um die Mitglieder der politischen und militärischen Führung des NS-Regimes für Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen (Nürnberger Prozesse, 1945 f.), und damit erstmals ein internationales Strafgericht geschaffen, das auf der Grundlage des Völkerrechts Strafen gegen Einzelpersonen verhängte. Diese Entwicklung wurde wenig später durch Errichtung eines Internationalen Militärgerichtshofes für den Fernen Osten zur Aburteilung der japanischen Kriegsverbrechen bestätigt (Tokioter Kriegsverbrecherprozesse, 1946–48). In der Folgezeit aufkommende Bestrebungen, das mit den Nürnberger Prozessen begründete Völkerstrafrecht mit einem Internationalen Strafgerichtshof institutionell zu verankern, blieben zunächst erfolglos, wurden aber nach dem Ende des Kalten Krieges wieder aufgegriffen, als es im auseinanderfallenden Jugoslawien zu massiven Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht (insb. „ethnischen Säuberungen“) gekommen war und der UN-Sicherheitsrat darauf mit der Einsetzung eines ad-hoc-Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) reagierte (1993). Kurze Zeit später wurde unter dem Eindruck des in Ruanda verübten Völkermordes an der ethnischen Minderheit der Tutsi ein weiterer ad-hoc-Strafgerichtshof für Ruanda (RStGH) errichtet (1994). Diese Entwicklung begünstigte die kurz zuvor im Auftrag der UN-Generalversammlung wieder aufgenommenen Arbeiten zur Schaffung eines IStGH, die schließlich zu dem auf der Konferenz von Rom (1998) verabschiedeten Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH-Statut) führten. Das IStGH-Statut ist am 1.7.2002 in Kraft getreten und von 124 Staaten (darunter auch die BRD) ratifiziert worden.

3. Zuständigkeit und Verfahrenseinleitung

Die i. S. wurde zur Verfolgung von schweren Verbrechen geschaffen, die den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen und damit die internationale Staatengemeinschaft als Ganzes berühren (Präambel des IStGH-Statuts). Dementsprechend umfasste die sachliche Zuständigkeit des IStGH (ebenso wie zuvor diejenige von JStGH und RStGH) Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Auf der ersten Konferenz zur Überprüfung des IStGH-Statuts in Kampala beschlossen die Vertragsstaaten, die Zuständigkeit auf das bereits im IMG-Statut enthaltene Verbrechen der Aggression auszuweiten (2010); diese Änderung ist inzwischen von 37 Vertragsstaaten angenommen worden, vor Ausübung dieser Gerichtsbarkeit bedarf es jedoch noch eines weiteren Beschlusses der Versammlung der Vertragsstaaten. Ein Strafverfahren vor dem IStGH kann durch Ersuchen einer Vertragspartei, durch Entscheidung der Anklagebehörde beim IStGH oder durch eine Verweisung des UN-Sicherheitsrats ausgelöst werden (trigger mechanisms). In den erstgenannten Fällen wird die örtliche bzw. personelle Zuständigkeit des IStGH über einen Vertragsstaat und einen insoweit bestehenden Anknüpfungspunkt (Tatort, Staatsangehörigkeit des Täters) begründet; dessen bedarf es nicht, wenn die Gerichtsbarkeit des IStGH – wie bei den ad-hoc-Strafgerichtshöfen (JStGH und RStGH) – durch Beschluss des UN-Sicherheitsrates begründet wird.

4. Verhältnis zur nationalen Strafgerichtsbarkeit

Die Schaffung einer i.n S. ist eine Reaktion auf das Versagen der Staaten, die auf ihrem Hoheitsgebiet und unter ihrer Beteiligung begangenen Verbrechen aufzuklären und zu verfolgen. Dementsprechend wurde die nationale S. zunächst durch eine ausschließliche (IMG) oder vorrangige (JStGH, RStGH) Zuständigkeit internationaler Strafgerichte verdrängt. Demgegenüber wäre der in seiner Zuständigkeit nicht mehr auf eine bestimmte historische Situation beschränkte, sondern als ständiger Strafgerichtshof gegründete IStGH mit einem generellen Vorrang gegenüber der nationalen Strafjustiz überfordert. Das IStGH-Statut folgt daher einem flexibleren Ansatz, wonach die Verfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen grundsätzlich Aufgabe der betroffenen Staaten ist, der IStGH jedoch seine Gerichtsbarkeit ausübt, wenn der betreffende Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Verfolgung dieser Verbrechen zu gewährleisten. Der i.n S. kommt also im Verhältnis zur nationalen S. lediglich eine ergänzende Funktion zu (Grundsatz der Komplementarität). Der Vorrang der nationalen S. wird allerdings dadurch relativiert, dass der IStGH selbst darüber entscheidet, ob die Voraussetzungen für die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit gegeben sind.

5. Tätigkeit und aktuelle Entwicklung

Vor den ad-hoc-Strafgerichtshöfen wurden gegen 161 (JStGH) bzw. 97 (RStGH) Personen Anklage erhoben, die zu 83 bzw. 62 Verurteilungen führten. Zur Abwicklung der beiden Gerichtshöfe hat der Sicherheitsrat den International Residual Mechanism geschaffen, der die verbleibenden Aufgaben (z. B. im Rahmen der Strafvollstreckung) fortführen und den Abschluss der letzten Verfahren vor dem JStGH gegen insgesamt sieben Angeklagte beschleunigen soll. Die Anklagebehörde beim IStGH hat zwar in zehn Ländern (Uganda, Kongo, Zentralafrikanische Republik, Sudan, Kenia, Libyen, Elfenbeinküste, Mali, Georgien, Burundi) Ermittlungen durchgeführt, es wurden aber bislang nur drei Personen verurteilt; in sechs Verfahren wurde die Anklage zurückgezogen, nicht zur Hauptverhandlung zugelassen oder der Angeklagte freigesprochen. Der Umstand, dass die Verfahren mit Ausnahme der 2016 eingeleiteten Untersuchung zu Georgien ausschließlich afrikanische Staaten betrafen, hat dem IStGH den Vorwurf politischer Selektivität, z. T. sogar rassistischer Voreingenommenheit oder neokolonialen Herrschaftsstrebens eingetragen, obgleich die Verfahren überwiegend auf Ersuchen der betroffenen Staaten (Uganda, Kongo, Zentralafrikanische Republik, Mali) oder des UN-Sicherheitsrates (Sudan, Libyen) ausgelöst worden waren. Zu einer offenen Konfrontation kam es, als der IStGH gegen den sudanesischen Präsidenten Umar Al-Bashir einen Haftbefehl erließ und mehrere afrikanische Staaten (darunter auch Südafrika) diesen weiterhin als Staatsgast empfingen, anstatt ihn festzunehmen und an den IStGH zu überstellen. Um sich dieser Kooperationspflichten zu entledigen, aber auch mit Blick auf die Konzentration der Strafverfolgung auf afrikanische Staaten, haben Südafrika und Burundi im Oktober 2016 erklärt, den IStGH zu verlassen; die Austritte treten nach Ablauf eines Jahres in Kraft. In engem Zusammenhang mit dieser Entwicklung steht die Initiative der AU, beim neuen Afrikanischen Gerichtshof (African Court of Justice and Human Rights) Strafkammern einzurichten, die für die Verfolgung und Aburteilung völkerstrafrechtlicher Verbrechen zuständig sein sollen. In einem bilateralen Abkommen zwischen der AU und dem Senegal wurde bereits ein erster Schritt zur Regionalisierung der i.n S. vollzogen, indem innerhalb des senegalesischen Gerichtssystems afrikanische Sonderkammern zur Aburteilung im Tschad begangener Völkerrechtsverbrechen eingerichtet wurden. Diese Entwicklung ist zugl. symptomatisch für die Tendenz, parallel zum IStGH hybride Strafgerichte zu errichten, die ungeachtet ihrer völkerrechtlichen Grundlagen und ihrer Anbindung an internationale Organisationen (UNO, AU) fest in einer nationalen Strafrechtsordnung verankert sind („internationalisierte“ Strafgerichte, s. o. unter 1.).

6. Bewertung

Die Errichtung des IStGH markiert den Übergang von den ad-hoc-Strafgerichtshöfen zu einer ständigen i.n S. und bringt damit die bisherige Entwicklung zu einem (vorläufigen) Abschluss. Zugl. wurde mit dem IStGH-Statut das materielle Völkerstrafrecht konsolidiert und die Grundlage für seine Fortentwicklung durch den IStGH gelegt (u. a. in Bezug auf Kriegsverbrechen durch Rekrutierung von Kindersoldaten oder Zerstörung von Kulturgütern). Die geringe Zahl der abgeschlossenen Verfahren ist aber auch Ausdruck der außerordentlichen Schwierigkeiten, vor denen ein internationales Gericht bei der Aufklärung von Verbrechen dieses Ausmaßes steht und die ohne eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Vertragsstaaten kaum bewältigt werden können. Hinzu kommt, dass der IStGH anders als die ad-hoc-Strafgerichtshöfe nicht die Unterstützung der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates genießt, da China, Russland und die USA das IStGH-Statut nicht ratifiziert haben. Mit der Machtstellung des UN-Sicherheitsrates, der eine Untersuchung des IStGH auslösen, aber auch blockieren kann, und der nach wie vor nicht flächendeckenden Ratifikation des IStGH-Statuts sind zugl. die Faktoren benannt, welche die regionale Verteilung der bislang geführten Ermittlungsverfahren bestimmen: Da die Gerichtsbarkeit des IStGH aus derjenigen der Vertragsstaaten abgeleitet wird, kann die Anklagebehörde keine Ermittlungen in Bezug auf Nicht-Vertragsstaaten einleiten, es sei denn, ein solcher Fall wird vom UN-Sicherheitsrat an den IStGH verwiesen. Die von afrikanischer Seite beklagte Selektivität der Strafverfolgung ist damit in der Zuständigkeitsordnung angelegt, aber immer noch ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der vormals bestehenden ad-hoc-Strafgerichtsbarkeit. Überdies wird diesem Vorwurf durch die in jüngerer Zeit eingeleiteten Voruntersuchungen zu außerafrikanischen Ländern (u. a. Afghanistan, Bangladesch/Myanmar, Kolumbien, Irak, Philippinen, Ukraine und Venezuela) zunehmend die Grundlage entzogen. Ernster zu nehmen ist die im Vorwurf des Neokolonialismus anklingende Kritik, dass die Strafverfahren vor einem für die Bevölkerung der betroffenen Staaten „fremden“ und weit entfernten Gerichtshof stattfinden (remote justice), in dessen Urteilen sich diese nur schwer wiederfinden kann. Um diesem Einwand zu begegnen, kann die Einrichtung regionaler oder hybrider Strafgerichtshöfe sinnvoll sein; sie wäre letztlich eine konsequente Fortentwicklung des Grundsatzes der Komplementarität, welcher der i.n S. nur eine ergänzende Funktion zuweist.