Inkulturation

1. Begriffsverständnis

Der Begriff „I.“ bezeichnet den Transfer der christlichen Botschaft von einem gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen, geographischen, soziologischen etc. Kontext in einen anderen Kontext hinein. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Übersetzungsvorgang, bei dem die in einem spezifischen Kontext kommunizierte christliche Botschaft unverändert bleibt. I. bezeichnet vielmehr den Prozess, in dessen Verlauf das Christentum – bereits in einer spezifischen kulturellen Vermittlung – als Kultur auf eine andere Kultur trifft, wobei es im Rahmen eines reziproken hermeneutischen Prozesses (Hermeneutik) zu einer gegenseitigen Befruchtung der Kulturen kommt. Der Begriff der I. wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zunächst in der Soziologie verwendet, um die Übertragung von Werten, Vorstellungen, Konzepten, Verhaltensmustern etc. von einer Kultur in eine andere zu bezeichnen. Als Neologismus wurde er seit Mitte des 20. Jh. von der Theologie übernommen, wo er zuvor verwandte Begriffe wie Akkomodation, Akkulturation, Adaption, Anpassung, Assimilation, Indigenisierung, Konnaturalisierung, Prä-Evangelisierung, Transformation etc. ablöste und als neue „missionstheologische Programmatik“ in die Theologie (speziell: in die Missionswissenschaft) eingeführt wurde. Während bei der Reflexion des I.s-Begriffs zunächst die Begegnung des Christentums mit ländlich geprägten kulturellen Kontexten im Vordergrund stand, weitete sich dieses Verständnis und öffnete sich für weltweite Kontexte von Migration, ethnischer Identität, Formen von Familienleben, Jugendkulturen, Globalisierung, Urbanisierung und Postkolonialismus.

2. Christentum und Inkulturation

Seinen geschichtlichen Erfolg verdankt das Christentum seit seinen Anfängen gerade seiner Fähigkeit, die christliche Botschaft angepasst in unterschiedlichen Kulturen anzubieten und zu verkünden. Der Übergang des Christentums von einer jüdischen Sekte hin zu einer römisch-universalen Glaubensgemeinschaft war von einer beeindruckenden I. v. a. in den hellenistisch-römischen Raum hinein geprägt, während zeitlich parallel dazu eigene I.s-Prozesse in den afrikanischen (Ägypten, Äthiopien, Nordafrika) und asiatischen (Syrien, Persien, Indien) Raum stattfanden. Erst in einer sich abgrenzenden und zugl. aufnehmenden Auseinandersetzung mit ägyptischen, hethitischen, sumerischen, babylonischen, persischen und hellenistischen Kulturen gewann das Christentum seine Gestalt.

Insb. mit Blick auf die hellenistische Kultur gelang es dem Christentum in den ersten Jh., die Heilsbotschaft von Jesus Christus in einen lebendigen dialogischen Prozess der Transformation zu vermitteln. Dabei mussten kulturelle Differenzen aufgezeigt, Spannungen ausgehalten und Übersetzungsleistungen vollzogen werden, wenn den Griechen die „Torheit“ des Kreuzes als Ausdruck von „Gottes Kraft“ (1 Kor 1,18) vermittelt werden sollte; zum anderen mussten im veränderten kulturellen Kontext Antworten auf Fragen gegeben werden, die sich im NT noch nicht gestellt hatten. Einzelne Begriffe wurden – oft nach erbittert geführten Auseinandersetzungen – eingeführt, die im NT nicht vorkamen (vgl. Zentralbegriffe altkirchlicher Dogmen wie Hypostasis, Ousia, Homoousios oder Physis). Diese Termini sind das Produkt eines vitalen Dialogs des Christentums mit hellenistischem Denken und Antwortversuche auf die erst in dieser Begegnung aufgeworfenen Fragen. Das Christentum musste sich der Herausforderung der hellenistischen Kultur stellen, um die engen Grenzen seines Entstehungsortes zu überwinden. Erst die I. in eine fremde Kultur hinein ohne Furcht, dabei die eigene Identität aufzugeben, hat die Verkündigung des Christentums mit seiner universalen Heilsbotschaft davor bewahrt, ungehört und unverstanden zu verhallen. V. a. im Prozess der Hellenisierung entstanden der Glaube, die Kirche (Katholische Kirche) und die religiöse Ausprägung, die das Christentum anderthalb Jahrtausende lang prägten. Dabei blieb das Bewusstsein für eine Orientierung der christlichen Mission an den bestehenden kulturellen Kontexten in den verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte wach. So mahnte z. B. im 6. Jh. Papst Gregor I. Augustinus von Canterbury, die heidnischen Kultstätten in England nicht zu zerstören, sondern in christliche Kirchen umzuwandeln, und auch religiöse Erfahrungen der „missionierten Neuchristen“ in das Leben der christlichen Gemeinschaften aufzunehmen, was wesentlich zum Missionserfolg bei den Angelsachsen beitrug. Auch die Missionierung Germaniens durch Bonifatius orientierte sich an einer solchen „Kontextsensibilität“.

Von Anfang an leistete das Christentum damit eine erstaunliche Übersetzungsleistung, die erst vorübergehend abebbte, als das Christentum zur kulturgestaltenden Kraft des Abendlandes wurde und die bis dahin eingegangene Symbiose von christlichen Impulsen und kulturellen Ausprägungen so weit vollendet war, dass die eigentliche Substanz des Glaubens sowie dessen akzidentelle kulturelle Variationen amalgamisierten, das kulturelle Gewand als solches nicht mehr sichtbar war und der kulturell geprägte Glaube nun (ohne Berücksichtigung der Geschichtlichkeit sowie Kultur- und Zeitgebundenheit jeder Religion) als der „Glaube an sich“ betrachtet wurde. An die Stelle des Bewusstseins dafür, dass das Christentum sich gerade in seinen Anfängen erfolgreich in die verschiedenen Kulturen hinein inkulturiert hatte, rückte auf Grundlage einer scholastisch geprägten Philosophie und Weltanschauung nun die Überzeugung, dass ein universales, für alle Zeiten, kulturellen Kontexte und geographischen Räume gültiges Glaubensgebäude wesentlich für das Christentum sei.

Dennoch wurde der Ansatz der I. im Rahmen der Missionsgeschichte in unterschiedlichen Kontexten verfolgt. Insb. in der ersten Phase der Tätigkeit der Jesuiten bis zur Aufhebung des Ordens 1773 war ihre Missionstätigkeit davon geprägt, Probleme einer den jeweiligen Epochen und kulturellen Räumen angemessenen Mission gedanklich zu durchdringen. Bereits Franz Xaver sah sich in der ersten Hälfte des 16. Jh. mit Fragen interkultureller Lernprozesse konfrontiert und betonte als damalige Grundzüge der Interkulturalität eine Offenheit für die Werte fremder Kulturen, die Anpassung an die jeweiligen Landessitten, einen Ansatz der Mission bei den politischen und intellektuellen Führungsschichten, einen Wissensaustausch und -transfer, eine glaubwürdige Lebensführung, den Austausch über philosophische und theologische Themen, den Erwerb von Sprachkenntnissen sowie die Betonung von Vernunft und Gewissen als kulturübergreifenden und kulturverbindenden Zugang zur Wahrheit bzw. zu dem in das Herz eingeschriebenen Sittengesetz.

Erst in den 1950er Jahren tauchte der Begriff der I. explizit im missionswissenschaftlichen Diskurs auf. Nachdem der belgische Missionswissenschaftler Pierre Charles SJ den Begriff der I. im Jahr 1953 erstmals verwandt hatte, übernahm sein Schüler, der belgische Missionswissenschaftler Joseph Masson SJ, diesen Terminus (allerdings noch weitgehend synonym mit dem missionswissenschaftlich traditionsreichen Begriff der Akkulturation) ebenso wie andere Vertreter der „Löwener Schule“, um den Prozess der Einpflanzung des Evangeliums in einer nichtchristlichen Kultur zu bezeichnen. Es war J. Masson, der im Rahmen der Konzilsdiskussionen auch von der Notwendigkeit eines „vielgestaltig inkulturierten Katholizismus“ (catholicisme inculturé d’une façon polymorphe, Masson 1962: 1038) sprach.

In den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils taucht der Begriff der I. noch nicht explizit auf, doch sprechen die Konzilsväter durchaus von einer „angepassten Verkündigung“ (praedicatio accomodata, GS 44) als einem wesentlichen „Gesetz der Evangelisation“ (GS 44) und betonen mit Blick auf unterschiedliche kulturelle Kontexte, dass jedes Volk eigene Wege finden müsse, „die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen“ (GS 44). Darüber hinaus verweisen die Konzilsväter darauf, dass Kirchen und Kulturen sich wechselseitig bereichern. Bes. eindrucksvoll bringen die Konzilsväter darüber hinaus in der Kirchenkonstitution ihre Wertschätzung auch den nicht-christianisierten Kulturen gegenüber zum Ausdruck, wenn sie fordern, „dass aller Same des Guten, der sich in Herz und Geist der Menschen oder in den eigenen Riten und Kulturen der Völker findet, nicht nur untergehe, sondern geheilt, erhoben und vollendet werde“ (LG 17). Theologisch begründet wird diese Verwurzelung des christlichen Glaubens in den Kulturen im Missionsdekret des Zweiten Vatikanums mit Verweis auf die Inkarnation des Logos.

Eine frühe Verwendung des Begriffs der I. in einem kirchlichen Dokument findet sich 1974 in der asiatischen Kirche. Im Rahmen der ersten Vollversammlung der Federation of Asian Bishops’ Conferences (FABC) in Taipei wurden Fragen einer kontextorientierten Form der Evangelisierung diskutiert. Dabei wurde auch der Begriff der I. verwendet. Ein wesentlicher Meilenstein für die Einführung des I.s-Begriffs in die Theologie bzw. Missionswissenschaft war die 32. Generalkongregation der Gesellschaft Jesu, die 1974/75 in Rom tagte. Als Definition für den Prozess der I. schlug der damalige Generalobere der Jesuiten, Pedro Arrupe, vor: „Inkulturation ist die Gestaltwerdung des christlichen Lebens und der christlichen Botschaft in einem gegebenen kulturellen Milieu, in solcher Weise, dass diese Erfahrung nicht nur in Elementen zum Ausdruck kommt, die der betreffenden Kultur eigen (das allein wäre nur eine oberflächliche Anpassung), sondern dass sie ein Prinzip wird, das die Kultur beseelt, leitet und zur Einheit bringt, indem sie diese umwandelt und erneuert, so dass eine ‚neue Schöpfung‘ daraus wird“ (zit. nach Sievernich 2002: 268). 1975 knüpfte Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ an die Aussagen des Konzils an, indem er intensiv auf das Verhältnis von Evangelium und Kultur einging und betonte, dass das Evangelium und die Evangelisierung sich mit keiner Kultur identifizieren, dass aber zugl. die Verkündigung des Evangeliums durch Christen erfolgt, die zutiefst an eine Kultur gebunden sind.

3. Modelle der Inkulturation und Kritik

Es geht im Prozess der I. also nicht um eine bloße Anpasssung an eine Kultur bzw. eine Übernahme spezifischer Symbole, Riten oder sprachlicher Codes, sondern um eine wesentliche Durchdringung der bzw. einer Kultur. In einem komplexen Prozess der Transkulturation begegnet und durchdringt die christliche Botschaft als „Sauerteig“ jeweils unterschiedliche Kulturen und veredelt sie in einer je spezifischen Weise mit dem christlichen Glauben. Diese transformierende bzw. inkulturierende Begegnung führt aber nicht zu vom Original abweichenden, „verblichenen“ Formen eines urspr.en Christentums. Dem Verständnis von I. liegt das Paradigma zugrunde, dass es das Christentum niemals in einer reinen, kulturunabhängigen Form gab oder gibt, sondern dass es stets in ein judenchristliches, hellenistisches, lateinisches, romanisches, germanisches, slawisches oder anderes Gewand gekleidet existiert. I. stellt demnach ein dialogisches Geschehen dar, das beide Richtungen kennt: Das Christentum befruchtet eine Kultur, zugl. wird das Christentum aber auch von der jeweiligen Kultur, die selbst ebenfalls über fundamentale Erfahrungen, Werte und kulturelle Schätze verfügt, bereichert.

Differenziert wird das Verständnis von I. in verschiedenen Modellen, die i. d. R. aber darin übereinstimmen, dass sie als die beiden Bezugspunkte im hermeneutischen Prozess der I. zum einen das „spezifisch Christliche“ (bzw. eine „christliche Identität“), zum anderen den „spezifischen Kontext“ (bzw. eine „kulturelle Identität“) identifizieren. Je nach Betonung eines Bezugspunktes bzw. entspr. dem Verständnis vom hermeneutischen Prozess der I. wird zwischen einem Übersetzungsmodell, einem anthropologischen bzw. ethnographischen Modell und einem Modell hermeneutischer Korrelation unterschieden. Beim Übersetzungsmodell wird davon ausgegangen, dass die christliche Botschaft als ein unveränderliches Depositum feststeht und so in einen kulturellen Kontext hinein kommuniziert werden soll, damit sie darin angemessen verstanden werden kann. Das anthropologische bzw. ethnographische Modell geht vom kulturellen Kontext aus, wobei dem Christentum eine heuristische Funktion bei der Suche nach der Wahrheit im jeweiligen Kontext zukommt. Dies impliziert die Annahme, dass Gott bereits in jeder Kultur zu finden ist und darum nicht in sie hinein „vermittelt“ werden muss. Beim Modell der hermeneutischen Korrelation wird ein Zusammenhang zwischen biblischer Botschaft und den Erfahrungen der Menschen in einem kulturellen Kontext hergestellt, wobei es zu einer Relecture des christlichen Glaubens in einem spezifischen Kontext kommt. Dadurch entsteht ein lebendiger, dialogischer Austausch zwischen der biblischen Botschaft und der jeweiligen Kultur.

Der Begriff der I. hat sich zu einem missionstheologischen Paradigma entwickelt und besitzt eine hohe Plausibilität. In EG (2013) verweist Papst Franziskus ebenfalls auf die Relevanz von I. mit Blick auf das missionarische Wirken der Kirche.

Zu Recht wird der Begriff in der Gegenwartstheologie aber auch kritisch angefragt. Giancarlo Collet weist darauf hin, dass oft nicht die Menschen in den jeweiligen Kulturen, sondern die unter ihnen wirkenden christlichen Missionare die Notwendigkeit einer I. reklamieren. Gerade in wirtschaftlich schwächeren Regionen wird das Christentum – erst recht im Zeitalter der Globalisierung – mit dem erstrebten „Western way of life“ identifiziert, und so kommt bei den Armen der Wunsch auf, diese Kultur unverändert zu übernehmen. Auch seien es in der Regel die Missionare, Theologen bzw. Kirchenvertreter, die festlegen, welche Inhalte bzw. Facetten in einer Kultur in welcher Weise von der I. des christlichen Glaubens zu erfassen sind.

Eine anders gelagerte kritische Anmerkung zum I.s-Begriff formuliert Joseph Ratzinger, der in seiner Auseinandersetzung mit Adolf von Harnacks Hellenisierungsthese darauf verweist, dass es mit Blick auf I.s-Prozesse nicht sinnvoll sei, von einem prä-kulturellen Evangelium auszugehen bzw. ein prä-kulturelles Evangelium identifizieren zu wollen. Eine I. setze voraus, dass „ein gleichsam kulturell nackter Glaube sich in eine religiös indifferente Kultur versetzt“ (Ratzinger 2003: 58), was zu einer Synthese der beiden Kulturen führt. Dabei sei die Vorstellung eines kulturfreien, vorkulturellen oder dekulturierten Glaubens bzw. Christentums jedoch ein kognitives Konstrukt, das real nicht existiere. Gerade das Christentum gehe ja darauf zurück, dass Gott sich in eine ganz bestimmte Kultur inkarniert habe und „dass das Christentum bereits im Neuen Testament die Frucht einer ganzen Kulturgeschichte in sich trägt, eine Geschichte des Annehmens und Abstoßens, des Begegnens und Veränderns“ (Ratzinger 2003: 58). J. Ratzinger schlägt deshalb vor, auf den Begriff der I. zu verzichten und alternativ von einer Begegnung der Kulturen bzw. einer Interkulturalität zu sprechen, wobei Interkulturalität die Gesamtheit von Kommunikation und Interaktion zwischen den Kulturen bezeichnet. Gerade zahlreiche Theologen des Südens argumentieren in ähnlicher Weise.