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M. Breuer: Inklusion, Exklusion, I. Soziologisch, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Inklusion, Exklusion}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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F. Welti: Inklusion, Exklusion, IV. Inklusion als Rechtsbegriff, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Inklusion, Exklusion}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
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Version vom 4. Januar 2021, 11:21 Uhr

  1. I. Soziologisch
  2. II. Sozialethisch
  3. III. Pädagogisch
  4. IV. Inklusion als Rechtsbegriff

I. Soziologisch

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I., von lateinisch inclusio = Einsperrung/Einschluss, bezeichnet die Berücksichtigung oder Mitwirkung von Personen in bzw. an der Gesellschaft oder gesellschaftlichen Teilbereichen.

E., von lateinisch exclusio = Ausschluss, steht umgekehrt für Nicht-Berücksichtigung, Ausschluss oder Ausgrenzung von Personen. Insb. aus zwei theoretischen Richtungen wurden Analytiken der I./E. entwickelt:

1. Differenzierungs-/Systemtheorie

Der Begriff der I. geht in der Soziologie zurück auf Talcott Parsons. Dieser bezeichnet als I. den „process by which previously excluded groups attain full citizenship or membership in the societal community“ (Parsons 1969: 257). Mit zunehmender Rationalisierung, Pluralisierung und normativer Integration der Gesellschaft werde individuelle Partizipation unabhängig vom Geschlecht sowie von ethnischen, religiösen oder Schichtzugehörigkeiten, um stattdessen den Eigendynamiken der sozialen Teilsysteme (z. B. Familie, Wirtschaft, Politik) zu folgen. Niklas Luhmann knüpft an T. Parsons an. Allerdings versteht er unter I. nicht mehr die rechtlich fundierte Anerkennung der Person, sondern „die Art und Weise […], in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet“ (Luhmann 1995: 229), d. h. aus der Perspektive eines Systems – z. B. als Familienmitglied, Wähler oder Käufer – für relevant gehalten werden. E. bezeichnet den umgekehrten Fall, d. h. das Individuum bleibt gegenüber dem jeweiligen System unbeteiligt.

Die Formen von I./E. variieren erstens abhängig von der Sozialstruktur: In älteren, segmentär, d. h. nach gleichförmigen Einheiten (Familien, Dörfern, Stämmen) differenzierten Gesellschaften sowie in den evolutionär darauf folgenden stratifizierten, d. h. hierarchisch (wie im europäischen Mittelalter) geschichteten Gesellschaften war jedes Individuum vorrangig über die Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Segment bzw. zur Schicht inkludiert. Andere Formen gesellschaftlicher Mitwirkung, z. B. über Heirat, Besitz, Bildung oder Religion waren stets abhängig von dieser primären Zugehörigkeit. Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung geht ein Wandel von der vorgenannten I.s- zur modernen E.s-Individualität einher: „Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden“ (Luhmann 1989: 158): Es gehört keinem System vollständig an, sondern ist immer auf parallele I.en in verschiedene Systeme angewiesen. Umgekehrt hat nach der Selbstbeschreibung der Systeme jedes Individuum die Möglichkeit, an allen Funktionssystemen teilzunehmen (z. B. Schulabschlüsse zu erwerben, Rechtsansprüche geltend zu machen, Zahlungen zu tätigen, Liebesbeziehungen einzugehen). Die konkrete Realisierung von I. richtet sich nach den Anforderungen des jeweiligen Systems. Umgekehrt muss auch E. immer funktional begründet werden, z. B. durch endgültiges Nichtbestehen von Prüfungen oder freiwillige Abmeldung von der Schule.

Mit der erläuterten Umstellung der Sozialstruktur verändern sich die Semantiken der Individualität: Seit dem Übergang zur Moderne wird die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Individuums (z. B. des Künstlers mit seiner genuinen Schöpferkraft) betont. Semantiken der Gleichheit und der Menschenrechte repräsentieren die Ansprüche der Individuen auf I. in alle Teilsysteme. Auf deren strukturelle Absicherung zielen insb. wohlfahrstaatlichen Institutionen. In den Geschichtswissenschaften wird N. Luhmanns Theorie – ausgehend von der beschriebenen sozialgeschichtlichen Konzeption – zur Analyse grenzüberschreitender Prozesse (z. B. zwischen Nationalstaaten) sowie historischer Phänomene der E. (z. B. Armut, Fremdheit) rezipiert.

Die Form der I. ist zweitens je nach Art der Funktionssysteme verschieden:

a) In professionalisierten Systemen (v. a. Religion, Recht, Gesundheit, Erziehung) erfolgt I. über Interaktionen zwischen Inhabern der jeweiligen Leistungsrollen (Theologen, Juristen, Ärzte, Pädagogen; Soziale Rolle) und ihren Klienten. Die Professionellen kontrollieren monopolartig die Wissenstradition des Systems. Sie wenden das jeweilige Wissen in Handlungssituationen an, um dadurch spezifische personale Unterstützungsbedarfe zu bedienen und in einen aus der Perspektive des Systems positiven Zustand zu überführen (religiöses Heil, Recht, Gesundheit, schulischen Erfolg).

b) In den Systemen der Politik, Wirtschaft, Kunst, Massenmedien oder des Sports werden die Inhaber der Leistungsrollen durch große Publika beobachtet. Den Mitgliedern des Publikums stehen als Äußerungsformen Voice (v. a. Stimmabgabe, Kaufentscheidung, Rezeption bzw. Aufmerksamkeit) sowie Exit (die jeweilige Enthaltung) zur Verfügung.

c) In Intimbeziehungen (Freundschaft, Partnerschaft) wechseln beide Interaktionspartner zwischen Leistungs- und Publikumsrollen, d. h. inkludieren sich wechselseitig über Vertrautheit oder Liebe.

Während in vormodernen Gesellschaften Abweichler oder Anormale (z. B. Leprakranke, Ketzer, Ehrlose) verbannt oder getötet wurden, erfolgen Ausschlüsse in der Moderne v. a. in Form der inkludierenden E.: Im Anschluss an Michel Foucault lässt sich erkennen, wie Personengruppen mithilfe von psychiatrischen Anstalten, Kliniken, Gefängnissen oder Kasernen einer jeweils spezifischen Disziplin und Kontrolle unterworfen werden. E. (von Wahnsinnigen, Kranken, Sträflingen, Soldaten) wird dabei mithilfe von I.en erzeugt, um Individuen zu überwachen und zu disziplinieren. Über den Kreis der selbst Eingesperrten hinaus wird Normalität (im Sinne der Vernunft, der Gesundheit, des Rechts) produziert und in der Gesellschaft durchgesetzt. Die individuellen Voraussetzungen zur I. in die sozialen Teilsysteme werden nicht zuletzt über solche Dispositive der Disziplinierung und Normalisierung geschaffen. In der Moderne handelt es sich bei I./E. nicht um eine dichotome Unterscheidung, sondern um eine „hierarchische Opposition“ (Stichweh 2016: 61), da E.en fast ausschließlich über I.en hergestellt werden.

2. Armuts-/Ungleichheitsforschung

Ein auf die Analyse sozialer Ungleichheit gerichtetes Verständnis von I./E. geht auf Max Weber zurück. Dieser unterscheidet „offene“ soziale Beziehungen, an denen grundsätzlich jeder teilnehmen kann, von „geschlossenen“ Beziehungen, welche weitere Teilnehmer ausschließen, die Teilnahme beschränken oder an Bedingungen knüpfen. Für Wirtschaftsbeziehungen ebenso wie für ethnische Gemeinschaftsbeziehungen zeigt M. Weber, wie die jeweiligen Gruppen um der Sicherung eigener Chancen willen den Zugang externer Akteure verhindern. Neuere Arbeiten knüpfen daran an, indem sie die Etablierung sozialer Ungleichheiten und Distinktionen, kollektiver Identitäten sowie Gemeinschaftsbildungen als Effekte von Schließungsprozessen verstehen.

Im Gegensatz zu dem genuin sozialwissenschaftlichen Begriff der I. hat die jüngere Debatte um den Begriff der E. ihre Wurzeln v. a. in politischen Diskursen: In Frankreich wurde seit den 1970er Jahren die Zunahme „exkludierter“, d. h. extrem benachteiligter Bevölkerungsteile problematisiert wurde. Robert Castel macht auf eine „neue soziale Frage“ (Castel 2000: 336) infolge der Prekarisierung von Erwerbsarbeit aufmerksam: Mit der steigenden wirtschaftlichen Produktivität produziert die Lohnarbeitsgesellschaft eine Kategorie der „Überzähligen“ (Castel 2000: 348), die sich nicht einmal mehr als ausgebeutet sehen können (wie noch Karl Marx’ Lumpenproletariat). Auf neue Formen der Ausschließung machte u. a. Pierre Bourdieu mithilfe von Interviews mit Bewohnern der Pariser Banlieues aufmerksam. Die deutschsprachige Rezeption dieser Arbeiten verband sich mit der Problematisierung steigender Arbeitslosigkeit, Deregulierung und Flexibilisierung der Erwerbsarbeit und Krisen der sozialen Sicherungssysteme. Als E. gelten die „Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut“, sofern daraus „abgestufte Verhältnisse von Teilhabe bzw. Ausschluss“ resultieren. Infolge der „biographische[n] Kumulation“ solcher Faktoren, dem „sukzessive[n] Ineinandergreifen von Ausgrenzungsfolgen und -erfahrungen“ (Kronauer 2010a: 19) entstehen wachsende Gruppen Betroffener. Risiken der E. beziehen sich neben Langzeitarbeitslosen insb. auf Personen mit mangelnder Bildung, Alleinerziehende, chronisch Kranke, Wohnungslose sowie Migranten.

Der Begriff der I. erfuhr in der Ungleichheitsforschung zunächst kaum Aufmerksamkeit. Martin Kronauer verwendet diesen weitgehend synonym mit dem normativen Begriff einer (möglichst vollständigen gesellschaftlichen) Teilhabe: In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr I. mit der Ausweitung sozialer Rechte, steigender Erwerbsbeteiligung und Lohnsteigerungen sowie über familiäre und freundschaftliche Nahbeziehungen eine zuvor ungeahnte Erweiterung und Stabilisierung. Seit den 1970er Jahren kam es jedoch zu einer (sich beschleunigenden) Erosion dieser multidimensional abgesicherten I.: Die Zunahme von Arbeitslosigkeit, Niedriglohn- sowie prekären Beschäftigungsverhältnissen, der Bedeutungsverlust sozialer Nahbeziehungen infolge von Individualisierungsprozessen sowie eine Aushöhlung sozialer Rechte mit sozialpolitische Reformen führten zur E. wachsender Bevölkerungsgruppen. Normativ verstandene I. erfordert daher die Überwindung exkludierender gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen.

Kontrovers wird die Frage diskutiert, inwiefern sich die Systemtheorie zur Analyse von Phänomenen der Armut und sozialen Ausgrenzung eignet. N. Luhmann sah in großstädtischen Ghettos Tendenzen zur Etablierung von „Exklusionsbereichen“, über welche „große Teile der Bevölkerung auf sehr stabile Weise von jeder Teilnahme an den Leistungsbereichen der Funktionssysteme ausgeschlossen sind“ (Luhmann 1995: 235). Diese Annahme wird in jüngeren systemtheoretischen Arbeiten insofern infrage gestellt, als man von vollständiger E. nur bezogen auf jene Individuen sprechen könne, „von denen die Gesellschaft nichts weiß“ (Nassehi 2008: 124), was aber selbst für extrem benachteiligte Lagen nicht zutrifft. Vielmehr werden Armut und Ausgrenzung innerhalb der Gesellschaft, d. h. in der Form von I.en problematisch. Trotz strukturell verankerter I.s-Möglichkeiten (z. B. in Form des allg.en Zugangs zum Bildungssystem oder der Rechtsfähigkeit) bleibt es bei Ungleichheiten in Form und Umfang der Realisierung von I. Ursächlich dafür sind insb. Organisationen. Diese produzieren fortlaufend Ungleichheiten, indem sie vom Regelfall der Nicht-Mitgliedschaft, d. h. der E. ausgehen. Problematisch werden teilsystem- und organisationsbezogene E.en insb., sofern sie dauerhaft unfreiwillig erfolgen und/oder sich gegenseitig bedingen. E.s-Karrieren können ihren Ausgangspunkt z. B. bei einem Schulverweis, einer Kündigung oder Scheidung nehmen, woraus weitere E.en resultieren. Das kann für Individuen dazu führen, dass ihnen lebensnotwendige Leistungen dauerhaft nicht mehr verfügbar sind oder dass ihnen Möglichkeiten fehlen, etablierten sozialen Normen zu entsprechen. E.s-Karrieren können beschleunigt werden, sofern Kategorien zur Anwendung kommen, die quer zu funktionaler Differenzierung liegen, z. B. räumliche oder ethnische Differenzierung, soziale Schichtung sowie körperliche Merkmale wie Erkrankungen oder Behinderung.

3. Wohlfahrtsstaaten und Soziale Arbeit

Auf die Unterbrechung oder Dämpfung von E.s-Prozessen richten sich – neben Leistungen der Familie und der Religion – insb. nationale Wohlfahrtsstaaten: Staatliche Sozialpolitik bezieht sich über Eingriffe in die Produktions- und Verteilungssphäre kompensierend auf verbreitete E.s-Risiken, die sich als Folgeprobleme aus funktionaler Differenzierung ergeben und sich mit den Postulaten universeller I. (z. B. Zugang zu Bildung oder Gesundheitsleistungen) kreuzen. Faktische I. (im Sinne umfassender Teilhabe) kann erst im Zusammenspiel einer staatlichen Gewährleistung von Rechtsansprüchen mit Transferleistungen, Bereitstellung von Infrastrukturen sowie personenbezogenen Dienstleistungen als sozialpolitischen Interventionsformen ermöglicht werden. Daran anknüpfend bezieht sich die Soziale Arbeit als „Zweitsicherung im Wohlfahrtsstaat“ auf „solche Fälle und Aspekte von Hilfsbedürftigkeit […], die als nicht bzw. nicht hinreichend mit den Mitteln der generalisierten Auffangmechanismen der sozialen Sicherungssysteme versorgt gelten“ (Bommes/Scherr 2012: 181 f.). Ihre Leistungen dienen der „Inklusionsvermittlung, Exklusionsvermeidung bzw. Exklusionsverwaltung“ (Bommes/Scherr 2012: 144) gegenüber Individuen und werden stets intermediär, d. h. in der Vermittlung an die relevanten Teilsysteme erbracht. Allerdings lassen sich Wohlfahrtsstaaten und Soziale Arbeit nicht einfach als Institutionen zur Überführung von E. in I. verstehen. Vielfach handelt es sich bei wohlfahrtsstaatlichen Leistungen (z. B. Transferzahlungen, Pflegeheime) um Formen der oben genannten inkludierenden E. (etwa Kategorien der Langzeitarbeitslosen, der Heimbewohner). Wohlfahrtsstaaten sind „selbst Teil eines Ungleichheitsarrangements“ (Nassehi 2003: 339), indem sie vorgefundene I.en und E.en adaptieren, überformen und legitimieren.

II. Sozialethisch

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I. („Einbeziehung“) ist sozialethisch ein schillernder Begriff. Er changiert zwischen einer funktional-deskriptiven und einer emphatisch-normativen Bedeutung. Zwar verdankt sich seine aktuelle Prominenz bes. der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Gleichwohl erfasst die Forderung nach I. alle (Gruppen von) Menschen, die von sozialer Ausgrenzung aller Art bedroht oder betroffen sind. In diesem Sinne ist I. jüngst auch von katholisch-lehramtlicher Seite rezipiert und als Leitperspektive katholischer Sozialverkündigung etabliert worden.

1. Soziale Schließung v Ausgrenzung von lebenswichtigen Ressourcen

Ohne die Realität sozialer Ausgrenzung ist die Forderung nach I. bedeutungslos. Ausgrenzungen sind alltägliche Erfahrungen. Jede Beziehung zwischen Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden oder Angehörigen eines Betriebes oder einer Religionsgemeinschaft schließt alle Nichtdazugehörigen aus. Solche personalen Beziehungen – Max Weber nannte sie „Schließungen“ (Weber 1980: 218) – sind immer exklusiv wie exkludierend: einige heraushebend, die anderen ausschließend. Sie konstituieren jene überschaubaren Beziehungsnetzwerke, die Identität stiften und für die verlässliche Lebensführung jedes Menschen unerlässlich sind. Umgekehrt schützen manche E. die Ausgeschlossenen: Der Ausschluss von Kindern oder hochschwangeren Frauen vom Arbeitsmarkt dient dem Schutz ihrer gedeihlichen Entwicklung bzw. ihrer leiblichen Unversehrtheit. In allen diesen Fällen die Aufhebung von Ausschlüssen, also I. zu fordern, wäre abwegig.

Anders verhält es sich dagegen bei E.en, die die Ausgegrenzten dauerhaft von lebenswichtigen Ressourcen oder gar vom gesellschaftlichen Leben insgesamt ausschließen. Solche sozialen Ausgrenzungen verwehren den Exkludierten wesentliche Lebenschancen und führen oftmals zu einer Abwärtsspirale an Teilhabemöglichkeiten. Der (dauerhafte) Ausschluss vom Erwerbsarbeitsmarkt etwa vermindert nicht nur die materiellen, sondern auch die immateriellen Ressourcen für eine gelingende Lebensführung: Der Erwerbslose wird von Beziehungsnetzwerken seiner Arbeitswelt abgeschnitten, in denen er Anerkennung erfährt und dadurch Selbstachtung entwickelt. Beschädigte Selbstachtung belastet wiederum Beziehungen in Familien, Freundschaften oder Nachbarschaften und verstärkt die Tendenz zum Rückzug aus den lebenswichtigen sozialen Nahräumen. Derart geschwächt schwinden zudem die real verfügbaren Verwirklichungschancen für die politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Bürgerrechte, selbst wenn sie den Exkludierten formal weiterhin zu- und offenstehen. Soziale Ausgrenzungen münden oftmals in ein „kumulierendes Verliererschicksal“ (Lob-Hüdepohl 2016: 38). Kommt es bes. in den drei Kerndimensionen Erwerbsarbeit, Bürgerrechte und soziale Nahbeziehungen zu E.en, sind nach Martin Kronauer die sozial-materiellen Grundlagen einer demokratischen und menschenrechtsbasierten Gesellschaft gefährdet. In diesem Sinne urteilt das neuere päpstliche Lehramt prononciert: „Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Exkludierten sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.“ (EG 53)

2. Menschenrechtsbasierte Inklusion

I. will solchen E.en entgegenwirken. Systemtheoretisch (Niklas Luhmann) betrachtet kann keine Person in einem umfassenden Sinne, also in allen Teilen der Gesellschaft inkludiert sein („Total-I.“). Stattdessen gilt sie bereits dann ausreichend inkludiert, wenn sie zumindest in einem zentralen gesellschaftlichen Teilsystem einbezogen ist. Welche Qualität die spezifische Weise der I. und die damit verbundene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besitzen, ist in dieser funktional-deskriptiven Betrachtungsweise von I. weitgehend ohne Belang.

Dagegen setzt sich ein emphatisch-normatives Verständnis von I. klar ab: Maßstab gesellschaftlicher I. ist nicht mehr allein die formal-funktionale Einbindung von Menschen in bestimmte Subsysteme der Gesellschaft, sondern die effektive Gewährleistung ihrer Rechte als Bürgerinnen und Bürger eines menschenrechtlich basierten Gemeinwesens (Menschenrechte) und damit ihrer Würde als Mensch (Menschenwürde). Bezogen etwa auf Menschen mit Behinderungen heißt dies: Inkludiert sind sie dann, wenn ihre menschenrechtlichen Ansprüche in allen relevanten Lebensbereichen respektiert, geschützt und gefördert werden – und zwar unabhängig davon, ob sie gesellschaftlich funktionstüchtig und mehrwertsteigernd sind oder nicht. Auch menschenrechtsbasierte I. kennt E.en: Ein Höhenphobiker wird von seiner psychischen Konstitution niemals aktives Mitglied einer Extremklettergruppe sein können. Letztere aufgrund solcher E.s-Mechanismen als Forderung einer Total-I. abschaffen zu wollen, wäre unsinnig. Ausschlüsse dieser Art verhindern keinesfalls automatisch ein würdevolles Leben. Dagegen gibt es E.en, die die Möglichkeitsbedingungen würdevoller Lebensführung unmittelbar berühren. Sie betreffen öffentliche wie private Bereiche, in denen menschenrechtliche Ansprüche residieren. Freiheits-, Partizipations- sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte eröffnen und sichern die Möglichkeit menschenwürdiger Lebensführung. Menschenrechtsbasierte I. fordert hier reale Beteiligungschancen an all jenen Ressourcen und Vollzugsräumen, die für ein würdevolles Leben essenziell sind. I. schützt und gestaltet solche privaten wie öffentlichen Arrangements, in denen Menschen unterschiedlichster Besonderheiten in den sozialen Netzen ihrer Lebenswelten als eigenständige Akteure ihrer Lebensführung befähigt werden und sich zu bewähren lernen. Solche Arrangements setzen Veränderungsprozesse auf allen Seiten voraus, v. a. auf Seiten einer „Mehrheitsgesellschaft“, die – i. d. R. unbeabsichtigt – durch ihre oftmals unreflektierten Deutungs- und Handlungsmuster strukturelle Ausschließungsmechanismen bzw. Zugangsbarrieren aktivieren. Menschenrechtsbasierte I. besteht auf dem weitestmöglichen Abbau dieser wesentlich anthropogenen Barrieren. Insofern beschreibt sie weniger einen (soziologisch feststellbaren) Zustand, denn persönliche Haltungen und einen kontinuierlichen Prozess gesellschaftlichen Umbaus.

3. Konflikte um die Einlösung basaler Freiheits- und Partizipationsrechte

Prozesse der I. sind i. d. R. konfliktreich. Denn über die konzeptionellen wie „handwerklichen“ Details ihrer konkreten Gestaltung entstehen Strittigkeiten, die auch konkurrierende Interessen bis hin zu Stellvertreterkonflikten spiegeln. Eindrucksvolles Beispiel ist derzeit die Kontroverse um I. im Bildungsbereich – näherhin um die Einführung der einen Schule für alle. Im Unterschied zum herkömmlichen integrativen Bildungssystem, das die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung noch unter dem Vorbehalt der prinzipiellen Integrierbarkeit behinderter Schüler stellt, fordert die UN-BRK einen vorbehaltlosen Zugang zur allg.en Regelschule (Schule). Nur ein gemeinsames Lernen am Ort der Schule scheint in der Lage zu sein, auf der Seite der Schüler mit Behinderungen ein „gestärktes Gefühl der Zugehörigkeit“ entstehen zu lassen und auf der Seite nichtbehinderter eine „respektvolle Einstellung gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, auch bei allen Kindern von früher Kindheit an“ (Art.8 Abs. 2 UN-BRK) zu fördern. Im Mittelpunkt schulischen Lernens steht folglich die identitätsbildende Kraft wechselseitig zugespielter Achtungserfahrungen. Dies ist freilich nur möglich, wenn man die faktisch dominierende Zielvorgabe der heutigen Schule zur Diskussion zustellt: die stratifizierende Verteilung individueller gesellschaftlicher Aufstiegschancen auf der Basis curricular hinterlegter und komparatistisch gemessener Leistung. Deshalb warnen Kritiker vor der Idealisierung einer inklusiven Schule, weil sie die stratifizierende Leistungsförderung als Kern von Schule entweder für konzeptionell unaufgebbar oder angesichts der Dominanz ökonomischer Interessen der Gesellschaft für unüberwindbar halten.

Der Streit um die inklusive Schule für Kinder mit und ohne Behinderungen ist paradigmatisch für die Konflikte, die durch menschenrechtsbasierte I. entweder in anderen Lebensbereichen (z. B. Arbeitsmarkt) oder mit anderen von E. bedrohten oder betroffenen Personen(-gruppen) (z. B. Personen mit Migrationshintergrund) entstehen. Unstrittig ist, dass I.s-Prozesse kaum isoliert erfolgen können, sondern in eine umfassend inklusiv-aktive Bürgergesellschaft eingebettet sein müssen. Als enabling community etabliert sie soziale Nah- und Handlungsräume, in denen die notwendigen gesellschaftlichen Transformationen bereits selbst inklusiv, also unter Beteiligung potentiell aller Betroffenen vollzogen wird. Sie ermöglicht eine Solidargemeinschaft, in der sich selbst der primäre Empfänger von materiellen oder immateriellen Unterstützungsleistungen, „stets als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft empfinden kann“ (DBK/Rat der EKD 2014: 44). Menschenrechtsbasierte I. zeigt hier nochmals ihren Vollsinn: Über die Wahrung von wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Anspruchsrechten geht es um die Einlösung basaler Freiheits- und Partizipationsrechte im normalen Zusammenleben aller – jenseits aller Unterschiedlichkeiten, die zwischen Menschen aufgrund ihrer materiellen, sozialen, kognitiven, kulturellen u. a. Verschiedenheiten bestehen. Normalität bemisst sich hier nicht an der Durchsetzung einer durchschnittlichen, für alle normierten Lebensführung. Die Normalität inklusiven Zusammenlebens orientiert sich stattdessen an ihrer emotiven Tiefendimension. Menschen mit Behinderungen, die ebenso wie Menschen mit Migrationshintergrund oder ohne Erwerbsarbeit von Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind, wünschen sich wie alle, dass ein möglichst unaufwendiges und achtungsvolles Zusammenleben zur gewohnten Selbstverständlichkeit ihres Lebensalltags wird.

III. Pädagogisch

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1. Begriffsbestimmung

I. und E. gehören zu den klassischen Dualismen der Kennzeichnung von sozialer Zugehörigkeit in der Moderne. Der Einschluss in eine soziale Gruppe mit bes.n Merkmalen, sei es in der Bildung, in Berufen, nach sozialen Ansehen usw. bedingt gleichzeitig den Ausschluss von Menschen, die nach ihren Voraussetzungen als nicht zugehörig, gleichwertig oder zugelassen erachtet werden. Traditionelle Ein- oder Ausschlusskriterien sind z. B. Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Bildungsstand und Bildungsherkunft, Hautfarbe, Migrationsstand, Zugehörigkeit zu sozialen oder politischen Richtungen, religiöse Zugehörigkeit, aber auch Behinderung. Gesellschaftliche E.s-Praktiken erzeugen in der Regel möglichst homogene Gruppen, um sich nach außen abzugrenzen, wohingegen I.s-Praktiken die Heterogenität von Gruppen und die Diversität einer Gesellschaft als Regelfall bzw. Wunschbild ansehen. Im Blick auf die Menschenrechte und die Menschenwürde wird I. sowohl als existentielles Bedürfnis als auch gleiches Recht von Menschen aufgefasst, womit traditionelle Ausschlussgründe alle fragwürdig werden, aber im Sinne der oft faktischen Spaltung der Gesellschaft in soziale, politische, ökonomische, religiöse u. a. Untergruppen werden E.s-Mechanismen sehr oft bis heute verteidigt. I. ist damit ein relativer Begriff, der selbst im Ideal einer rechtlich vorgeschriebenen I.s-Vorgabe im Rahmen der Menschenrechte und einer demokratischen Verfassung immer im Verhältnis zu möglichen E.s-Praktiken zu bestimmen sein wird.

2. Inklusion als gesellschaftliche Herausforderung

Eine rechtliche I.s-Vorgabe stellt die UN-BRK dar, die seit 2009 auch in Deutschland gilt. I. wird in der UN-BRK universalistisch im Sinne der Verwirklichung von Menschenrechten bestimmt, wobei unterschiedliche Lebenslagen mit allen Formen von Benachteiligungen einschließlich von Behinderungen in Betracht gezogen werden. Im Art. 24 UN-BRK wird eindeutig vorgegeben, dass die Länder, die diese Konvention für rechtsverbindlich erklären, ein inklusives Erziehungs- und Bildungssystem auch für Menschen mit Behinderungen bereitstellen, das eine möglichst gleiche Teilhabe ermöglicht. Mit der Ratifizierung der UN-BRK hat sich auch Deutschland verpflichtet, I. in einem gemeinsamen Unterricht für alle Heranwachsenden anzubieten, damit benachteiligten und behinderten Menschen im Regelschulsystem zu helfen, was der bisherigen Schulstruktur mit hohen Selektionsschranken und einer E. in Sonderschulen grundsätzlich widerspricht. Inklusive Erziehung und Bildung können dabei nicht isoliert operieren, sondern machen nur Sinn in einem ganzheitlich orientierten inklusiven Modell einer Schule für alle, die mindestens über 10 Jahre gemeinsames Lernen in heterogenen Gruppen ermöglicht. Dieses hat grundsätzlich zur Voraussetzung, die Chancengerechtigkeit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) im Erziehungs- und Bildungssystem zu erhöhen und Diskriminierungen zu vermeiden. International haben sich dabei fünf Standards der I. durchgesetzt:

a) Ethnokulturelle Gerechtigkeit ist auszuüben und Anti-Rassismus ist zu stärken. In der Umsetzung bedeutet dies, insb. kulturelle Diversität anzuerkennen, Ausgrenzung, Diskriminierung oder Gleichschaltung aller zu vermeiden. Diversität meint Pluralität und Heterogenität, Widersprüchlichkeit, Paradoxien und Ambivalenzen demokratisch zu leben und miteinander friedlich, wenngleich kontrovers in demokratischen Prozeduren miteinander umzugehen. Ethnokulturelle Gerechtigkeit bedeutet, dass die eigene Herkunft irrelevant und das Individuum relevant für den Bildungserfolg ist. Rassismus ist ein bes.r Feind ethnokultureller Gerechtigkeit, weil er grundsätzlich auf Diskriminierung angelegt ist.

b) Geschlechtergerechtigkeit ist herzustellen und Sexismus auszuschließen. Dies bedeutet z. B., dass Geschlechterkonstruktionen Vielfalt zeigen können. Geschlechterdiskriminierungen sind zu unterbinden, d. h. es ist Respekt vor der Vielfalt zu entwickeln und eigene Einstellungen sind nicht für alle zu generalisieren. Diskriminierungskonflikte werden offen ausgetragen und Lösungen werden in Gleichbehandlung gemeinsam und offen gefunden. Eine geschlechtergerechte Sprache wird praktiziert und eine aktive Gleichstellungspolitik wird durchgeführt. Sexismus wird in allen Formen unterbunden und es gibt ein aktives Anti-Missbrauchsmanagement.

c) Diversität ist in den sozialen Lebensformen zuzulassen und Homophobien sind zu verhindern. Diversität entsteht durch Wahlmöglichkeiten, Freiheitsgrade, Differenzierung, allerdings auch durch Konkurrenz. I. muss Raum für eine eigenständige, auch freie sexuelle Orientierung bieten, zugl. jedoch vor Missbrauch und Mobbing schützen. Soziales Lernen ist ein wesentlicher Schlüssel für eine gelingende I.

d) Sozio-ökonomische Chancengerechtigkeit ist zu erweitern. Dies bedeutet z. B., dass die sozio-ökonomische Lage nicht den Erziehungs- und Bildungserfolg wie bisher dominieren darf. Um Chancengerechtigkeit zu erweitern, bedarf es erhöhter Ressourcen und v. a. einer solidarischen Einstellung. Chancengerechtigkeit entsteht durch ein Bündel von Maßnahmen wie Bildung heterogener Lerngruppen in einer Schule für alle, Aufgabe der Bildungsselektion vorwiegend nach Kriterien des Bildungsbesitzstandes, aber auch eine bessere Verbindung der Schule mit dem Leben, eine Zunahme von Chancen des selbstregulierten Lernens und fächerübergreifenden Unterrichts in günstigen Lernumgebungen und mit bes.n Fördermaßnahmen und Hilfen bei Benachteiligungen. Hinreichende Förder- und Differenzierungsangebote werden angeboten. Ein Migrationshintergrund ist kein deutlicher Nachteil in der Schullaufbahn; es gibt ein umfassendes Sprachförderungsprogramm.

e) Chancengerechtigkeit von Menschen mit Behinderung ist umfassend herzustellen. Dies bedeutet z. B., dass Behinderungen als Zuschreibungen aus einer angeblichen Normalität heraus gesehen werden und damit als zuschreibende Konstruktionen begriffen werden. Aus der Sicht der WHO bedeutet I., Behinderungen in ihrer Vielfalt zunächst als Hinderungen einer gleichberechtigten Teilnahme zu verstehen und daraus Folgerungen für notwendige Förderungen in Abgleich mit dem ICF abzuleiten. Der Regelschulbesuch als ein Grundmuster von Teilhabe, das nur in begründeten Fällen aufgegeben werden sollte, erscheint weltweit als Vorbedingung einer chancengerechten I. für alle Formen von Benachteiligung und Behinderung.

Die fünf Standards zeigen im Zusammenhang das politische Leitbild eines weiten Verständnisses der I. auf, wie es heute international vertreten wird und sich in vielen Ländern durchgesetzt hat. Es bedarf in Deutschland noch einer umfassenden Anstrengung in Aus- und Fortbildung aller an Erziehungs- und Bildungsprozessen Beteiligten, diese Standards in ihrer Bedeutung für die Umgestaltung des Systems hinreichend deutlich und verständlich zu machen.

3. Inklusion als Chance für mehr Chancengerechtigkeit aller

Von einem Jahrgang sind in der Regel unter 2 % der Lernenden von einer Behinderung nach WHO-Kriterien betroffen. Schwer- und Schwerstbehinderungen im körperlichen oder psychischen Bereichen sind eher selten. Verschiedene Behinderungsarten gibt es in Feldern der Wahrnehmung, beim Hören und Sehen, bei unterschiedlichen Einschränkungen der Teilhabe. Sie resultieren aus Erbkrankheiten oder anderen Krankheiten, teilweise aber auch aus Erziehungszuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Diese sind nicht in einer Häufigkeit vorzufinden, dass ein Regelschulsystem bei repräsentativer Verteilung das gemeinsame Lernen nicht schaffen könnte. Eine strenge Diagnostik und Einzelfallprüfung unter Hinzuziehung ausgebildeter Experten und Expertinnen muss allerdings immer überprüfen, welche Schwierigkeiten in der Teilhabe bestehen und wie diese ggf. nach den Normen des ICF entspr. den Richtlinien der WHO bestimmt werden können. Daraus resultieren dann entspr.e Fördermaßnahmen, die teilweise auch zu bestimmten Assistenzdiensten oder gesonderten Leistungen, z. B. der Betreuung und Pflege, führen. In den Bereichen Lernschwierigkeiten, sozial-emotionale Entwicklung mit abweichendem Verhalten oder Sprache mit Sprachdefiziten werden in Deutschland die meisten Lernenden mit einer „Behinderung“ eingestuft. Nach internationalen Standards sind solche Schwierigkeiten im Lernen und in der Schule zwar keineswegs einfach aufzulösen, aber sie sind grundsätzlich auch keine Behinderungen nach den WHO-Kriterien. Gleichwohl gibt es sonderpädagogische Verfahren, die solche Schwierigkeiten nach recht eigenwilligen Standards als sonderpädagogischen Förderbedarf feststellen. Hier muss in Zukunft genau zwischen einem Förderbedarf, den sehr viele Lernende in je unterschiedlicher Weise und oft auch nur in bestimmten Phasen ihrer Bildungsbiografie haben, und Behinderungen unterschieden werden, die grundsätzlich anders gelagert sind. Ein Problem für das deutsche System ist es dabei, dass bisher in sonderpädagogischen Einrichtungen viele der Kinder und Jugendlichen abgeschoben wurden, die mit höherem Aufwand und entspr.en Ressourcen an Mitteln und Personal in der Regelschule eigentlich besser aufgehoben wären, wenn nach internationalen Standards verfahren werden würde. Die Umstellung des derzeitigen Systems steht vor einer paradoxen Herausforderung: Einerseits haben die Sonderschulen oft Schutzräume für die Kinder und Jugendlichen errichtet, die ihnen die Schulzeit ohne den Druck des öffentlichen Schulsystems erleichtern und durch eine gute Betreuungsrelation die Arbeit relativ angenehm gestalten lassen. Andererseits zeigen die fehlenden Schulabschlüsse von etwa 70 % dieser Lernenden die Ineffektivität dieses Systems. Andere Länder machen vor, dass es grundsätzlich anders und besser gehen kann: Das Regelschulsystem muss sowohl höhere und gute Schulabschlüsse für möglichst alle Lernenden erzielen, wobei es gleichzeitig zu einem Ort der Förderung und guter Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden umgestaltet werden muss. Je mehr dies gelingt, umso mehr kann eine tatsächliche Chancengerechtigkeit im Schulsystem und eine gelebte I. anwachsen, wie dies etwa in skandinavischen Ländern zu beobachten ist.

4. Inklusion in der Praxis gemeinsamen Lernens

Wenn I. als politisches Leitmotiv in die Schulpraxis überführt wird, dann setzt es grundlegend eine gemeinsame Regelschule für alle über einen längeren gemeinsamen Zeitraum voraus. International üblich sind hierbei 10 gemeinsame Schuljahre. Die dabei vorhandene heterogene Lerngruppe, aus der niemand mehr auf Sonderformate oder in bildungsbiografische Sackgassen abgeschoben werden kann, findet geeignete Lernformate zur gemeinsamen Beschulung aller und zur individuellen Förderung in Binnendifferenzierung. Dabei werden in der Lernforschung die Chancen des gemeinsamen Lernens durchgehend höher als die Risiken eingeschätzt. Im gemeinsamen Lernen sind in der Schulentwicklung und Unterrichtsgestaltung mindestens 10 Bausteine unumgänglich:

a) Die Schule muss auf Lernformate wie Selbstlernzeiten mit Kompetenzprüfungen, Projekte für übergreifendes Lernen, Werkstätten nach Interessen und Neigungen in grundsätzlicher Teamstruktur umstellen.

b) Die Lernenden müssen in tatsächlicher Heterogenität repräsentativ zur Bevölkerung aufgenommen werden und es dürfen keine Ghettoschulen oder Schulen mit grundsätzlich benachteiligter Schülerschaft gebildet werden.

c) Das gemeinsame Lernen muss nachweislich höhere Schulabschlüsse als das bisherige System erzielen und die Durchlässigkeit der Bildung verstärken.

d) Ein gebundener Ganztag für alle ist eine Vorbedingung für das Gelingen der I. Lehrkräfte sind ganztägig anwesend.

e) Es gibt eine Vielfalt von Lernangeboten mit Basis- und erweiternden Qualifikationen.

f) Lernende mit Förderbedarf erfahren eine gezielte Diagnostik und bes. Begleitung, ohne separiert beschult zu werden.

g) Das Beurteilungssystem passt sich an die Bedürfnisse der Differenzierung von Lernleistungen an. Dies gewährt eine höhere Differenzierung in der Beurteilungspraxis, die der Individualisierung des Lernens entspr. (Abschied vom One-size-fits-all-Modell).

h) Die Schularchitektur wird auf den neuen Flächen- und Raumbedarf mit multifunktionellen Räumen nach und nach umgerüstet.

i) Schule öffnet sich stärker als bisher in die Lebenswelt.

j) Konsequente Evaluation, aber auch Beratung und Supervision helfen der Schule, die inkl. Arbeit in ihren Resultaten zu dokumentieren und sich dabei hinreichend professionell zu entwickeln.

IV. Inklusion als Rechtsbegriff

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Als Rechtsbegriff ist I. normativ. Dies ist erst in den letzten Jahren geschehen, insb. im Kontext der UN-BRK. Dabei ist umstritten, ob es sich nur um eine allg.e Ziel- und Programmbestimmung handelt oder ob sich unmittelbar aus I. konkrete Inhalte und Ansprüche ableiten lassen.

1. Internationales Recht

I. erscheint im englischen Text der UN-BRK als allg.er Grundsatz in Art. 3 c (inclusion). In der ebenfalls völkerrechtlich verbindlichen französischen Version ist an gleicher Stelle das Wort intégration zu finden. In der zunächst zwischen den deutschsprachigen Staaten konsensualen Übersetzung von 2008 (in der deutschen Bekanntmachung BGBl. II 2008, II, 1419) wurde diese Stelle mit „Einbeziehung“ übersetzt.

Art. 19 UN-BRK ist in der deutschen Übersetzung von 2008 mit „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“ überschrieben. Die englische Fassung lautet Living independently and being included in the community, die französische Autonomie de vie et inclusion dans la société.

Auf den Grundsatz der I. nimmt die UN-BRK auch in ihren Regelungen zum Recht auf Bildung und zum Recht auf Arbeit Bezug. In Art. 24 Abs. 1 UN-BRK ist im englischen Text ein inclusive education system in Bezug genommen, im französischen Text le système éducatif pourvoie à l’insertion scolaire und in der deutschen Übersetzung von 2008 „ein integratives Bildungssystem“. Insertion lässt sich mit dem im deutschen Behindertenrecht ebenfalls verwendeten „Eingliederung“ übersetzen. In Art. 27 Abs. 1 UN-BRK ist inclusive im englischen Text eine Eigenschaft des labour market, im französischen Text bevorzugen die Vertragsstaaten l’inclusion und im deutschen Text von 2008 ist von einem „integrativen“ Arbeitsmarkt die Rede. Unter Bezug auf die englische Fassung ist die deutsche Übersetzung intensiv kritisiert worden. Die Kritik ist in Österreich aufgegriffen worden. Hier ist eine neue Übersetzung bekanntgemacht worden (BGBl III Nr. 105/2016 vom 15.6.2016), die nun an den genannten Stellen „I.“ und „inklusiv“ setzt.

Der Streit um die Übersetzung zeigt, dass dem Begriff der I. ein relevantes normatives Potenzial zugeschrieben wird, in dem eine Weiterentwicklung von Recht und Politik für Menschen mit Behinderungen „von der Integration zur Inklusion“ beschrieben wird. Fraglich ist allerdings, ob sich ein solcher Bedeutungsgehalt im Rahmen der juristischen Methodenlehre mit der Betrachtung von Wortlaut, Geschichte und Sinn und Zweck sowie im Rahmen des Vergleichs der verbindlichen Sprachfassungen zuverlässig belegen lässt.

Der zugeschriebene progressive Inhalt des Begriffs I. ist, dass die Einbeziehung behinderter Menschen in soziale Systeme und Institutionen ein eigenständiges und grundsätzliches Ziel ist, so dass exklusiv wirkende oder als exklusiv empfundene Sondereinrichtungen und Sonderregelungen unter Rechtfertigungsdruck stehen. I. bedeutet, so die oft verwendete Zusammenfassung, dass sich die Institutionen den behinderten Menschen anpassen müssen, während Integration danach bedeuten soll, dass sich die behinderten Menschen den Institutionen anpassen müssen.

Dieses Ziel lässt sich aber oft auch mit den Begriffen Gleichstellung und Teilhabe beschreiben, die jedenfalls im rechtlichen Kontext auch besser anschlussfähig und in ihrer Wirkung präziser sind. Die in der UN-BRK geforderten angemessenen Vorkehrungen (reasonable accommodations) im Einzelfall und die Zugänglichkeit (accessibility), im deutschen Recht meist als Barrierefreiheit bezeichnet, beschreiben, was mit I. von Menschen mit Behinderungen gemeint ist.

Auch kann der Begriff der Integration mit der Bedeutung „Herstellung eines Ganzen“ als komplementär zur I. verstanden werden. Integration mag historisch auch als Herstellung eines Ganzen durch Anpassung von Minderheiten verstanden worden sein. Unter dem normativen Vorzeichen der Nichtdiskriminierung und der vollen und wirksamen Teilhabe ist I. jedoch der probate Weg zur gesellschaftlichen Integration.

2. Europarecht

Im Europäischen Primärrecht wird der Union die Aufgabe zugeschrieben, soziale Ausgrenzung (social exklusion) allg. (Art. 3 Abs. 3 S. 4 EUV) und auf dem Arbeitsmarkt (Art. 153 Abs. 1 j) zu bekämpfen. Hieraus ergibt sich das in der Europapolitik häufig genannte Ziel der sozialen I., etwa in der Zielbeschreibung der Europäischen Fonds (Art. 9 Nr. 9 VO 1303/2013). Hier ist der Begriff allg. und nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ausgerichtet.

Innerhalb des Diskurses über Europarecht kann I. auch spezifisch auf die Einbeziehung von Migrantinnen und Migranten in die jeweilige Rechtsordnung und das Sozialsystem gerichtet sein.

3. Verfassungsrecht

I. ist kein Begriff des GG. Der aus der UN-BRK gewonnene Gehalt des Begriffs kann jedoch zur Auslegung des Benachteiligungsgebots nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und des Sozialstaatsgebots aus Art. 20 Abs. 1 GG herangezogen werden. Auch das EU-Ziel soziale I. kann geeignet sein, das Sozialstaatsgebot mit Inhalt zu füllen.

Als erstes deutsches Land hat Schleswig-Holstein 2015 I. in seine Verfassung aufgenommen. Der Begriff ist nun die Überschrift für Art. 7 Landesverfassung, der lautet: „Das Land setzt sich für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und ihre gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ein.“

4. Einfaches Recht

I. kann grundsätzlich eine Richtschnur zur Reform der gesamten Rechtsordnung im Sinne einer effektiveren Einbeziehung z. B. von behinderten Menschen in die Gesellschaft sein. In diesem Sinne hat Nordrhein-Westfalen das Erste Allgemeine Gesetz zur Stärkung der Sozialen Inklusion in Nordrhein-Westfalen (GVBl. 2016, 442) beschlossen, das ein I.s-Grundsätzegesetz für alle Träger öffentlicher Belange, eine Reform des Behindertengleichstellungsrechts und zahlreiche weitere Rechtsänderungen enthielt. I. kann eine allg.e Richtschnur für das Handeln der Verwaltung aller Ebenen sein.

4.1 Schul- und Bildungsrecht

I. ist mittlerweile insb. ein Begriff und Thema des Schul- und Bildungsrechts und steht dort für die Einbeziehung behinderter Schülerinnen und Schüler in Regelschulen und die Abschaffung oder Einschränkung von Sonder- bzw. Förderschulen. Dies geht zurück auf die Erklärung der Weltkonferenz Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität der UNESCO von 1994. Die deutsche Kultusministerkonferenz hat gemeinsame Ziele der Länder in dem Beschluss „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ vom 20.10.2011 niedergelegt, die in den Schulgesetzen der Länder, meist ohne Benutzung des Begriffs I., umgesetzt werden. Umstritten bleibt im Einzelfall, wie weit ein Recht auf inklusiven Schulbesuch reicht (zuletzt z. B. OVG Niedersachsen v. 5.10.2016, 2 ME 192/16; Bayerischer VGH v. 4.9.2015, 7 CE 15.1791). Jedenfalls wird ein undifferenzierter Ressourcenvorbehalt nicht ausreichen, um den Besuch der Regelschule abzulehnen.

4.2 Sozialrecht

Sozialrecht soll durch Leistungen zur Teilhabe (SGB IX) die Voraussetzungen für I. in vielen Bereichen schaffen oder unterstützen. Inwieweit dies v. a. im Hinblick auf Art. 19 UN-BRK – „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“ – gelingt, ist Gegenstand der Diskussion. Menschen, die auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII – künftig SGB IX – Teil 2 – angewiesen sind, unterliegen einem Mehrkostenvorbehalt, wenn sie nicht in bes.n Wohnformen (Heimen) leben wollen. Ob dies nach der UN-BRK und dem GG zulässig und mit dem Ziel der I. vereinbar ist, ist strittig. Ein Leben in Sondereinrichtungen gegen den Willen der Betroffenen kann aber unter Art. 19 UN-BRK kaum zumutbar sein.