Heimerziehung

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1. Geschichtliche Entwicklung

Die heutige H. als öffentliche Hilfe zur Erziehung ist eine der ältesten pädagogischen Konzepte. Zu Beginn war es nur die christliche Verantwortung der Klöster und kirchlichen Gemeinden für sog.e Findel- und Waisenkinder Obdach und Versorgung zu bieten. Aus Einzelinitiativen entwickelten sich im Mittelalter daraus institutionelle Hilfen. Die sog.en Spitäler im Mittelalter nahmen Waisenkinder, aber auch behinderte und kranke Menschen auf und versorgten sie, allerdings oft unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Erst mit den pädagogischen Klassikern der H., wie z. B. dem Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi, im Schulheim in Stanz, dem Deutschen Johann Hinrich Wichern im Rauhen Haus in Hamburg, dem Russen Anton Makarenko in seiner Gorki-Kolonie, dem Polen Janusz Korczak im Kinderheim Nasz Dom (Haus der Kinder) in Warschau und nach dem Zweiten Weltkrieg der Österreicher Herman Gmeiner mit seinen SOS-Kinderdörfern weltweit verbesserte sich die Situation. Gerade die sehr populäre SOS-Kinderdorfbewegung (auch im Spendenwesen) konnte die H. z. T. aus der ihr zugeschriebenen pädagogischen „Schmuddelecke“ als „Notpädagogik“ für verwahrloste Kinder und Jugendliche mit Zwangscharakter befreien. Im Augenblick müssen die Heime sich erneut gegen eine generelle Diffarmierung wehren, sie seien „Auffangstationen für Randgruppen“ (Bloch 2012: 27), nur weil in den letzten Jahren viele Missbrauchfälle bekannt geworden sind.

2. Zum Begriff

Kaum ein sozialpädagogischer Begriff ist so negativ besetzt wie die H. Das liegt daran, dass in die Begriffsinterpretation negative Vorstellungen einfließen wie sie wären Orte der „ordnungspolitischen Zwangsunterbringung“, „repressiven und entmündigenden Erziehungsform“, „staatlichen Erziehungshilfe für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche“ u. a. In der Fachliteratur fehlt es deshalb nicht an Versuchen, Ersatzbegriffe zur H. populär zu machen, so nennt Michael Winkler sie eine „Erziehung am anderen Ort“ (zit. n. Stahlmann 1994: 16) und der Gesetzgeber beschreibt sie als „Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform für Kinder und Jugendliche“ (§ 34 KJHG).

Realistisch gesehen ist die H. nach wie vor unverzichtbar für Kinder und Jugendliche in erschwerten Lebenslagen, bei denen der Normalfall der familiären Erziehung unmöglich geworden ist, die aber durch die öffentliche Hilfe zur Erziehung trotzdem noch zu einer stabilen Persönlichkeit werden und zur Teilhabe an der Gesellschaft gelangen können.

3. Rechtliche Grundlagen

Sie finden sich im SGB VIII – „Kinder- und Jugendhilfe“ – (zugl. KJHG), dort im vierten Abschnitt, erster Unterabschnitt („Hilfe zur Erziehung“) idF vom 11.9.2012, die am 3.5.2013 geändert wurde. In § 27 wird ausgeführt, dass ein Personensorgeberechtigter solche Hilfe in Anspruch nehmen kann, wenn das Wohl des Kindes oder Jugendlichen durch andere Erziehungsformen nicht gewährleistet werden kann. Das Jugendamt kann dann, nach Prüfung des Falles, Erziehungsberatung (§ 28), Soziale Gruppenarbeit (§ 29), Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer (§ 30), Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31), Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32), Vollzeitpflege, z. B. in einer Pflegefamilie (§ 33), intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35), aber auch H. oder sonstige betreute Wohnformen (§ 34) anordnen.

4. Gründe der Heimeinweisung

Kinder und Jugendliche werden nach § 34 KJHG für die Aufnahme in einem Heim oder in einer anderen betreuten Wohnform vorgeschlagen, wenn sie, aus verschiedensten Gründen, in ihrer Herkunftsfamilie nicht mehr erzogen werden können. Bei der Betrachtung der personenbezogenen Gründe haben Studien (wie bspw. Blandow 1986) zur Heimeinweisung gezeigt, dass Mädchen und Jungen häufig Verhaltensstörungen zeigen, gefolgt von Schul- und Ausbildungsproblemen und/oder Erziehungsproblemen. Mit zunehmendem Alter wurden bei ihnen auch Sexualprobleme, Herumtreiben sowie psychische Störungen festgestellt.

Zu den sozialen Gründen zählen u. a. die Herkünfte der Kinder und Jugendlichen aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten mit Armutsproblemen und hoher Kinderzahl. Ebenfalls sind viele Kinder aus Stieffamilien und elterlichen Trennungs- und Scheidungssituationen überproportional anzutreffen. Auch die Herkunft aus Familien mit Alkohol- und Drogenproblemen hat zugenommen. Bedenklich ist, dass viele Adressaten der H. schon in jungen Jahren Missbrauch und Gewalt als traumatische Erfahrungen erleben mussten. Weiterhin zählt zu den sozialen Gründen die Überforderung der Eltern mit dem erschwerten Erziehungsverhalten ihrer Kinder, weshalb sie öffentliche Erziehungshilfe in Anspruch nehmen müssen.

5. Formen und Alternativen

Seit der Neufassung des KJHG sind zur H. in stationärer Form neue Alternativen hinzugekommen wie die ambulante und teilstationäre Erziehungshilfe. Auch die H. selber hat sich neue Organisationsstrukturen gegeben. Sie ist dezentraler geworden, d. h., sie hat neben der urspr.en Zentraleinrichtung mittlerweile viele Gruppen außerhalb des Heimgeländes eröffnet und kann damit dem Prinzip des Bedarfs bzw. der Individualisierung stärker nachkommen. Mit diesen unterschiedlichen Gruppenangeboten kommt die H. auch der Forderung der Regionalisierung nach. Sie bietet in dem Sozialraum ein Hilfeangebot an, aus dem ihre Adressaten stammen. Auch die frühere Spezialisierung auf die Ursache der Heimeinweisung, z. B. durch ein heilpädagogisches Heim, ist aufgegeben worden zugunsten eines polyvalenten Hilfeangebots. Solche veränderten Heimstrukturen verlangen heute ein differenziert ausgebildetes Personal mit unterschiedlichen Professionalisierungsprofilen. Trotz dieser veränderten Heimstrukturen unterscheidet die praktische Jugendhilfe heute immer noch die Rahmenstrukturen der Heime z. B. nach ihrer Altersstruktur (Kinderheim), Angebotsstruktur (heilpädagogische Heime) oder Bildungsstruktur (Schulheime). Eine klassische Heimeinteilung hat Martin Stahlmann vorgelegt, die in den Grundzügen auch heute noch zur Strukturbeschreibung dienen kann:

Formen der Betreuung in der H.:

a) Tagesheimgruppen innerhalb und außerhalb der Heime;

b) Beobachtungsstationen und Orientierungsgruppen;

c) Notaufnahmefamilien/-gruppen, Krisenwohnungen, Bereitschaftspflegefamilien;

d) Kindernotdienst, Kurzzeitwohnen, Entlastungsdienste;

e) Waisenhäuser, Beobachtungsheime, Erziehungsheime, Kinderdörfer;

f) Therapeutische Heime/Wohngruppen, heilpädagogische Kinderheime oder Pflegenester;

g) Kinderhäuser, Kinderhotel, Jugendpension, Mädchenhäuser, Trebgängerheime;

h) Mutter-Kind-Heime;

i) Außenwohngruppen, Kinderwohngruppen, Jugendwohngemeinschaften;

j) Ambulant betreutes Einzelwohnen, flexible/mobile Betreuung, sozialintegratives Wohnen.

6. Ziele und Aufgaben

Die H. selbst sollte nach dem KJHG konzeptionell so angelegt sein, dass man die betroffenen Kinder und Jugendliche „durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern“ (§ 34 Abs. 1) kann. Ziele sind dabei, ihnen entweder eine Rückkehr in die Familie oder eine Erziehung in einer anderen Familie zu ermöglichen oder sie, beim dauerhaften Verbleib im Heim, auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten durch Begleitung in der Lebensführung, der Schule und der beruflichen Ausbildung (§ 34 Abs. 2).

In Anlehnung an das Jugendamt der Stadt Wuppertal hat die H. folgende Aufgaben:

a) Hilfe in akuten Krisen geben, wenn die Kinder unversorgt sind;

b) einen entlastenden Übergang beim Wechsel zwischen Herkunfts- bzw. Pflegefamilie ins Heim und wieder zurück zu gestalten;

c) ein kontrolliertes Lernfeld im therapeutischen Milieu im Rahmen einer von ihnen gesuchten peer-group-Erfahrung anzubieten;

d) junge Menschen vor überfordernden familiären Ansprüchen zu schützen;

e) aber auch Entlastung für Institutionen zu geben, wenn sie mit bestimmten jungen Menschen pädagogisch nicht mehr zurechtkommen.

7. Resümee

Die heutige H. hat sich, nach vielen Reformansätzen nach dem Zweiten Weltkrieg, allmählich gelöst von einer Phase der Überbetonung der Aufgabe des Überdiagnostizierens und der Therapeutisierung und wieder zurück gefunden zu den pädagogischen Ansätzen ihrer heimpädagogischen Klassiker. So besteht die berufliche Kompetenz heutiger Heimerzieher nicht mehr alleine durch eine diagnostische oder therapeutische Ausrichtung, sondern sie müssen die Fähigkeit besitzen, sich in die Lebenssituation eines Kindes empathisch einzufühlen, um ihr Lebensschicksal verstehen zu lernen. Diese Kompetenz ist der Ausgangspunkt praktischer H., welcher darin besteht, die Kinder und Jugendliche auf dem Weg ins Lebens so zu begleiten, dass diese es zunehmend selber in die Hand nehmen können.