Heimat

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In seiner Komplementarität und Entgegensetzung zum Begriff der Fremde beschreibt der höchst problematische Begriff H. in jeweils unterschiedlicher Weise die Konstitutionsbedingungen von Gruppenidentitäten, die sich zumeist auf einen gemeinsam geteilten Erfahrungs- und Erlebnisraum, eine gemeinsam geteilte Vergangenheit oder Schicksalsgemeinschaft beziehen. Die erinnerte Erfahrungswelt insb. der Kindheit konzentriert sich im Bild einer raumbezogenen, ortsbestimmten Nähe und Vertrautheit mit Dingen und Personen, die Geborgenheit, Sicherheit und Verlässlichkeit gewährleisten. Die enge Bindung des Begriffs an Haus und Hof, an Eigentum und Besitz und dem damit verbundenen „H.-Recht“, verweisen auf Vorstellungen, die mit der Abgrenzung des Eigenen vom Fremden, mit Kriterien der Inklusion durch Exklusion verbunden sind. Mit der zunehmenden Einebnung regionaler Besonderheiten erweitert sich der gefühlsmäßig aufgeladene engere Begriff der H. zum umfassenden politischen Bekenntnisbegriff des Vaterlandes. Die Entstehung der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, Verstädterung und Mobilität und die damit einhergehende Zurückdrängung ländlicher Lebens- und Kommunikationsverhältnisse, schließlich die Auflösung der Verbindlichkeit von Traditionen (als Prinzipien der „stabilen Nachahmung“) haben dem gegenwärtigen Bedürfnis, sich mit den heimatlichen Natur- und Lebenszusammenhängen zu verbinden und Rückzugsorte eines idealisierten, idyllischen, einfachen Lebens zu konstruieren, einen mächtigen Auftrieb verschafft (Heim und Garten, Tourismus und die Entdeckung des eigenen Körpers als Gegenstand der Selbstoptimierung). H. wird zunehmend zu einem Kompensations- und Kritikbegriff des „fortschreitenden“ Modernisierungsprozesses (Modernisierung), zu einem Sehnsuchtsbegriff gegen die Heimatlosigkeit des Menschen und heute v. a. mit ländlichem Leben in traditionellen Formen gleichgesetzt (Bauerngarten, Landlust, Direktvermarktung, Bioladen). Als Gegenstand der Volkskunde und der Siedlungsforschung ist der Begriff daher denkbar ungeeignet, weil er auf Tatsachen des Bewusstseins, nicht aber auf Gegebenheiten mit verpflichtendem Charakter verweist. Bei allen Unterschieden einer eher anthropologischen, soziologischen oder historischen Perspektive sind Gemeinsamkeiten im Bedürfnis nach Vereinfachung (Komplexitätsverweigerung), Simplizität (Kapitalismuskritik) und Selbstbezüglichkeit (Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit) erkennbar. Globalisierung und Lokalismus sind – zumindest für die Bewohner der wohlhabenderen westlichen Gesellschaften – zwei Seiten der gleichen Medaille. In wachsendem Maß wird allerdings sichtbar, dass ein solchermaßen „luxurierender“ H.-Begriff angesichts von massenhafter Flucht und Vertreibung, Elend und Armut zu höchst problematischen Strategien der Selbstbezüglichkeit führen kann.

Heimisch und fremd sind keine festen Gegensätze. Das Gefühl der Fremdheit entsteht auch und gerade unter Bedingungen der Enge und Begrenztheit. Die Furcht vor der Unübersichtlichkeit moderner Lebensverhältnisse, die Angst vor dem eigenen Identitätsverlust lässt uns enger aneinander rücken, der Wunsch, unabhängig und frei das eigene Leben gestalten zu wollen, treibt uns wieder auseinander. In gewisser Weise ist der Vorgang des Erwachsen-Werdens, sind Selbständigkeit und Eigenverantwortung das Ergebnis eines Prozesses des Fremdwerdens in der beschützenden Hülle primärer Gemeinschaften (Familie, Dorf, Nachbarschaft). Im Begriff der H. verbindet sich daher eine subjektive Bezogenheit mit objektiven Gegebenheiten. H. ist eine Milieubeziehung spezifischer Art, ein Erlebnis das die materielle Basis des Milieus in den Bereich des Mentalen steigert.

Orte und Menschen, Erinnerungen und die eigene Sprache, aus diesen Elementen ergibt sich die Begrenztheit einer Welt, in der Erfahrung erst möglich wird, weil die ganze Welt eben nicht erfahrbar ist. Primärerfahrungen sind auf den Nahbereich ausgerichtet, daher kann nicht alles, was der Fall ist, sondern nur das, was wir – als Ergebnis eines Selektions- und Wertungsvorganges – für kulturbedeutsam halten, zum Thema werden. In dem Maße, in dem sich die Erfahrungen aus „zweiter Hand“ vermehren, wächst das Bedürfnis nach institutionalisierten Kriterien der Beurteilungsfähigkeit, also der Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können. Die Leistung des Begriffes H. bemisst und bewährt sich deshalb in seiner Konkretion. Problematisch wird er als bloße emotionale Begriffshülse, die von innen her zu unterschiedlichen politischen Zwecken mit Inhalten aufgeladen werden kann. Dazu trägt nicht zuletzt die zu beobachtende Ausweitung des H.-Raumes über den Bereich der erfahrbaren Welt hinaus bei. Denn längst liegt alles Exotische nicht mehr jenseits eines festen Horizontes: es verbinden sich die urspr. entgegengesetzten Tendenzen in einer Art Binnenexotik.

Die radikale Gegenwartsbezogenheit moderner Gesellschaften, ihre prinzipielle Traditionslosigkeit und ihr auf die Zukunft bezogener Desillusionsrealismus erschweren nicht nur die Verpflichtung auf die eigene Geschichte, sie veröden auch den Glauben an eine „ewige H.“, der wir als Christen zuwandern. „Himmlische Genüsse“ erwarten wir im Selbstgenuss einer optimierten Körperlichkeit, in Urlaubsträumen und Wohlstandserwartungen. H. finden kann man hier nur auf Zeit, ein endgültiges Ankommen ist ausgeschlossen.

Wenn H. das ist, wovon man ausgeht, ist sie vielleicht eine Gegend, bald schon nur noch ein Kirschgarten oder ein Olivenhain, der Blick auf Industrieruinen, die Gerüche oder Geräusche, die sich mit dieser Landschaft verbinden: der Duft von frisch gemähtem Heu oder das morgendliche Tuten der Schiffe auf dem Fluss. H., so verstanden, ist etwas, das zerstört werden kann, weil es mit Anderen nicht geteilt werden kann. Je subjektiver in ihm die „Tatsachen“ des eigenen Bewusstseins beschrieben werden, desto abstrakter werden die Kriterien, die eine Verständigung über das erlauben, was an der eigenen H. wesentlich zu sein scheint. Zuletzt ist H. womöglich wirklich nur das, wovon man ausgeht, das, womit sich beginnen, aber nicht enden lässt.

Immer noch zehren H.-Museen, Volksliedbeauftragte, Brauchtumspfleger und das Regionalmarketing der Tourismusindustrie von der Sehnsucht nach Geborgenheit, den Erfahrungen der Kindheit, vom Wunsch nach dem Echten, Natürlichen, Wahren und Schönen. Ob dieses Bedürfnis durch Winzerfeste in Bremen oder eine bayerische Bierzeltatmosphäre beim Festival der Volksmusik in Sachsen-Anhalt befriedigt werden kann, mag man bezweifeln. Unbestreitbar ist, dass auch und gerade der „moderne“ Mensch dem beschleunigten sozialen Wandel entflieht, dass er einer immer komplizierter und komplexer werdenden Welt mit einfachen Antworten begegnen möchte. Strategien der Komplexitätsreduktion und Kontingenzvermeidung lassen sich in einer digitalisierten und mediatisierten Welt nicht auf Experten reduzieren. Längst ist der Laie zum Experten seiner selbst geworden. In den neuen sozialen Medien (Social Media), ob auf Facebook oder Twitter konstruiert er den eigenen Zugang zur Welt, verengt er gemeinsam mit Anderen die unübersehbare Vielfalt von Themen und Sichtweisen auf die für die followers relevanten Problembeschreibungen und Lösungsansätze. So entstehen mediale Dörfer, deren Bewohner sich in einer auch in emotionaler Hinsicht befriedigenden Filterblase einrichten, die für sie zur momentan signifikanten H. wird, weil sie eine Homogenität erzeugt, die eine berechtigt erscheinende Einschränkung der Weltsicht erlaubt. Selektion und Abkapselung erlauben die Schaffung einer Parallelwelt, in der die Zumutungen der Politik und der Ökonomie sowie das beängstigende Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit zumindest auf Zeit aufgehoben werden können.

Der Assoziationsraum H. hat sich virtualisiert. Seine kompensatorischen Leistungen erstrecken sich von den Wellness- und Reiseangeboten der Tourismusbranche bis hin zu den gruppenspezifisch konstruierten Weltanschauungsgemeinschaften auf Zeit in Chatrooms und Blogosphären. Als Subjektobjektivität geht es im Begriff der H. um das Bedürfnis nach Grenzziehungen und die Kompensation von Entfremdungserfahrungen. Nicht zuletzt deshalb bietet die Rhetorik eines heimatlosen Antikapitalismus einen geeigneten Nährboden für den Rechts- (und Links-) Populismus.

Das anthropologische Bedürfnis nach „Beheimatung“ angesichts einer immer fremder werdenden Welt ist von der romantischen Sehnsucht nach H. und den surrogathaften Angeboten, die zu ihrer Befriedigung immer wieder neue Konsumofferten erzeugen, zu unterscheiden. H. ist daher ebenso ein Thema der Kulturkritik wie auch der ernst zu nehmende Versuch, die Grenzen und Möglichkeiten moderner Identitätskonstruktionen auszuloten. In diesem Sinn ist H. der gedankliche Fluchtpunkt einer unfertigen Welt. Ob die konstitutive Unfertigkeit der Welt auf etwas plausibel zu verweisen vermag, was jenseits ihrer rein irdischen Versprechen liegt, ist eine offene Frage.