Heimarbeit

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1. Formen der Heimarbeit

H. klingt zunächst einmal wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, erlangt aber sowohl durch die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen als auch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt eine neue Aktualität. Heutzutage sind drei Formen der Erwerbsarbeit zu unterscheiden, die in verschiedener Weise mit H. in Verbindung stehen.

Zu nennen sind erstens klassische Formen der H., die auf selbständiger oder unselbständiger Basis beruhen können. Zweitens kann H. mit herkömmlicher Beschäftigung verbunden sein, wenn Arbeit ganz oder teilweise von zu Hause (sog.e Telearbeit) erledigt wird. Realisiert wird dies zumeist durch internetfähige Computer. Drittens besteht ein Zusammenhang zwischen neuen Erwerbsformen wie dem sog.en Crowdworking und der H.s-Thematik. Mobile Endgeräte ermöglichen es Auftragnehmern, Arbeiten an jedem Ort, u. a. von zu Hause, zu verrichten. Vermittelt werden die Aufträge durch kommerzielle, digitale Arbeitsplattformen, die als virtueller Marktplatz fungieren.

2. Klassische Heimarbeit

Das HAG von 1951 unterscheidet zwischen Heimarbeitern und Hausgewerbetreibenden. Heimarbeiter sind Beschäftigte, die i. d. R. von zu Hause für einen gewerblichen Auftraggeber tätig werden und ihre Produkte nicht selbst verkaufen müssen. Davon zu unterscheiden sind selbständige Hausgewerbetreibende, die nicht mehr als zwei fremde Hilfskräfte in der eigenen Wohnung beschäftigen dürfen. Die klassische H. ist ein bes. gewerbliches Betriebssystem, deren Ursprünge bis in das 19. Jh. zurückreichen. Aufgrund sozialer Missstände versuchte man Heimarbeiter schon früh durch bes. Vorschriften zu schützen. Erstmals traten 1912 Vorschriften über den Gesundheitsschutz, sowie den Betriebs- und Gefahrenschutz in Kraft. Das vom Bundestag 1951 beschlossene HAG ging noch weiter. Es regelt sowohl die in der H. üblichen Stückentgelte und Sonderzahlungen als auch Lohnuntergrenzen bei Stundenvergütungen. Zudem sorgt es für eine soziale Absicherung der Heimarbeiter, die bei Krankheit, Kurzarbeit, Kündigung oder Insolvenz zur Geltung kommt. Firmen, die sich nicht an Regelungen des HAG halten, kann die Ausgabe von H. entzogen werden. In Westdeutschland stieg bis Ende der 1960er Jahre die Zahl der Heimarbeiter kontinuierlich. Sie erreichte 1970 mit 222 000 ihren Höchststand. Zum weit überwiegenden Teil waren damals Frauen in der H. tätig. Die meisten Heimarbeiter waren der Textilbranche und der Elektrotechnik zuzurechnen. Das Spektrum reichte von qualifizierten Tätigkeiten bis hin zu Helfertätigkeiten, die oft von Personen mit geringer Qualifikation oder eingeschränkter Erwerbsfähigkeit verrichtet wurden. Für die Betriebe bot die H. eine Möglichkeit, ihre Belegschaften flexibel an den Auftragsbestand anzupassen. Letztmalig erfasste die damalige Bundesanstalt für Arbeit den Umfang der klassischen H. in 1980. Seinerzeit gab es noch 148 000 Heimarbeiter. Durch den wachsenden internationalen Wettbewerb und die starke Automatisierung der Produktion dürfte diese Beschäftigungsform heute nahezu bedeutungslos sein.

3. Telearbeit

Die Besonderheit von Telearbeit besteht darin, dass Beschäftigte regelmäßig mit Hilfe elektronischer Dienste ihre Arbeit in den eigenen vier Wänden verrichten. Insb. durch das Internet ist Arbeit immer weniger orts- und zeitgebunden. Telearbeit kann ausschließlich in der eigenen Wohnung („Home Office“) oder auch teils zu Hause und teils im Unternehmen erbracht werden („alternierende Telearbeit“). Man schätzt, dass es 2014 hierzulande rund 4,5–5 Mio. Arbeitskräfte (gut 10 % der Beschäftigten) gab, die ganz oder teilweise von zu Hause arbeiten. Räumlich und zeitlich flexibles Arbeiten zeigt sich sowohl in Berufen mit hoher Qualifikation, starkem Zeitdruck und Autonomie als auch bei Frauen mit Kindern. Jüngere Befragungsergebnisse legen nahe, dass Telearbeit zuletzt nicht mehr gestiegen ist. Gleichzeitig sind aber offenbar die Potentiale des Arbeitens von zu Hause noch nicht ausgeschöpft. Zahlen des SOEP belegen für das Jahr 2014, dass ein Drittel der Arbeitnehmer gerne von zu Hause arbeiten würde und aus Sicht eines guten Zehntels der abhängig Beschäftigten (ohne Telearbeit) eine dauernde betriebliche Präsenz gar nicht erforderlich wäre. In anderen Ländern ist die Tele-H. weiter verbreitet und stärker erwünscht. So trat in den Niederlanden in 2015 ein Gesetz in Kraft, das einen Rechtsanspruch von Arbeitnehmern gegenüber dem Arbeitgeber auf einen Arbeitsplatz zu Hause enthält. Bei der Güterabwägung, ob Arbeit stärker von zu Hause erbracht werden kann, sind Interessen von Arbeitgebern und Beschäftigten zu berücksichtigen. Für mehr Telearbeit sprechen eine Stärkung der Work-Life-Balance, geringere Wegezeiten und -kosten, niedrigere Büromieten, eine höhere Autonomie und bessere Möglichkeiten der Beschäftigten zur Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. Dem kann entgegengehalten werden, dass der Betrieb als soziales Gefüge dadurch in Frage steht, nicht anwesende Mitarbeiter bei Beförderungen Gefahr laufen leer auszugehen und der Arbeitseinsatz weniger leicht überprüft werden kann.

4. Crowdworking

Durch sog.e Online-Plattformen wird Crowdworking ermöglicht, das von zu Hause, aber auch von anderswo erbracht werden kann. Online-Plattformen dienen als Intermediär zwischen Angebot und Nachfrage. Sie tragen weder das unternehmerische, rechtliche und soziale Risiko der vermittelten Leistungserbringung noch die Kosten für Arbeitskraft und Produktionsmittel. Beides wird den Anbietern und Nachfragern auf der Plattform zugewiesen. Ökonomisch ist dies von Interesse, weil Plattformen wachsen können, ohne dass deren Betriebskosten proportional steigen. Bisherige Erkenntnisse legen nahe, dass Crowdworker hierzulande quantitativ noch keine große Rolle spielen und noch zumeist nebenberuflich agieren. Dennoch könnten selbständige Tätigkeiten in Form eines neuen Typs von „Freelancern“ zunehmen, sei es, weil Auftragnehmer die damit verbundene Autonomie schätzen oder sei es, weil der Zugang zur abhängigen Beschäftigung schwerer wird. Zurzeit ist offen, wie stark die Inanspruchnahme zukünftig sein wird, ob es sich dabei eher um Haupt- oder Nebenerwerbstätigkeiten und ob es sich meistens um Episoden oder aber Karrieren in der Plattformökonomie handeln wird.

5. Zukunft der Heimarbeit

Grundsätzlich kommen nicht alle Tätigkeiten für eine Tele-H. in Frage. Bei starkem Kundenkontakt oder auch in betriebsinternen Servicebereichen ist dies weniger vorstellbar als in klassischen Bürotätigkeiten oder Projektaufgaben. Die zunehmende Digitalisierung lässt diese Grenzen aber mehr verschwimmen, weil mehr Arbeit außerhalb der Betriebsstätte des Arbeitgebers verrichtet werden kann und selbst Service noch leichter aus der Ferne angeboten werden kann. Dennoch stellen sich gesellschaftspolitische Fragen, weil zwischenmenschliche Kontakte durch eine stärkere Vereinzelung über Gebühr leiden könnten. Diesem Risiko stehen aber auch Chancen gegenüber. Zu nennen sind die verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geringere Bürokosten und mehr Möglichkeiten zeitlich und räumlichen autonomen Arbeitens. Mehr Tele-H. bietet zudem das Potential, Fachkräfteengpässen entgegen zu wirken, weil sie eine interessante Alternative zu individuellen Arbeitszeitverkürzungen bietet. Durch Online-Plattformen können schließlich neue Formen der Selbständigkeit entstehen. Starke Beschränkungen sind keine Option, weil sie die wirtschaftliche Dynamik in innovativen Bereichen beeinträchtigen und den Zugang in eine Erwerbstätigkeit begrenzen. Vielmehr stellt sich in der neuen Arbeitswelt die Frage nach weitergehenden Formen der sozialen Sicherung von Selbständigen, etwa nach dem Vorbild von Sozialkassen, die bereits für freie Berufe existieren oder noch weitergehender durch eine obligatorische Rentenversicherung für alle Erwerbstätigen.