Güterabwägung

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Für die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen bietet sich ihre vergleichende Beurteilung an. Sie wird als Abwägung charakterisiert, bei der jeweils Vor- und Nachteile betrachtet, Chancen und Risiken gewichtet werden. Der Ausdruck Güter wird in einem sehr weiten Sinne verstanden, er kann sittliche Güter und außermoralische Güter, Rechtsgüter, Grundgüter und Bedarfsgüter, soziale Güter, individuelle Rechte, die Entwicklung von Fähigkeiten und die Befriedigung von Bedürfnissen, sowie die Erfüllung von Pflichten umfassen. Der vergleichenden Betrachtung werden also alle Zielgrößen des menschlichen Handelns (Handeln, Handlung) unterworfen, also alles, was durch Handlungen angestrebt oder durch sie verwirklicht wird. Die vergleichende Betrachtung führt zum Vorzug der Handlungsalternative, für die die stärksten Gründe sprechen und für die das Verhältnis von absehbarem Gut und absehbarem Übel möglichst positiv ist. Wegen des weiten Verständnisses von Gütern kennen nicht nur Theorien der rationalen Wahl (rational choice), sondern auch konsequentialistische und eudäimonistische Ethiken und schließlich auch deontologische Ethiken das Erfordernis von G.en. Unterschiedlich eingeschätzt wird hingegen, ob es bei der vergleichenden Bewertung zu Ergebnissen kommen kann, in denen mehrere Handlungsoptionen hinsichtlich des Verhältnisses von gut und übel gleich zu gewichten sind und somit eine Dilemma-Situation vorliegt. Deontologische Ethiken erkennen zumeist die Möglichkeit der Kollision von Pflichten an, gehen aber häufig davon aus, dass stets eine Hierarchisierung möglich ist, so dass moralische Dilemmata nicht entstehen oder nur subjektiv empfunden werden.

Der Rede von G.en im praktischen Handeln, im Recht und in der praktischen Philosophie liegt die Einsicht zugrunde, dass menschliches Handeln unter komplexen Bedingungen steht und dass diese Bedingungen für die Beurteilung der Vorzugswürdigkeit einer Handlungsoption auch unter normativen und moralischen Gesichtspunkten berücksichtigt werden müssen. Was zu tun ist, erweist sich nicht intuitiv, es liegt nicht auf der Hand, sondern es kommt darauf an, dass Situationen richtig wahrgenommen, die relevanten Prinzipien korrekt erkannt und die Umstände umfassend berücksichtigt werden. Stärker noch als bei der Einordnung von Werten im Bilde der vertikalen Differenzierung (ranghöher-rangniedriger) oder der Unterscheidung von Pflichten nach Graden der Vollkommenheit bringt das Bild von den Waagschalen, in die Güter gelegt werden, das Gewicht auch des geringerwertigen Gutes anschaulich zum Ausdruck.

Bereits die Einstellung eines rationalen Egoismus sieht sich mit Handlungsentscheidungen und der Auswahl von handlungsleitenden Regeln konfrontiert, die eine Abwägung erforderlich machen. Dabei müssen Güter unterschiedlicher Art, wie auch kurz- und langfristige Interessen gewichtet werden. Das Bild des Wägens hält fest, dass auch für die nichtvorzuziehende Option Gründe sprechen, dass also in beide Waagschalen etwas gelegt wird. Der Utilitarismus als bedeutendstes Beispiel einer folgenorientierten, konsequentialistischen Ethik, der für die Entscheidung nicht das eigene Wohl, sondern das Wohl aller von der Handlung Betroffenen zum Richtmaß nimmt, muss die erwartbaren Folgen der Handlungsalternativen vergleichend sichten. Zu den Betroffenen können auch zukünftige Generationen und auch empfindungsfähige Tiere gezählt werden. Für die Gewichtung von Wohl und Übel müssen Kriterien herangezogen werden, so etwa bei Jeremy Bentham die Intensität, die Dauer, die Gewissheit, die Nähe, die Folgenträchtigkeit, die Reinheit und das Ausmaß bzw. die Anzahl der betroffenen Personen. Es können aber auch, so bei John Stuart Mill und durchaus Vorschlägen der antiken Ethik verwandt, Freuden des Geistes den Freuden des Körpers vorgeordnet, also in stärkerer Weise gewichtet werden. Obschon der Utilitarismus eine Ein-Wert-Axiologie zugrunde legt, ganz gleich, ob er diesen Wert Glück, Nutzen, Wohlstand, Wohlergehen oder Lust nennt, wird für die Berechnung dieses Wertes die Gewichtung von vielen außermoralischen Gütern notwendig, in deren Verwirklichung eben dieser eine Wert besteht. Nicht berücksichtigt werden hingegen die Bedeutung der Absichten des Handelnden und das Verhältnis der Handlungen zum personalen Selbstverständnis der Handelnden.

Auch in der Aristotelischen Ethik und in der Ethik des Thomas von Aquin spielen praktische Überlegungen in Form von G.en eine wichtige Rolle. Aristoteles und Thomas betonen, dass für die Beurteilung der Handlung verschiedene Aspekte eine Rolle spielen – absehbare Folgen sind nur ein Aspekt unter mehreren – und sprechen daher von einer praktischen Deliberation. Beide weisen verschiedene Vermögen aus, die an dieser Deliberation beteiligt sind. Bei den Folgen wird zwischen Handlungsziel, natürlichen Wirkungen als vorhersehbaren Nebenfolgen und nicht vorhersehbaren Nebenfolgen unterschieden. Zusätzlich zu der Absicht als Aspekt der Handlung, der dieser Differenzierung der Folgen zugrunde liegt, müssen die Umstände (circumstantia) berücksichtigt werden.

Im Rahmen dieser aristotelischen Handlungsbeurteilung sind drei Konzepte einschlägig. Die Lehre vom kleineren Übel, jene von der Doppelwirkung und schließlich die Forderung nach einem billigen Urteil (aequitas, Epikie). Die erste besagt, dass von unvermeidlichen Übeln das geringere vorzuziehen ist. Die Lehre von der Doppelwirkung betrifft vorhersehbare schlechte Folgen, die aber als nicht direkt intendiert gelten. Die Epikie (Billigkeit) schließlich ist ein ergänzender Teil der Tugend der Gerechtigkeit, durch die problematische Anwendungen der Gesetzesgerechtigkeit kompensiert werden. Die Lehre vom Vorzug des geringeren Übels geht bereits auf die NE des Aristoteles zurück. Die Rede oder das Prinzip der Doppelwirkung kann bei Thomas gefunden werden und setzt den Vorzug des geringeren Übels voraus. Danach nämlich kann ein Übel, das unabdingbar zur Erreichung eines bestimmten Ziels ist, dann in Kauf genommen werden, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Die schlechte Nebenwirkung darf nicht um ihrer selbst willen angestrebt werden. Zudem ist diese Nebenwirkung in ihren Folgen von geringerem Übel als die Folgen, die durch Unterlassung der Handlung und die Verfehlung des primär intendierten Zweckes entstehen würden. Thomas meint dabei ausdrücklich auch ein moralisches Übel und seine Rechtfertigung. Entspr. des Bildes vom Wägen muss also auch bedacht werden, dass das bewusst in Kauf genommene Übel für das Gewissen (Gewissen, Gewissensfreiheit) des Einzelnen trotz der ethischen Rechtfertigung mit einer Last verbunden bleibt. Die Lehre von der Epikie schließlich kann das Billige als höhere Form des Gerechten qualifizieren, bleibt aber dennoch ein Resultat einer Abwägung, insofern eine Einschränkung eines prinzipiell gerechten Gesetzes problematisch und riskant bleibt.

Darüber hinaus wird man auch das in zeitgenössischen Moraldiskussionen begegnende Konzept des zu vermeidenden moralischen Dammbruchs als wichtige Anwendung der Lehre vom kleineren Übel damit als Modus der G. auffassen müssen. Argumente, die auf die Gefahr eines Dammbruchs hinweisen, unterstellen, dass die Akzeptanz einer bestimmten Handlung oder Handlungsklasse zur Akzeptanz verwandter Handlungen oder Handlungsklassen führt bzw. führen kann. Da diese Folge als moralisch problematisch gilt, wird auch die auslösende Handlung als problematisch angesehen. Ein gültiges Argument entsteht, wenn der Nachweis gelingt, dass das Zulassen einer bestimmten Handlungsklasse tatsächlich die Duldung der unerwünschten Handlungsklasse wahrscheinlich macht, dass diese Folge nicht durch vertretbare institutionelle Rahmenvorgaben zu verhindern ist und dass der Schaden der einen Handlungsklasse den Nutzen der an sich akzeptierten Handlung überwiegt. Wenn also all dies zutrifft, dann kann zur Vermeidung des moralischen Dammbruchs auch die an sich akzeptable Handlungsweise moralisch diskreditiert werden.

Ethiken des deontologischen Typs, zumal wenn sie aus einer Kritik klassischer teleologischer Ethiken entstanden sind, kommen weitgehend ohne die Metapher der G. aus. Zudem ist in ihnen teilweise der Pflichtbegriff so konzipiert, dass nicht prima facie-Pflichten gemeint sind, sondern nur sittlich bindende Pflichten. Pflichten ergeben sich also erst als Resultat eines Rangvergleichs normativer Gesichtspunkte. In diesem Sinne scheint es in der kantischen Ethik keine Pflichtenkollision, kein moralisches Dilemma und entspr. auch kein Erfordernis der Abwägung zwischen Pflichten oder Gütern zu geben. Dies aber ist eben das Resultat eines Rangvergleichs normativer Forderungen, der sich durchaus in der Metaphorik des Abwägens darstellen ließe.

In diesem Sinne lassen sich deontologische Ethiken über weite Strecken als Begründungsansätze lesen, die Regeln für die G. generieren. In dieser Perspektive ist das Instrumentalisierungsverbot, welches sich aus der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs ergibt („Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ [Kant 1968: 429]), der Hinweis darauf, dass Personen nicht der Abwägung gegen andere Güter ausgesetzt sein dürfen.

In John Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness, die J. Rawls in der Tradition des kantischen Ethikansatzes gedeutet wissen will, sind die Gerechtigkeitsprinzipien und ihre Rangordnung jeweils Hinweise für das Prozedere einer Gewichtung von normativen Forderungen, ebenso wie die Differenzierung zwischen verschiedenen Gütern (Grundgüter, öffentliche Güter) Kriterien für ihre Abwägung beinhalten.

Der eigentliche Ort von G.en ist aber nicht die Begründung von praktischen Prinzipien, sondern das durch rationale Überlegungen geprägte praktische Handeln selbst und damit die Anwendung von Prinzipien und Vorzugsregeln auf konkrete Entscheidungen. Deshalb spielt die G. in der konkreten bzw. speziellen Ethik eine wichtige Rolle. Diese wird in sog.e Bereichsethiken eingeteilt, welche zusammen auch als angewandte Ethik bezeichnet werden. Paradigmatisch für die Entwicklung war die Bioethik oder biomedizinische Ethik. In dem prominenten Lehrbuch von Tom Beauchamp und James Childress, das für die biomedizinische Ethik die nichthierarchisierten Prinzipien Selbstbestimmung (autonomy), Wohltägigkeit (beneficence), Nichtschaden (non-maleficence) und Gerechtigkeit (justice) auflistet, ist neben der Spezifikation (specification) der Prinzipien das Erfordernis des Abwägens (balancing) zentral, da nur so alle relevanten Prinzipien in einer Entscheidungssituation zum Tragen kommen können.

Die Bedeutung von Abwägungen lässt sich auch in den Voten und Darstellungen des Nationalen und des Deutschen Ethikrates zeigen, etwa bzgl. der Entscheidungen am Lebensende, bei den Problemen der anonymen Kindesabgabe, der Intersexualität oder der Präimplantationsdiagnostik. Für die Rechtfertigung von Tierversuchen in der medizinischen Forschung ist international das sog.e 3R-Prinzip einschlägig. Das nationale Recht der Mitgliedstaaten der EU soll darauf ausgerichtet sein, die Verwendung von Tieren zu Forschungszwecken zu vermeiden (replacement), zu verringern (reduction) und zu verbessern (refinement). Hintergrund dieser Forderung ist eine Abwägung gegenüber den Erkenntnisinteressen der Grundlagenforschung und dem von der medizinischen Forschung erhofften Nutzen gegenüber dem Schutz der Versuchstiere.