Gruppe der führenden Industrienationen (G7/G8)

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Die G. d. f. I., heute auch Gruppe der Sieben oder G7 (in Deutschland früher oft als Weltwirtschaftsgipfel bezeichnet), zwischen 1998 und 2014 offiziell Gruppe der Acht (G8), ist ein seit 1975 bestehender Zusammenschluss von sieben weltwirtschaftlich herausgehobenen Industriestaaten. Mitglieder sind die sieben größten Volkswirtschaften des Westens bzw. der OECD-Staaten: die USA, Japan, die BRD, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada; zwischen 1998 und 2014 gehörte Russland der vorübergehend zur G8 gewordenen G. d. f. I. an. An den G7-Gipfeln nehmen zusätzlich der Kommissions- und der Ratspräsident der EU teil. Die G. d. f. I. ist einerseits ein Club mit festen Mitgliedern, anderseits ein System unterschiedlicher intergouvernementaler Foren und Arbeitsstäbe, die teilweise auch Staaten mit einbeziehen, die nicht zur G7 gehören. Den Kernbestand des G7-Systems bilden zwei Formate: das medial vielbeachtete jährliche Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs sowie die Treffen der Finanzminister und Zentralbankchefs der G7-Staaten.

Während die G. d. f. I. ein etablierter Bestandteil von internationaler Politik und Global Governance ist, verfügt das Format im Gegensatz zu anderen internationalen Institutionen weder über einen konstituierenden Vertrag noch über einen festen Standort. Die G. d. f. I. hat kein ständiges Sekretariat oder eigenes Personal, das die Treffen vorbereitet und die Beschlüsse der G7 umsetzt; diese Tätigkeiten bleiben den Mitgliedern vorbehalten. Die Vor- und Nachbereitung der G7-Treffen wird von den sog.en Sherpas der G7-Regierungen geleitet; in Deutschland wird diese Aufgabe i. d. R. von einem wirtschafts- und finanzpolitisch ausgewiesenen Staatssekretär oder Ministerialdirektor wahrgenommen. Die auf den Gipfeltreffen und bei den Treffen der G7-Finanzminister getroffenen Vereinbarungen sind rechtlich nicht bindend, sondern kommen politischen Selbstverpflichtungen gleich. Aufgrund ihres – insb. relativ zum politischen Gewicht – geringen Formalisierungs- und Bürokratisierungsgrads ist die G. d. f. I. als eine „unorthodoxe“ (Hajnal 2007: 2) internationale Institution, als „Metainstitution“ (Hajnal 2007: 5) sowie als „network of networks“ (Hajnal 2007: 5) klassifiziert worden. Die G7 gehört zu denjenigen Organisationen bzw. internationalen Regimen, welche die übliche politikwissenschaftliche Gegenüberstellung von Staaten einerseits und internationalen Organisationen andererseits relativieren. Ihr level of governance liegt in einem Zwischenbereich von Staat und internationaler Organisation.

Wenngleich die G. d. f. I. ihren informellen Charakter im Grundsatz behalten hat, wurde das G7/G8-System in vier Jahrzehnten sowohl thematisch als auch personell erheblich erweitert und vergrößert. Der urspr.e Hauptzweck der Gipfeltreffen war eine verbesserte Koordination politischer Maßnahmen in Bezug auf die Weltwirtschaft. In den Jahrzehnten ihres Bestehens sind zahlreiche neue Themen dazugekommen. Das erweiterte Aufgabenfeld schließt heute u. a. Umwelt-, Klima- und Gesundheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit und die Umschuldung ärmerer Länder, Terrorismusbekämpfung und Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie allg.e Fragen internationaler Regulierung ein. Die urspr. fast ausschließlich ökonomische Funktion der G7 ist zwischenzeitlich v. a. dadurch relativiert worden, dass sich die weltwirtschaftlichen Verhältnisse stark verändert haben: Die G7-Länder repräsentierten 1975 noch rund 60 % des weltweiten BIP; in der Mitte der 2010er Jahre waren es nur noch rund 47 % des wechselkursbasierten BIP bzw. 33 % des BIP nach Kaufkraftparität. Weltökonomische Koordinationsaufgaben werden – insb. seit der globalen Finanzmarktkrise 2008 – nun stärker von der Gruppe der Zwanzig (G20) wahrgenommen, die maßgebliche Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien einschließt.

1. Ursprünge und Entwicklung

Die Einrichtung der G. d. f. I. war eine Reaktion auf diejenigen Prozesse, die zeitgenössisch als transnationale „Interdependenz“ (Nye/Keohane 1971: 337) bezeichnet und später unter den Begriff der Globalisierung gefasst wurden. Hintergrund der Entstehung der G. d. f. I. war die Krisen- und Umbruchserfahrung westlicher Staaten in den 1970er Jahren, die ein endgültiges Ende der Nachkriegszeit markierten. Zu diesem Einschnitt gehört die Eintrübung des zuvor vorherrschenden Optimismus bzgl. einer anhaltenden Prosperität in den Industrieländern. Zu Beginn der 1970er Jahre nahm das Bewusstsein für die umfassende Bedeutung des Ökonomischen zu: 1971 beendete die US-Regierung das aus ihrer Sicht unhaltbar gewordene Bretton-Woods-System (Bretton Woods) fester Wechselkurse in Anbindung an den US-Dollar, das die internationale Währungsarchitektur der Nachkriegszeit getragen hatte; 1972 stellte der Club of Rome seinen vielbeachteten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vor, der rückblickend als Ausdruck eines Paradigmenwechsels vom technisch-ökonomischen Fortschrittsoptimismus hin zu dosierter Fortschrittsskepsis und wachsendem ökologischen Bewusstsein gilt; im Herbst 1973 zeigte die von den arabischen OPEC-Staaten (OPEC) ausgelöste Ölpreiskrise, dass die wohlhabenden Industriestaaten verwundbar gegenüber externen Schocks waren: 1974 gerieten die OECD-Länder in eine spürbare Rezession. In vielen westlichen Ländern leitete dies die „Stagflation“ der 1970er Jahre ein, bei der stagnierendes Wachstum und steigende Arbeitslosigkeit mit hohen Inflationsraten zusammentrafen.

Zugl. sah es während der Hochphase der Entspannungspolitik der späten 1960er und der 1970er Jahre so aus, als verlöre die militärische Sicherheitspolitik im Vergleich zu den 1950er und frühen 1960er Jahren an Bedeutung. Westliche Regierungen erweiterten ihren Begriff von Sicherheit und Sicherheitspolitik. Diese umfassten nicht mehr nur Allianzen, Militär und Vertragsdiplomatie, sondern zusätzlich Währungs-, Handels- und Energiefragen. Die Milderung des zuvor scharfen Ost-West-Antagonismus (Ost-West-Konflikt) und die wirtschaftliche Stagnation brachten es mit sich, dass die Differenzen innerhalb des westlichen Lagers eher zunahmen. Um die möglichen nachteiligen Folgen zu beheben, brachte der US-Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger in den frühen 1970er Jahren die Idee eines den Umständen der Zeit angepassten „Mächtekonzerts“ vor, in dem eine enge Auswahl westlicher Staats- und Regierungschefs die Weltpolitik koordinieren sollten. H. Kissingers Vorstellungen trafen zunächst auf Skepsis bei den Europäern und bei US-Präsident Richard Nixon; in Frankreich hatte Charles de Gaulle allerdings schon früher die ähnliche Idee eines weltpolitischen „Direktoriums“ (Böhm 2014: 14) vorgetragen.

Die zur Gründung der G. d. f. I. führende Initiative ging schließlich von Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing aus. Im Rahmen der sog.en Library Group oder Gruppe der Fünf hatten sich die Finanzminister der USA, Japans, der BRD, Großbritanniens und Frankreichs seit 1973 mehrfach getroffen. Sowohl H. Schmidt als auch V. Giscard d’Estaing waren zuvor Finanzminister gewesen und hatten den Wert des informellen und vertraulichen Austausches im Rahmen der G5-Finanzministertreffen schätzen gelernt. Beide sahen dringenden westlichen Koordinierungsbedarf in weltökonomischen Fragen und Kompensationsbedarf für die Führungsschwäche der USA. Der erste Gipfel der G. d. f. I. fand am 15.11.1975 im französischen Rambouillet statt; damals noch als Sechsergruppe ohne Kanada, das 1976 beim Gipfel von San Juan erstmals teilnahm. Auch wenn der erste Gipfel einen ad-hoc-Charakter hatte und eine Verstetigung urspr. nicht ausdrücklich vorgesehen war, setzte sich bald ein jährlicher Turnus mit rotierenden Gastgeberländern durch. 1978 fand mit dem Bonner Gipfel erstmals ein G7-Treffen in Deutschland statt.

Die Etablierung der G7 hatte eine zuvor bestehende Lücke in der Zusammenarbeit des (hier geoökonomisch zu verstehenden) Westens geschlossen. Seit 1945 hatten die westlichen Regierungen nämlich nur selten multilaterale Gipfeltreffen abgehalten, im Gegensatz sowohl zu den Ostblockstaaten als auch zu den afroasiatischen bzw. blockfreien Ländern. Die einzigen multilateralen Treffen der westlichen Staats- und Regierungschefs zwischen 1949 und 1974 waren drei NATO-Gipfel gewesen; auch europäische Gipfel fanden erst seit den 1970er Jahren regelmäßig statt.

Das G7-System wurde schrittweise um weitere Zusammenkünfte ergänzt, häufig als ad-hoc-Treffen. Seit 1982 trafen sich die für Handel zuständigen Minister regelmäßig, seit 1992 die Umweltminister; unregelmäßige Treffen gab oder gibt es zwischen den für Auswärtiges, Inneres und Justiz, Energie, Beschäftigung, Bildung und Entwicklung zuständigen Ministern. Für die Gipfeltreffen der G. d. f. I. lassen sich gewisse Sequenzen jeweils beherrschender Themen ausmachen. In den späten 1970er Jahren waren makroökonomische Fragen zwar nicht die ausschließlichen, aber doch stark im Vordergrund stehende Themen. Im Zuge der Rückkehr zur weltpolitischen Konfrontation nahmen ab 1980 sicherheitsstrategische Fragen im eigentlichen Sinn breiteren Raum ein, zu denen nicht-traditionelle Sicherheitsfragen wie internationaler Terrorismus und Luftpiraterie kamen.

Während der großen weltpolitischen Umbrüche zwischen 1989 und 1991 waren die in diesem Kontext aufgeworfenen wirtschaftlichen Fragen – z. B. die Transition der osteuropäischen Staaten von Plan- zu Marktwirtschaften – wesentlicher Bestandteil der G7-Treffen. Die UdSSR bzw. Russland nahm seit 1991 regelmäßig an den Gipfeln der G. d. f. I. teil. 1998 wurde die G7 um die Russische Föderation zur G8 erweitert. Diese Aufnahme erfolgte im Rahmen der politischen Bemühungen, Russland in die institutionelle Architektur des Westens zu einzubinden und die Stellung prowestlicher Reformpolitiker in Moskau zu stärken. Das Finanzminister- und Zentralbanktreffen bestand weiter im G7-Format.

2. Die Gruppe der führenden Industrienationen in der Kritik

Die G. d. f. I. ist stets auf eine vielstimmige Kritik gestoßen. Bei allen Unterschieden ihrer Motivation und Vorgehensweise eint die Kritiker eine Ablehnung der „Exklusivität“ des G7/G8-Clubs. Während die „Insider“ der G. d. f. I. die informelle, unbürokratische und personenbezogene Form der G7/G8-Diplomatie loben, nehmen Kritiker an der fehlenden völkerrechtlichen Legitimation der Gruppe Anstoß. Daneben gibt es weitere Aspekte der Kritik, die von unterschiedlichen Gruppen vorgetragen werden. Zu den frühen Kritikern innerhalb der G7-Staaten gehörten die Diplomaten der jeweiligen Außenministerien. Sie sahen sich durch das informelle Gipfelformat ausgeschlossen und in ihrem Einfluss reduziert – wohl nicht zu Unrecht: Die Einrichtung der Gipfel und die starke Rolle der Finanzminister im G7-Format fügte sich ein in den langanhaltenden Trend des Einfluss- und Bedeutungsverlustes von Diplomaten und Außenministerien. Gestärkt wurden dagegen die jeweiligen Ämter der Staats- und Regierungschefs, in Deutschland das Bundeskanzleramt. Kritik gab es überdies von den „kleineren“ Staaten des Westens, die das Entstehen eines exklusiven Staatenclubs der „Großen“ mit Argwohn sahen. Durch die EG- bzw. EU-Repräsentanten bei den Gipfeltreffen sind die meisten europäischen Länder zumindest indirekt am G7-System beteiligt.

Sehr grundsätzliche Kritik wird schließlich sowohl von Vertretern des „globalen Südens“ als auch von Gruppen vorgebracht, die meist der politischen Linken, seltener der extremen Rechten zugehören. Hier erscheint die G. d. f. I. als ein Club der Mächtigen, der am weiteren Ausbau seiner globalen Machtposition und an einer Globalisierung arbeitet, die nur wenigen nütze. Gegen die Treffen der G. d. f. I. hat es immer wieder sowohl friedliche als auch gewalttätige Proteste gegeben. Am Rande der G7/G8-Gipfel finden seit den 1990er Jahren stets globalisierungskritische Gegenveranstaltungen statt. Die G7/G8 werden sowohl in einem konkreten Sinne als eines der Spitzengremien des globalen Kapitalismus als auch etwas abstrakter wie eine Chiffre für eine abgelehnte Wirtschaftsform („Neoliberalismus“, „Washington Consensus“) wahrgenommen.

3. Neuere Entwicklungen

Schon während der 1990er und frühen 2000er Jahre gab es zahlreiche Forderungen nach einer Reform der G7/G8, die im Einzelnen sehr unterschiedlich und zuweilen gegenläufig waren. Eine häufig erhobene Forderung richtete sich darauf, das G7/G8-System insgesamt inklusiver zu machen, sowohl aus Gründen der Repräsentativität als auch wegen des ökonomischen Aufstiegs verschiedener Schwellenländer. Kritiker bezweifelten die Funktionalität eines weltwirtschaftlichen Führungsgremiums, das zwar Russland, Italien und Kanada, nicht aber China, Indien und Brasilien umfasste. Um dieses Problem zu mildern, trafen sich die Gipfel der G. d. f. I. in den 2000er Jahren häufig im Format der G8+5, d. h. unter Einschluss von China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika. Zudem wurden regelmäßig Staats- und Regierungschefs als Vertreter unterschiedlicher Regionalorganisationen (u. a. AU, ASEAN) zu den Gipfeln eingeladen. Auf dem G8-Gipfel im britischen Gleneagles 2005 nahmen Algerien, Äthiopien, Ghana, Nigeria, Senegal, Südafrika und Tansania nicht nur teil, sondern unterzeichneten auch das Abschlusskommuniqué.

Als Reaktion auf die Finanzkrise in Asien (1997/98) war 1999 auf amerikanisch-kanadische Initiative ein regelmäßiges Treffen der Finanzminister und Zentralbankchefs der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern eingerichtet worden. Diese G20 besteht aus den G8-Staaten sowie Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, der Türkei und der EU. Der seit einigen Jahren diskutierte Vorschlag, die G20 durch regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs aufzuwerten, realisierte sich schließlich durch einen externen Schock: die drastische Zuspitzung der zuvor schwelenden globalen Finanz- und Bankenkrise im September 2008. Das erste Gipfeltreffen im G20-Rahmen fand am 15./16.11.2008 in Washington statt. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens haben sich die G20-Gipfel zur wichtigen Plattform für Global Governance entwickelt. An der G20 gibt es ähnliche Kritik wie an der G7, die auf fehlende Repräsentativität und Legitimation abhebt. Jenseits der interessenpolitischen Motivation der G20-„Outsider“ verweist diese Kritik auf das in vielen politischen Zusammenhängen begegnende Dilemma zwischen Legitimität/Repräsentativität und Effektivität/Effizienz. Ein Anspruch der G7/G8 auf die maßgebliche koordinierende Funktion in der Weltwirtschaft besteht angesichts der Verschiebung der geoökonomischen Gewichte heute nicht mehr; die G7 wäre aufgrund ihres Zuschnitts hierzu auch nicht länger in der Lage.

Als Reaktion auf die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim beschlossen die übrigen G8-Staats- und Regierungschefs 2014, sich bis auf weiteres wieder im Rahmen der G7 zu treffen. Der für 2014 eigentlich in St. Petersburg geplante Gipfel wurde kurzfristig nach Brüssel verlegt. Mit der Suspendierung Russlands ist die G. d. f. I. wieder zu einem Format geworden, dem ausschließlich hochentwickelte marktwirtschaftliche Demokratien angehören. Zu einer Zeit, in welcher der Einfluss des Westens insgesamt zurückgeht und die Kohärenz der westlichen Staaten – nicht zuletzt in ökonomischen Fragen – fraglich wird, scheint die G7 aber keineswegs obsolet zu sein, sondern nur vor einer Neudefinition ihrer Aufgaben zu stehen.