Grundwerte

  1. I. Philosophisch
  2. II. Theologisch
  3. III. Rechtswissenschaftlich

I. Philosophisch

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1. Begriff

Als G. bezeichnet man Orientierungsgrößen bzw. Zielvorgaben für das Handeln der einzelnen Menschen und der Gemeinschaften. Gegenüber Werten sind G. durch ihre bes. Wichtigkeit ausgezeichnet. Diese Auszeichnung kann sich aus dem Zweck-Mittel-Schema ergeben, insofern G. als Zielwerte den instrumentellen Werten (Wert) übergeordnet sind, sowie aber auch aus ihrer Dauerhaftigkeit, ihrer intersubjektiv weitreichenden Anerkennung oder auch daraus, dass sie als Voraussetzung angesehen werden, um andere Werte oder Gruppen von Werten realisieren zu können.

Wie der Wertbegriff überhaupt, so spielt auch der G.-Begriff in gesellschaftspolitischen Debatten, in der parteipolitischen Auseinandersetzung und in der empirisch verfahrenden Sozialwissenschaft eine bedeutende Rolle. Die Soziologie fragt entspr., wie angesichts der Pluralität der Menschen und ihrer Wünsche und angesichts der Konflikthaftigkeit des Zusammenlebens ein Zusammenhalt der Individuen möglich ist, was den Kitt zwischen den Gliedern der Gesellschaft ausmacht. Bis in heutige Debatten hinein kann der G.-Begriff aber auch der parteipolitischen Identitätsbestimmung und der Abgrenzung dienen.

Der Prominenz des Wertbegriffs in der politischen Auseinandersetzung und in der sozialwissenschaftlichen Beschreibung steht allerdings eine zurückhaltende bis skeptische Position in der moralphilosophischen Analyse gegenüber. Für die praktische Philosophie insgesamt zeigt sich der Wertbegriff als historisch rezenter Terminus der Philosophie, der nur selten zu einem Grundbegriff avancierte. Dies liegt zunächst an der Herkunft aus der Ökonomie und der ökonomischen Theorie. Wert ist urspr. eine Bezugskategorie in der Preisgestaltung von Handelswaren. Erst vor dem Hintergrund ökonomischer Werttheorien wird der Wertbegriff durch die Philosophie aufgegriffen. Er bleibt in vielfacher Weise unbestimmt, kann sowohl als Ersatz für den traditionellen Begriff des Guten wie aber auch als sehr weit zu fassender Oberbegriff fungieren, der nicht nur das Gute, sondern auch das Wahre und das Schöne mitumgreift.

Ein weiteres Problem für den Wertbegriff ergibt sich aus dem Versuch, Werte vom Vorgang der Bewertung weitgehend unabhängig zu machen. Insb. im deutschen Sprachraum wird der Wertbegriff philosophisch mit Max Scheler und Nikolai Hartmann in Verbindung gebracht, deren materiale Wertethik als radikale Position innerhalb der metaethischen Auseinandersetzung über den Status dessen, worauf sich unsere moralischen Sprachäußerungen beziehen, gedeutet wird. Obschon die klassische Wertphilosophie des 19. und frühen 20. Jh. meist davon gesprochen hat, dass Werte nicht sind, sondern gelten, scheinen ihr Werte deshalb objektiv zu sein, weil ihnen eine spezifische Form der Existenz zukommt, die nicht in Abrede gestellt werden kann. Sieht man aber auf die weitere, v. a. auch in englischer Sprache geführte moralphilosophische Debatte, dann können sowohl wertobjektivistische, wertsubjektivistische wie auch pragmatische Positionen unterschieden werden. Auch der verbreitete ethische Ansatz des Utilitarismus geht von einer Axiologie (Wertlehre) aus, in der es allerdings nur einen G. gibt, welchen die Utilitaristen Nutzen oder Glück nennen. Metaethisch vermittelnde Positionen gehen sowohl von einem bewertenden Subjekt wie auch von überindividuell wirksamen Bedürfnis- und Handlungskontexten aus, auf die sich die Begründung von Werten zu beziehen hat. Teilweise wird dabei auch von anthropologischen Grundkonstanten gesprochen.

Zu einem zentralen Begriff der gesellschafts- und parteipolitischen Auseinandersetzung wurde der Begriff der G. in den 70er Jahren des 20. Jh. Vorausgegangen waren Wandlungen (Wertewandel) der Einstellung zu Partnerschaft, Ehe und Familie, zum Geschlechterverhältnis, zum Schwangerschaftsabbruch, zur Erziehung und zur politischen Partizipation. Die katholischen Bischöfe Deutschlands publizierten vor der Bundestagswahl 1976 unter dem Titel „Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück“ ein Hirtenwort, welches Orientierungsfragen thematisieren sollte und v. a. einen Werteverfall beklagte. Die CDU nahm in ihr Grundsatzprogramm die G. Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit als Maßstäbe politischen Handelns auf und folgte damit dem Beispiel des Godesberger Grundsatzprogramms der SPD von 1959. Ungeachtet dieser Übereinstimmung wird der Rekurs auf G. durch die großen Parteien aber auch zu Abgrenzungszwecken benutzt. Für Niklas Luhmann resultiert die Rede von G.n aus dem Erfordernis, auf „zunehmende strukturelle Differenzierungen des Gesellschaftssystems“ mit zunehmender „Generalisierung der für alle verbindlichen Symbolik“ zu reagieren (Luhmann 1981: 300). N. Luhmann spricht vom Vorschlag einer Zivilreligion als dem Trend, „Religion als Moral oder als Werteordnung zu generalisieren“ (Luhmann 1981: 300). In den parteipolitischen Inanspruchnahmen von G.n sieht er die Schwierigkeit, diese thematisch abzugrenzen und konkrete politische Verhaltensweisen zu deduzieren.

2. Werteordnung der Verfassung

Gegenüber parteipolitischen Inanspruchnahmen kann die Formulierung von G.n indes auch an die Auslegung des GG anknüpfen, wie sie durch das BVerfG erfolgte. Es geht in vielen seiner Urteile davon aus, dass die Grundrechte ein Gefüge bilden, welches auch als Wertordnung beschrieben werden kann, die im Kern v. a. durch die Unantastbarkeit der Würde des einzelnen Menschen (Menschenwürde) ausgedrückt ist. Offen bleibt jedoch, wie das Verhältnis zwischen G.n und Grundrechten genauer beschrieben werden kann, inwieweit eine Übersetzbarkeit einzelner Werte in einzelne Rechte gegeben ist und was den Mehrwert der Werte gegenüber den Rechten ausmacht.

3. Philosophische Reflexion

Aus Sicht der praktischen Philosophie versammeln sich in den Wert- und G.-Diskussionen inhaltliche und Verfahrensprinzipien, Tugenden, moralische Güter und Rechte in einer nichtsystematisierten Weise. Indes ist es durchaus sinnvoll, gegenüber einer einseitigen Stilisierung der normativen Debatte z. B. in der Fokussierung auf die Frage von Rechten oder Ansprüchen, oder auf die Prüfung von Interessen oder auf die Formulierung von Tugenden oder Haltungen, die Frage nach dem gelingenden Leben und Zusammenleben für weitere normative und evaluative Kategorien offen zu halten. Ob sich hierzu der Rekurs auf Werte als die beste Option erweist, muss allerdings skeptisch betrachtet werden. Für die Suche nach dem verbindenden Muster normativer Einzelgehalte besteht neben der Rede von G.n die Alternative, hinter dieser das Bedürfnis des Ausweises eines gemeinsamen gesellschaftlichen Ethos zu entdecken. Ein solches Ethos gilt nicht rein faktisch, sondern muss sich als plausibel begründet erweisen, führt aber nicht die Konnotation der Unveränderlichkeit mit sich. Als gesamtgesellschaftliches Ethos steht es im Bezug zu anspruchsvolleren Konzepten des guten Lebens, wie sie z. B. durch konfessionell geprägte Ethosformen repräsentiert sind. Der liberale Rechtsstaat lebt sowohl vom gesamtgesellschaftlichen Ethos wie auch von dessen Ausprägung durch solche umfassendere Konzepte des guten Lebens.

II. Theologisch

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Für die Theologie stellt die Debatte um G. in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar. Denn sie berührt zum einem die Frage nach dem ethischen Kern der christlichen Botschaft und dessen Eigenart, zum anderen die des Verhältnisses der Glaubenssphäre zu Gesellschaft und Staat. Des Weiteren betrifft sie die Problematik der Tradierung normativer ethischer Gehalte unter gesellschaftlichen Bedingungen, die durch rasche Veränderungen und das Auftauchen neuer Fragestellungen gekennzeichnet sind. Schließlich ist sie von der Frage herausgefordert, welches die Aufgabe der Kirche für das gemeinsame Ethos in einer Gesellschaft ist, die weder rechtlich noch faktisch maßgeblich von ihr bestimmt wird.

In den theologischen wie auch in den kirchenamtlichen Beiträgen zur G.-Debatte wurde die Frage nach dem ethischen Kern der christlichen Botschaft von Anfang an so eingebracht, dass man bei der inhaltlichen Ausfaltung des mit dem Begriff „G.“ Chiffrierten auf Eckpunkte des christlichen Menschenbildes („Menschenwürde“) rekurrierte oder aber auf Korrespondenzen zum biblischen Dekalog (Zehn Gebote) verwies und/oder sich auf substantielle Übereinstimmungen bzgl. der sozial erforderlichen Grundhaltungen, wie sie in den griechisch-römischen, vom Christentum stark rezipierten und weiterentwickelten tugendethischen Konzeptionen theoretisch reflektiert und praktisch wertgeschätzt wurden, berief. Damit kann man auf für die eigene geschichtliche Identität unzweifelhaft wichtigen Listen von Verbindlichkeiten hinweisen, die ihrerseits jeweils zur Legitimation aus Kontinuität und zur Konkretisierung weiterer Verbindlichkeiten herangezogen wurden und insofern schon in der Vergangenheit eine begründende und gesellschaftstragende Funktion ausgeübt haben, wenn auch in einem wesentlich begrenzteren und deutlich homogeneren Rahmen.

Auch wenn bei der Artikulation des christlichen Ethos als Konsequenz und sich verleiblichendem Ausdruck des christlichen Glaubens der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit zweifellos auf den Einzelnen und sein Verhältnis zum Anderen als dem „Nächsten“ konzentriert war, gehörte die Sorge um das Gelingen von Gemeinschaft und auch die Loyalität zur Friede ermöglichenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung schon seit ihren Anfängen zum Reflexionsbereich der christlichen Ethik. Konsequenterweise hat sich dieser Strang reflexiver Aufmerksamkeit seit dem Gewahrwerden des artefaktischen Charakters aller gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und Ordnungen in der Neuzeit über die Ordnung des Hauses zu einer breiteren und methodisch eigenständigen christlichen Sozialethik und daneben zu einer eigenen kirchlichen Soziallehre entwickelt. Beide sehen sich aus genuin theologischen Gründen dazu verpflichtet, über die unverzichtbaren ethischen Grundlagen und normativen Bezugsgrößen zu reflektieren, an denen sich Gesellschaft, Staat und Politik in den Wandlungsprozessen (heute bes.: Pluralisierung, Globalisierung, Säkularisierung) zusätzlich zur technischen und ökonomischen Sachlogik orientieren müssen, damit humanes Menschsein und Zusammenleben gelingen können.

Die Tradierung normativer ethischer Verbindlichkeiten ist ein Problem, mit dem Theologie und Kirche an kulturellen Nahtstellen und Epochenschwellen schon immer konfrontiert wurden. Aktuell stellt es sich aufgrund beschleunigter Wandlungsprozesse aber ungleich stärker, und das nicht nur in der kirchlichen Realität, sondern auch in der Sphäre des Rechts und auf sämtlichen gesellschaftlichen Feldern, wofür die anhaltende, terminologisch unterschiedlich chiffrierte Debatte über G. selbst ein Symptom ist. Zur Lösung dieser Aufgabe beitragen können die theologische Ethik und die kirchliche Sozialverkündigung aber nur, wenn sie den Versuchungen von Fundamentalismus und Parallelgesellschaft gleichermaßen widerstehen und ihre eigene hermeneutische Kompetenz aktiv ins Spiel bringen. Das bedeutet im Blick auf die G.-Problematik, sich der historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit der überlieferten konkreten normativen Positionierungen zu vergewissern und die mit ihnen verbundenen prinzipiellen Orientierungen im Blick auf die neu sich stellenden Fragen zur Anwendung und zur Entfaltung zu bringen.

Die Debatte über G. fragt schon von sich aus nach stabilen „vorstaatlichen“ bzw. metaphysischen oder sogar religiösen Voraussetzungen, wenn sie nach dem gemeinsamen ethischen Fundament der Gesellschaft sucht, das der Staat als Staat aus Gründen der Weltanschauungsneutralität bzw. der Achtung der Religions- und Gewissensfreiheit seiner Bürger weder vorschreiben noch in eigener Regie bearbeiten darf und erst recht nicht garantieren kann. Verfassung, Grundrechte, Organisationsgrundsätze, gesellschaftsbezogenes Ethos wie Toleranz, Gemeinsinn, Respekt vor dem Menschen als Menschen und Zivilcourage sind mit anderen Worten begründungsoffen. Gleichwohl sind diese obersten Werte begründungsfähig und können in nichtstaatlichen Überzeugungs- und Sozialräumen kultiviert und vermittelt werden. In diesen zivilgesellschaftlichen bzw. – in der Terminologie der traditionellen katholischen Sozialverkündigung – intermediären Räumen liegt die Chance bzw. auch die Aufgabe der Kirche(n), als Teil der Gesellschaft mit der „Freude und Hoffnung, [der] Trauer und Angst der Menschen“ (GS 1) zur Tradierung, Akzeptanz, Aktualisierbarkeit, aber auch zur Verteidigung der G. in der sozialen und politischen Kultur der demokratischen Gesellschaften beizutragen. Dieser Dienst umfasst auch die Implementierung durch Wertschätzung, Erziehung und Einübung, das Versehen mit lebenspraktischer Relevanz, die Herstellung von Kohärenz mit anderen gelebten Werten, das Inbezugsetzen der Grundorientierungen mit den neuen Problemen des erlebten gesellschaftlichen Wandels sowie ihre advokatorische Einforderung für die Gruppen der Schwachen und Benachteiligten in der Gesellschaft.

Literatur

III. Rechtswissenschaftlich

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1. Rechtsgeltung und Werte

Jede Einsicht in einen (Be-)Wirkungszusammenhang von G.n und (positivem) Recht verwirft die gegenteiligen Deutungen des strikten Rechtspositivismus. Geht es diesem darum, die Geltungsfähigkeit des Rechts allein formal (aus rechtlich geregelter Setzung und Durchsetzbarkeit) zu begründen, bestimmt sich der materielle Begriff des Rechts unter dem Sinnprinzip der Gerechtigkeit auch aus seiner Übereinstimmung mit jenen inhaltlichen G.n, die als ethisch-moralische Höchstrelevanzen nach dem (Einheits-)Willen einer Rechtsgemeinschaft das Gerecht-fertigt-sein von Handlungen, Zielsetzungen und Verhaltensregeln konstituieren und konkretisieren.

G. und Recht stehen hier nicht als unverbundene Sollensordnungen nebeneinander oder gar in einem Gegeneinander, das allenfalls dort endet, wo das positive Gesetz in unerträglichem Maße allen Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen widerspricht (sog.e Radbruchsche Formel). Sondern in dem Umfang, in dem eine politische Gemeinschaft die ihre (kulturelle) Identität und Existenz prägenden G. auch in ihre Rechtsordnung, namentlich in ihre Verfassung als rechtlicher Grundordnung übernimmt, macht sie diese zugl. als Entstehensbedingung des Rechts („aus Kultur“) sichtbar und als Geltungsbedingung des Rechts („als Kultur“) verbindlich. Sie verlieren dadurch nicht ihren vor- und außerrechtlichen Charakter, nehmen aber in dieser rechtsförmigen Anknüpfung, Vergewisserung und Verstetigung zugl. an der Ordnungskraft des (Verfassungs-)Rechts teil und erfahren dadurch in dem Ansinnen ihrer integrierenden und sozialen Wirksamkeit eine normative Verstärkung.

2. Wertentschiedenheit des Verfassungsstaats

In diesem Sinne gehört die relational auf die G. des westlichen Kulturkreises bezogene „Wertentschiedenheit“ zum Typus Verfassungsstaat, so auch zum „genetischen Programm des Grundgesetzes“ (Di Fabio 2006: 1032), ebenso wie zu dem (vertraglichen) Grundkonsens der zur EU und zum Europarat verbundenen Staatengemeinschaft. Danach steht die Würde des Menschen (Menschenwürde) und sein Vermögen zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit (Persönlichkeitsrechte) im Mittelpunkt einer mit juristischem Geltungsvorrang ausgestatteten „wertgebundene[n] Ordnung“ (BVerfGE 2,1), die – jeden totalitären Herrschaftsanspruch (Totalitarismus) kategorisch ins Unrecht setzend – dauerhaft und für jedweden Mehrheitswillen unabänderlich von den Grundentscheidungen für Freiheit und Gleichheit, für Menschenrechte und Grundrechte bestimmt und von den diesen korrelierenden Systementscheidungen für Republik, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit (auch Bundesstaatlichkeit) flankiert wird (Freiheitliche demokratische Grundordnung).

3. Rationaler Umgang mit Werten im Recht

Solche Wertentschiedenheit des (Verfassungs-)Rechts bezieht sich auf die G. als solche. Sie erstreckt sich weder auf deren vorrechtliche oder rechtliche Geltungsgründe noch auf deren Ableitungen im Einzelnen. Der rechtswissenschaftliche „Legalismus“ warnt daher ganz grundsätzlich vor jedem weitergehenden Begriff der Verfassungsordnung, namentlich der Grundrechte, als einer „objektive[n] Wertordnung“ (BVerfGE 7, 198). Damit werde, zumal durch die letztverbindliche Autorität verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, die Gefahr einer normüberschießenden, paternalistisch-antiliberalen „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ (Forsthoff 1959) hervorgerufen, die sich nicht nur intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und dogmatischer Kontrolle entziehe, sondern auch zu Lasten der eigenverantwortlichen (Aus-)Gestaltung der Rechtsordnung durch den demokratischen Gesetzgeber gehe („Tyrannei der Werte“ [Schmitt 2011]).

Mit der „konstitutionalistischen“ (Gegen-)Position bleibt indessen festzuhalten, dass das Wertordnungsdenken im Recht keineswegs die wertphilosophische (idealistische oder gesinnungsethische) Ersetzung des Rechts bedeutet, ebenso wenig die Leugnung der freiheitssichernden Neutralitätspflicht des Staates. Wohl aber bedeutet es die Notwendigkeit, die Funktion des Rechts zur zweckrationalen (praktisch gerechten, verantwortungsethisch ausgewogenen) Ordnung der sozialen Wirklichkeit „im Lichte“, d. h. unter den Maximen jener rechtsimmanenten G. zu entfalten, die ihr Sinn und Ziel, Rahmen und Maß geben. Das bedingt im Dienste materialer Rationalität einen methodisch anspruchsvollen und theoretisch reflektierten Umgang mit Werten im Rechtsystem, der allfälligen Neigungen zu Verabsolutierungen, Tabuisierungen und Simplifizierungen mit kritischer Selbstkontrolle und interpretatorischer Disziplin begegnet. Zu dieser gehört – in Ergänzung zum klassischen Methodenkanon der juristischen Auslegung – die Abstrahierung und systematische Ordnung von Wertgeboten, die Sensibilität für die Existenz verschiedener Wertesphären, die Offenlegung der Wertsubstanz eines Rechtssatzes, die strikte Radizierung von wertebasierten Ableitungen, die Vermeidung von inflationären Ausdifferenzierungen, die äußerlich folgerichtige, von inneren Motivationen möglichst distanzierte Begründung von Präferenzsätzen; bei allem die stete Prüfung der Abwägungsfähigkeit von Rechtswerten (Abwägung), ihrer Aufnahmefähigkeit für kritische Einwendungen, revidierte Einsichten und gewandelte Anschauungen, schließlich ihrer Anschlussfähigkeit für zweckrationale, situationsgerechte Entscheidungen und (alltags-)praktisch taugliche Ergebnisse.

4. Werteverantwortung von Staat und Gesellschaft

Die normwissenschaftliche Problemstellung findet ihr Spiegelbild in der G.-Debatte der 1970er Jahre. Deren Kontroverse, ob der Staat die Verantwortung für den Schutz der G., u. U. auch gegen die demokratische Mehrheit, trage oder ob dies einzig die Sache der pluralistischen Gesellschaft und ihrer Ordnungsmächte sei, reicht jedoch weiter. Sie erstreckt sich auch auf jene Elemente der gesamtgesellschaftlichen Werteordnung, die nicht in das positive Recht eingegangen sind, von diesem allenfalls hie und da in Bezug genommen werden (z. B. „Sittengesetz“), im Übrigen aber als außerrechtliche (Kultur-)Standards dem unmittelbar juristischen Zugriff entzogen sind. Die Kompetenzfrage konfrontiert mit dem Dilemma, dass jede wirkliche Geltung des Rechts bei seinen Adressaten unausweichlich darauf verwiesen ist, auf reale Akzeptanz und verständige Loyalität zu treffen, andererseits aber der freiheitliche und säkulare Staat weder das Recht noch die Kraft hat, das eine wie das andere selbsttätig zu organisieren oder gar einseitig zu oktroyieren. Insofern lebt der Verfassungsstaat – so das berühmte Böckenförde-Diktum – von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.

Doch entpflichtet dieses wesenhafte Unvermögen den Staat nicht von seiner (verfassungs-)rechtlichen Wertebindung. Diese widerspricht nicht nur einem rest- und wehrlosen Ausgeliefertsein an die Majorität, sondern ihr lässt sich, indem sie auf dauerhafte Realität und Vitalität angelegt ist, durchaus auch eine mittelbare normative Relevanz entnehmen. Im Hinblick darauf bieten die normativen Umfeld-Kategorien der Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen (Verfassungsvoraussetzungen, Verfassungserwartungen) dem Staat den legitimen Boden dafür, seine Institutionen und Verfahren behutsam und im Verbund mit den gesellschaftlichen Kräften auch für die Pflege der G., insgesamt für eine anhaltende Rechtskultur der Freiheit und Gleichheit, der Solidarität und der Toleranz einzusetzen, auf deren integrierende Leistung auch die soziale Wirksamkeit des Mehrheitswillens gebaut ist.