Gleichgewichtspolitik

G. zählt zu den ältesten Konzepten in Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen. Sie ist i. S. v. balance of power und balancing zentral v. a. für die realistische Denk- und Theorieschule der internationalen Politik (Realismus). In einem allg.en Sinne bezeichnet G. die Begrenzung von Macht durch Macht sowie die Bestrebung, ein Ungleichgewicht von Machtressourcen zu Lasten der eigenen Seite zu vermeiden.

Die Verwendung der Begriffe ist nicht einheitlich; balance of power wird in der Literatur in bis zu neun unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Diese semantische und konzeptionelle Mehrdeutigkeit ist vielfach kritisiert worden. Einigkeit besteht in der Differenzierung zwischen der balance of power als einem (vorhandenen oder anzustrebenden) Zustand eines Staatensystems und dem balancing behaviour als von einzelnen Staaten vorgenommenen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Machtstellung relativ zu anderen Staaten. Macht wird in diesem Zusammenhang i. d. R. als militärische Macht verstanden.

Balance of power ist nicht als ein Gleichgewicht im physikalischen Sinne zu verstehen, sondern als ein Zustand, in dem kein Staat in einem Staatensystem so mächtig ist, dass er die anderen Staaten direkt beherrschen kann. Befürworter einer balance of power sehen einen solchen Zustand als förderlich für Systemstabilität und Frieden an. Unterschiedlich wird die Frage beantwortet, welche Mechanismen Gleichgewicht in einem Staatensystem produzieren. Die Antworten unterscheiden sich u. a. danach, ob hierfür eine bewusste Entscheidung einzelner Akteure notwendig ist, oder ob die strukturellen Zwänge des internationalen Systems so stark auf einen Gleichgewichtszustand hinwirken, dass es hierzu keiner Willensentscheidung einer einzelnen Regierung bedarf. Bei der G. i. S. v. balancing behaviour lässt sich u. a. eine innere und eine äußere Form unterscheiden: internal balancing bezeichnet die Stärkung der eigenen Machtressourcen, z. B. durch Aufrüstung; external balancing meint das Eingehen von Allianzen gegen einen anderen Staat.

Während Vorstellungen einer G. zwischen verschiedenen politischen Systemen schon für das antike Griechenland und das alte China nachweisbar sind, fand die G. ihre klassische Ausprägung im europäischen Staatensystem des 18. und 19. Jh. Das Westminister-Parlament legte zwischen 1727 und 1868 im jährlich verabschiedeten Militäretat regelmäßig „the preservation of the balance of power in Europe“ (zit. n. Wight 2002: 172) als eine der Aufgaben des britischen Militärs fest. Balance of power bezeichnete aus dieser Sicht die Abwesenheit eines Hegemonen auf dem europäischen Kontinent. Die infolge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Herrschaft ausgebrochenen Kriege (1792–1815) erschütterten dieses Gleichgewicht und führten zur Bildung einer Gegenkoalition. Der Wiener Kongress (1814/15) suchte nach einer Wiederherstellung und dauerhaften Sicherung des europäischen Gleichgewichts. Die sich ab der Mitte des 19. Jh. wandelnden Kräfteverhältnisse und die Bildung eines deutschen Nationalstaats 1871 stellten die überkommene G. ernsthaft in Frage. Machttheoretisch argumentierende Ansätze sehen darin die wesentliche Erklärung für den endgültigen Zusammenbruch des auf G. beruhenden europäischen Staatensystems im Ersten Weltkrieg.

Die Gründung des Völkerbundes 1919 war auch Ausdruck einer liberal-idealistischen Kritik an der G., da diese den Weltkrieg nicht verhindert hatte. Die auf Institutionalisierung statt auf G. basierende Ordnung des Völkerbundes scheiterte in den 1930er Jahren an der aggressiven Machtexpansion insb. NS-Deutschlands und Japans. In einer klassisch gewordenen Kritik warf Edward Hallett Carr 1939 den Idealisten vor, die Bedeutung von Macht und G. in der internationalen Politik sträflich vernachlässigt zu haben.

Nachdem die herausgehobene Machtstellung europäischer Staaten mit dem Zweiten Weltkrieg endete, blieben nach 1945 die USA und die UdSSR als einzige große Mächte übrig. Zu dem von ihnen durch Allianzen und konventionelle Aufrüstung betriebenen balancing trat nun eine mittels Nuklearwaffen (ABC-Waffen) forcierte G., und genau dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ sollte einen Krieg der Supermächte verhindern.

Der Kollaps der UdSSR transformierte das internationale Kräfteverhältnis insofern, als die USA nach 1990 kein Gegengewicht im herkömmlichen Sinne mehr hatten. Legt man die üblichen Annahmen über G. zugrunde, so war das jahrelange Ausbleiben eines „harten“ balancing gegen die USA eine erklärungsbedürftige Anomalie. In den amerikanischen Debatten der 1990er Jahre argumentierten die Befürworter einer Strategie der Primacy insofern gegen G. als Ordnungsprinzip, als sie für einen dauerhaften und möglichst weiten Machtvorsprung der USA vor allen möglichen Rivalen eintraten. Die meisten Vertreter der neorealistischen Theorieschule gingen hingegen davon aus, die amerikanische Vormachtstellung würde nur zeitweiligen Bestand haben, ehe sich ein neues multipolares Gleichgewicht einstellen würde.

Im frühen 21. Jh. verdichten sich die Anzeichen dafür, dass unterschiedliche Staaten wieder verstärkt G. betreiben. Sowohl die von der US-Regierung ab 2011 im Rahmen des Rebalancing to Asia eingeleiteten Maßnahmen als auch die Anlehnung verschiedener asiatischer Staaten an die USA weisen Züge einer G. auf, die auf die Verhinderung einer hegemonialen Stellung Chinas in Ostasien abzielt. Umgekehrt betreibt China durch den Ausbau seiner Seestreitkräfte ein internes balancing gegen die starke US-Position im Pazifik. Trotz der konzeptionell, empirisch und normativ begründeten Kritik an G. ist zu erwarten, dass die balance of power als Kategorie der internationalen Politik relevant bleiben wird.