Gewissen, Gewissensfreiheit

Version vom 4. Januar 2021, 12:08 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Gewissen, Gewissensfreiheit)

  1. I. Philosophisch
  2. II. Theologisch
  3. III. Rechtlich

I. Philosophisch

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Mit dem Gewissen (G.) ist die unverzichtbare Schnittstelle benannt, an der sich im Menschen objektive und allg.e moralische Wert- und Normvorstellungen mit deren subjektiver und konkreter Aneignung kreuzen. Denn im G. manifestiert sich die innere, d. h. zweifelsfreie Überzeugung von der Richtigkeit oder Falschheit der eigenen moralischen Handlungen (Handlungstheorie), Zwecke, Beurteilungen und Entscheidungen; eine Überzeugung, die sich stets vor dem Hintergrund der allg.en und objektiv geltenden Moralvorstellungen positioniert und sich demnach in Konformität mit ihnen oder in Differenz zu ihnen versteht, ohne freilich unmittelbar von ihnen abhängig zu sein. Denn das G. umfasst weit mehr als eine bloße Anwendungsinstanz, die allg.-objektive Normen und Prinzipien in die konkrete Praxis umsetzt bzw. auf den konkreten moralischen Einzelfall anwendet. Vielmehr ist das G. selbst der Ort, in dem das Bewusstsein um die Gültigkeit moralischer Richtigkeit oder Falschheit nicht nur subjektiv und undelegierbar verankert ist, sondern in dem die Überzeugungen von „gut“ und „böse“ bzw. „recht“ und „unrecht“ in konstitutiver Weise überhaupt erst als für eine Person verbindlich generiert werden. In dieser engen Verbindung von Moralität (Moral) und personaler Identität liegt der Grund, warum die G.s-Freiheit untrennbar mit dem G. verbunden bleibt, insofern die Aufhebung der Freiheit des G.s, d. h. des Rechtes, sich im Fall eines Konfliktes gegen den Anspruch einer Autorität entscheiden zu können, einer Aufhebung der personalen Identität im Bereich des Moralischen gleichkäme. Das G. erweist sich somit als Grundlage moralischer Persönlichkeit.

1. Phänomenologie des Gewissens

Die im G. greifbar werdende Spannung von innerer Gewissheit und äußerem Anspruch spielt in allen Beschreibungen dieses nur schwer definierbaren Phänomens die zentrale Rolle. Denn im G. tritt etwas zutage, das zwar in seiner Unzweifelhaftigkeit als das Innerlichste empfunden wird, aber gleichzeitig als eine Stimme erfahren wird, die ihre Herkunft von außerhalb zu haben scheint. Bereits in der Antike, die freilich keinen systematisch ausgearbeiteten G.s-Begriff kennt, ist es das dem Sokrates zugeschriebene Daimonion (Platon, Apologia 31c-d; Platon, Phaidros 242b-c), der ihn innerlich ermahnt und warnt. Im christlichen Denken wird das G. als eine innere Stimme gedeutet, mittels derer Gott im Menschen spricht. Auf Augustinus geht die Bestimmung des G.s als eines internen Gerichtshofes zurück, wo der Mensch mit sich selbst ins Gericht geht (In Ioh. ev. 33, 5).

Nirgends wird diese sich im Inneren abspielende Spannung greifbarer als in dem, was man das schlechte G. oder noch treffender den G.s-Biss nennt, nämlich die Erfahrung, gegen sein G. geurteilt oder gehandelt zu haben, d. h. etwas gedacht oder getan zu haben, das nicht mit dem eigenen G. vereinbar ist. Die Metapher des Bisses macht deutlich, wie quälend eine solche Einsicht, sei sie auch noch so undifferenziert, sein mag; d. h. im Umkehrschluss: Wie stark das G. das Wohlergehen des Menschen zu beeinflussen vermag. Denn kaum etwas wird als angenehmer und befriedigender betrachtet als ein gutes oder reines G. (das folglich als „sanftes Ruhekissen“ beschrieben werden kann).

Die Rede vom schlechten oder guten G. macht auf einen weiteren Unterschied aufmerksam, der für eine Phänomenologie des G.s zu bedenken ist, insofern es eine doppelte Funktion erfüllt: Im Sinne einer Rat gebenden oder mahnenden Weisung richtet sich im G. der Blick nach vorn auf das Zukünftige; im Sinne einer kritischen Kontrolle erfüllt das G. den Zweck einer Überprüfung in Bezug auf Vergangenes. Beide Funktionen erfüllen den zu Beginn genannten konstitutiven Aspekt der Generierung der für eine personale Identität verbindlich geltenden Überzeugungen von „gut“ und „böse“: Nicht nur der dem G. folgende Blick nach vorn hat Konsequenzen für eine moralische Handlung, insofern er deren sittliche Qualität zu beeinflussen vermag, sondern auch der retrospektiv gewonnene Blick zurück, der zwar die Handlung als solche nicht ungeschehen machen kann, aber seinerseits, insb. vermittelt über moralisch bedeutsame Phänomene wie Reue oder Scham, eine korrigierende Wirkung auf zukünftige Entscheidungen und Handlungen auszuüben vermag.

Daran zeigt sich, dass das Phänomen des G.s nicht statisch und unverrückbar zu verstehen ist, sondern der Modifizierbarkeit und Gestaltung unterliegt – wenn nicht gar bedarf. Gewissenslosigkeit als diejenige Form, die sich der G.s-Erforschung und G.s-Bildung verweigert oder gar das G. zum Schweigen zu bringen versucht, ist gleichbedeutend damit, dass eine Person auf ihre moralische Autonomie verzichtet und ihres Status als sittliches Subjekt verlustig geht. Der Mensch steht vielmehr in der Verpflichtung, sein G. zu erforschen, d. h. seine moralischen Urteile, Zwecke und Handlungen sich selbst gegenüber kritisch zu reflektieren. Dies impliziert den Gedanken der G.s-Bildung, d. h. der Arbeit am G., die freilich in einer gewissen Diskrepanz zur Vorstellung der Autonomie des G.s und der damit einhergehenden inneren Gewissheit der Richtigkeit oder Falschheit der eigenen moralischen Handlungen, Zwecke, Beurteilungen und Entscheidungen steht. In diesem Kontext stellt sich nämlich die Frage nach den äußeren Einflüssen, denen das G. ausgesetzt ist, und damit auch das Problem seiner heteronomen Bestimmung durch Erziehung und Sozialisation. Sich von seinem solcherart manipulierten G. zu emanzipieren kann dann gerade als Befreiungsakt zu wahrer Autonomie verstanden werden.

2. Historische Stationen

Will man die Geschichte des G.s in Grundzügen zusammenfassen, so fällt auf, dass Begriff und Theorie erst mit der Spätantike und insb. mit deren christlichen Denkern Einzug in die Philosophie erhalten. Der Zusammenhang, in dem dies geschieht, ist die Aufmerksamkeit, die die spätantik-patristischen Autoren der mit dem G. verknüpften Innerlichkeit und Untrüglichkeit widmen. Zwar kennt auch die antike Philosophie die mit dem G. einhergehenden moralischen Phänomene einer mahnenden Stimme und auch die G.s-Erforschung im Sinne einer kritischen Selbstprüfung der eigenen Lebensführung zählt zu den bekannten Motiven. Doch erst das ganz auf den inneren Menschen konzentrierte Interesse der christlichen spätantiken Autoren erhebt das G. zu dessen innerer Prüfungsinstanz und gleichzeitig zum Ort, an dem Gottes Präsenz im Menschen greifbar wird.

Bereits hier zeichnet sich eine Bedeutung ab, die dem G. in den folgenden Jahrhunderten systematisch zugewiesen werden wird: Es ist eine von Gott eingepflanzte unbestechliche Urteilsinstanz, die in einer Art apriorischen Besitz das Wissen um gut und böse in sich enthält. Der schöpfungstheologischen Bestimmung der Gottebenbildlichkeit des Menschen entspr. ethisch gesprochen seine natürlich gegebene, intuitive Kenntnis basaler, universaler moralischer Vorstellungen wie sie etwa in den Zehn Geboten formuliert sind. Die Frage im Hintergrund ist die nach den Quellen moralischer Überzeugungen. Was bereits Röm 2,14 f. und der Gedanke an die Heiden, die sich selbst Gesetz sind, weil sie über ein G. verfügen, deutlich gemacht hat, wird mit Rekurs auf ein natürliches moralisches Wissen des Menschen, wie es sich im G. manifestiert, beantwortet.

Der prüfende Blick ins Innere steht auch im Zentrum der Ethik des Petrus Abaelardus, die die Intention des Handelnden zum entscheidenden Kriterium für die moralische Bewertung erhebt. Vor diesem Hintergrund präsentiert P. Abaelardus eine G.s-Lehre, in der das G. zur letzten Instanz erhoben wird, die die wahren inneren Beweggründe des Handelns offenlegt und als unbedingt verpflichtend anzusehen ist: Wenn die subjektive G.s-Überzeugung objektiv einem Irrtum unterliegt, kann das entspr.e Handeln zwar nicht gut sein, aber es ist doch moralisch höher zu werten als ein Handeln, das objektiven Regeln entspr., dem G. jedoch widerspricht – so macht es P. Abaelardus am provokativen Beispiel der aus innerer G.s-Überzeugung tätigen Verfolger Christi deutlich, deren Tun moralisch verwerfbar gewesen wäre, wenn sie Christus wider ihr G. geschont hätten (Scito te ipsum: I 45).

Thomas von Aquin präsentiert, erstmals präzise durchdacht, eine Zweistufigkeit des G.s, dessen Unterscheidung von synderesis (Urgewissen) und conscientia (G.s-Urteil) systematisch von hoher Relevanz ist. Denn damit wird deutlich, dass die natürliche Erkenntnis des Guten und Schlechten in Gestalt eines universalen Vernunftgesetzes im Urgewissen nicht unmittelbar handlungsleitend ist, sondern zu unterscheiden ist von der Art und Weise, wie die praktische Vernunft im G.s-Urteil die Kenntnis solcher allg.er Prinzipien auf den konkreten Einzelfall anwendet. Damit wird die das G. kennzeichnende Spannung von einerseits vorgegebenen objektiven, allg.en moralischen Wert- und Normvorstellungen und andererseits deren subjektiver, konkreter Aneignung, die der Vernunft als gestaltungsoffen aufgegeben ist, einer philosophischen Begründung unterstellt. Dieser Verortung des G.s in der autonomen praktischen Vernunft, in der sich die moralische Identität des Handelnden zum Ausdruck bringt, entspr. es, dass Thomas ohne Abstriche die Verpflichtung auch des irrenden G.s vertritt (STh I-II 19, 5 und 6).

Mit den neuzeitlichen Modifikationen, die die (aristotelisch geprägte) Konzeption einer praktischen Vernunft durchläuft, ändert sich zwar weniger die phänomenologische Beschreibung der Funktion des G.s, dafür aber der ihm zugeschriebene Stellenwert. Für Immanuel Kant ist es nur noch in formaler Hinsicht der Ort des Selbstvollzugs der praktischen Vernunft, während die eigentliche Bestimmung des moralischen Gesetzes durch den kategorischen Imperativ erfolgt. Eine radikale Infragestellung erfährt das G. durch Friedrich Nietzsche, der die Spannung von innerer, subjektiver Überzeugung und äußerem, objektivem Anspruch zugunsten des Letzteren auflöst und dem G. jegliche moralgenerierende Wirkung abspricht: Insb. das schlechte G. wird so zur Krankheitserscheinung, von der es sich zu befreien gilt, weil sein äußerer Autoritätsanspruch den „Instinkt der Freiheit […] ins Innere [einkerkert]“ (Nietzsche 1988: II 17). Die Neuzeit widmet sich insb. der damit zusammenhängenden Frage nach der Entstehung des G.s durch Erziehung und Sozialisation, die die Rede vom G. als dem Ort intuitiv erkannter universaler Moralprinzipien einer kritischen Reflexion unterzieht.

II. Theologisch

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Der Begriff der G.s-Freiheit (libertas conscientiae) ist erstmals in der Schrift des Boethius über den „Trost der Philosophie“ nachgewiesen; bei Johannes von Salisbury ist von der Unverletzlichkeit des G.s (salva idemnitate conscientiae) die Rede. Die rechtliche Gewährleistung der G.s-Freiheit setzt jedoch die Anerkennung religiöser Toleranz voraus, die ein Ergebnis der Religionskriege des 16. Jh. ist. Die Idee der Menschenwürde führt im Selbstverständnis moderner Demokratien zur Anerkennung individueller Abwehr- und Teilhaberechte, deren historischer Ursprung in der G.s- und Religionsfreiheit liegt. Seit dem 19. Jh. emanzipiert sich der Anspruch der G.s-Freiheit jedoch zunehmend aus der inneren Verbindung mit der Religionsfreiheit. Die modernen Verfassungen führen sie als ein eigenständiges, von der Religionsfreiheit unabhängiges Grundrecht auf, das unmittelbar aus dem obersten Achtungsgebot vor der Freiheit und Würde aller Bürger als dem letzten Verfassungsziel hervorgeht. Dieser Vorgang ist von epochaler Bedeutung für das Selbstverständnis der Moderne: Das G. löst sich aus der engen Bindung an den Glauben und wird auf sich selbst gestellt. Es gewährt nicht nur die Freiheit zum eigenen Glauben, sondern auch die Freiheit vom religiösen Glauben überhaupt und darüber hinaus die Freiheit zum selbstverantwortlichen Handeln (Handeln, Handlung) und zur individuellen Lebensgestaltung gemäß den eigenen Überzeugungen. Freiheit, Vernunft (Vernunft – Verstand) und Selbstbestimmung des Einzelnen finden ihre innere Begrenzung allein durch den Gleichheitsgrundsatz, der die betroffenen Rechte anderer wahrt.

Der rechtliche Schutz des G.s als der letzten und höchsten Instanz der autonomen Persönlichkeit unterliegt keinerlei Einschränkungen durch einen allg.en Gesetzesvorbehalt. Der demokratische Grundsatz, dass die Geltung der Rechtsordnung aus einer wechselseitigen Anerkennung aller Staatsbürger in ihrer gegenseitig unverfügbaren Freiheit und Würde hervorgeht, führt allerdings zu einer Differenzierung hinsichtlich eines negativen und positiven Aspektes der G.s-Freiheit. Diese manifestiert sich in der Freiheit zur eigenen G.s-Bildung und in der Freiheit zur G.s-Betätigung entspr. den eigenen religiösen, moralischen und politischen Überzeugungen. Während die Freiheit der G.s-Bildung keinerlei rechtlichen Einschränkung unterliegt, findet die allg.e Handlungsfreiheit des Einzelnen ihre Grenze an der Freiheit anderer. Die Berufung auf das G. gibt niemandem das Recht, die geschützte Freiheitssphäre anderer zu verletzen und deren Rechte zu missachten.

Ebenso wie die Idee der Menschenwürde aus einem komplexen Entstehungskontext hervorgeht – im Allgemeinen wird sie auf die Trias von griechischer Philosophie, christlicher Ethik und europäischem Humanismus zurückgeführt, wobei die einzelnen Faktoren unterschiedlich gewichtet werden –, verdankt sich auch das moderne G.s-Verständnis antiken, jüdisch-christlichen und spezifisch neuzeitlichen Einflüssen. Bereits Sokrates beruft sich auf die dunkle und rätselhafte Stimme seines Daimonions, die ihm in den konkreten Wechselfällen des täglichen Lebens als warnender – nie jedoch als gebietender – Ratgeber zur Seite steht. Dieses göttliche Daimonion hindert ihn daran, etwas Bestimmtes zu tun, das ihn in die Irre leiten oder von der ungehinderten Wahrheitssuche abhalten könnte. Schon hier deutet sich der dialektische Wechselbezug an, der zwischen der notwendigen Freiheit des G.s und seiner unbedingten Verpflichtung durch die erkannte Wahrheit waltet. In seiner Verteidigungsrede weist Sokrates den unter der Bedingung angebotenen Freispruch, dass er die Suche nach Wahrheit aufgibt, mit den Worten zurück: „Ich achte euch sehr, ihr Athener, und liebe euch, aber ich werde Gott mehr gehorchen als euch, und solange ich atme und die Kraft dazu habe, nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und jeden von euch, den ich antreffe, zurechtzuweisen“ (Platon, Apologie, 29d). Nach der Darstellung des Evangelisten Lukas beruft sich Petrus später vor dem Synedrium als Sprecher der Apostel auf denselben Grundsatz, um die öffentliche Verkündigung des Evangeliums zu rechtfertigen. Er entwaffnet die Hohenpriester durch die Frage, „ob es vor Gott Recht ist, mehr auf euch zu hören als auf Gott“ (Apg 4,19) und gibt ihnen selbst die freimütige Antwort: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Diese später als Clausula Petri bezeichnete Sentenz, die auf die Verteidigungsrede des Sokrates vor seinen Athener Richtern Bezug nimmt, kann als Geburtsstunde des G.s in seinem Verständnis als letztgültiger Instanz personaler Verpflichtung angesehen werden.

Die persönliche Erfahrung eines unbedingten Gebundenseins durch die erkannte Wahrheit, die sich im G. artikuliert, führt später zu verschiedenen reflexiven G.s-Theorien. Das G. wird darin als „heiliger Schutzgeist“ (Sen. epist. 41, 1,2), als „Wächter und Beobachter aller unserer Fehler und Vorzüge“ (Sen. epist. 41, 1,2), als „innerer Gerichtshof“ (Röm 2,14–16; Kant 1914: 438 f.), als „Stimme Gottes“ (Aug. de serm. dom. 2,9, 32) oder vorsichtiger als „Echo der Stimme Gottes“ (Newman 1961: 78) und als „natürliche Anlage zur Unterscheidung von Gut und Böse“ (STh I, 79,12) gedeutet. Allen diesen Erklärungsmodellen ist gemeinsam, dass sie das G. als kritisches Selbst- und Verantwortungsbewusstsein des Menschen sowie als eine Instanz der mahnenden, anklagenden oder zum Guten antreibenden Selbstüberprüfung des eigenen Handelns verstehen. Welche Rolle das G. im Leben jedes Einzelnen spielt, hängt jedoch davon ab, wie er auf die Stimme Gottes hört und das natürliche Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse in sich ausbildet. Der eine pfeift auf sein G. und schlägt seine Ratschläge in den Wind, dem anderen ist es eine unerlässliche Richtschnur in allen wichtigen Fragen der persönlichen Lebensführung und der Mitbeteiligung am Prozess demokratischer Meinungsbildung und politischer Entscheidungsfindung (Entscheidung).

Dem G. ist die letzte Selbstbeurteilung der Person aufgetragen; in ihm prüft der zu einem verantwortlichen Leben in Freiheit und Vernunft gerufene Mensch, ob sein konkretes Tun und darin er selbst vor dem Maßstab des secundum rationem vivere (= vernunftgemäß leben) Bestand hat. Das konkrete G.s-Urteil gewinnt seine Verpflichtungskraft aus den moralischen Prinzipien, die in ihm zur Anwendung auf die konkreten Handlungsumstände gelangen; zugl. eignet jedem G.s-Urteil ein unhintergehbares Moment der Subjektivität, da das konkret Gebotene nur durch den eigenständigen Gebrauch der praktischen Vernunft erkannt wird. Dieser unverzichtbare Selbstbezug des Menschen rückt in den G.s-Theorien der Moderne, die dem Autonomieverständnis der Aufklärung folgen, beherrschend in den Mittelpunkt. Doch bedeutet moralische Autonomie entspr. dem in Immanuel Kants kritischer Philosophie erreichten Anspruch dieses Begriffs nicht einfach das Recht, individuelle Wünsche durchzusetzen. Insofern diese häufig im Bannkreis selbstbezogener Neigungen und Interessen verbleiben, gehören bloße Wünsche noch der Sphäre der Heteronomie an, in der ein Standpunkt autonomer moralischer Selbstverpflichtung noch gar nicht erreicht ist. Zu wahrer Autonomie gelangt der Mensch erst dadurch, dass er seine individuellen Wünsche dem kritischen Filter eines allg.en Vernunftprinzips unterwirft und sie daraufhin befragt, ob sie als allg.es Gesetz gedacht werden können oder mit dem Recht des Anderen als Person übereinstimmen. Auch in den modernen G.s-Theorien geht es daher darum, zwei Aspekte des G.s zueinander zu vermitteln: Das G. ist zugl. die Stimme des Selbst wie die Stimme des Anderen. In ihm meldet sich der „Ruf der Sorge“ (Heidegger 2006: 274) zu Wort, der zum individuellen Selbstsein auffordert; zugl. zeigt sich das G. jedoch als eine Verpflichtungsinstanz, die jeden Menschen daran erinnert, dass sein individuelles Dasein nur im Mitsein mit den anderen gelingen kann. Werden die Verbindlichkeiten, die jedem aus den Beziehungen erwachsen, in denen er zu den für sie oder ihn bedeutsamen anderen steht, aus der G.s-Erfahrung verdrängt, droht das G. zu einer Instanz subjektiver Beliebigkeit zu verkommen.

Nachdem die Verbindlichkeit auch des irrenden G.s in den klassischen G.s-Lehren der theologischen Tradition von Augustinus über Thomas von Aquin bis John Henry Newman immer anerkannt war, findet sich im Zweiten Vatikanischen Konzil die erste lehramtliche Stellungnahme zur Würde des sittlichen G.s. Der Kompromisscharakter dieses Textes, der eine personale G.s-Auffassung mit einer streng am Gedanken des sittlichen Gesetzes und seiner objektiven Wahrheit ausgerichteten Konzeption verbindet, in der das G. nur die Rolle eines passiven Rezeptionsorgans für den Willen Gottes spielt, aber keine eigenständige Funktion im Findungsprozess der sittlichen Wahrheit besitzt, wurde oftmals festgestellt. In der nachkonziliaren Lehrentwicklung trat der objektive Pol des G.s, die ihm aufgetragene Selbstbindung an das moralische Gesetz und seine objektiven Normen noch stärker hervor, ohne dass die letztinstanzliche Verbindlichkeit des G.s als unhintergehbare Stimme persönlicher Verantwortung dabei in Frage gestellt wurde (so Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Veritatis splendor“). Bei G.s-Konflikten innerhalb der katholischen Kirche gilt die den juristischen Regeln der Beweislastumkehr entspr.e Maxime, nach der ein katholischer Christ den Weisungen des kirchlichen Lehramtes zur persönlichen Lebensführung zunächst mit einem Vertrauensvorschuss entgegentreten und sie probeweise in der Hoffnung annehmen soll, dass die eigene Einsicht in den Sinn dieser Weisung nachreifen wird. Wenn dies aber trotz einer ernsthaften Überprüfung der vom Lehramt geltend gemachten Gründe und einer um Verständnis bemühten Beratung mit anderen nicht gelingt, muss der Einzelne seinem G. folgen, ohne dass dies als Illoyalität gegenüber der kirchlichen Glaubensgemeinschaft gewertet werden darf.

III. Rechtlich

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1. Rechtliche Relevanz des Gewissens

Der Begriff G. bezeichnet zunächst (wie andere Begriffe auch, etwa „Glaube“, „Kunst“, „Beruf“) ein vor- und außerrechtliches Phänomen, welches durch die Rezeption in einem Rechtstext insoweit zum Rechtsbegriff mutiert. Infolgedessen ist ein solcher nach juristischen Grundsätzen zu behandeln, nicht nach den für den „Ur-Begriff“ maßstäblichen Kautelen (so sehr diese auch ihren Beitrag zur wirklichkeitsbezogenen Umschreibung des Rechtsbegriffs leisten können). Bes. anspruchsvoll ist dies, wenn (wie beim G.) ein Begriff mit philosophischen und theologischen Implikationen eng verwoben ist, diese aber im säkularen Verfassungsstaat nicht ohne Weiteres normativ zugrunde gelegt werden können.

Erstmals begegnet die G.s-Freiheit im Westfälischen Frieden, welcher den im konfessionell homogenen Territorium (cuius regio, eius religio) verbliebenen Andersgläubigen die Abhaltung der einfachen Hausandacht gewährleistete. Wurde damit in der Sache ein rudimentärer Aspekt der individuellen Glaubensfreiheit verbürgt, firmierten ab dem späten 18. und insb. im 19. Jh. Glaubens- und G.s-Freiheit vielfach als austauschbare Begriffe. Für die deutsche Verfassungsentwicklung rechnet die G.s-Freiheit seit der (gescheiterten) Paulskirchenverfassung 1848/49 zum festen Repertoire grundrechtlicher Gewährleistungen. Gleiches gilt in der zweiten Hälfte des 20. Jh. für die universalen wie regionalen Menschenrechtspakte (1948: AEMR der UNO; 1950: EMRK; 1966: IPbpR). Infolge der Universalisierung der Idee der Menschenrechte wie der Prozesse der Säkularisierung und Pluralisierung hat der Bezugspunkt der G.s-Freiheit seine frühere Eindeutigkeit verloren: Das G. beruht nicht mehr notwendigerweise auf einem religiösen, weltanschaulichen oder anderweitig konzipierten systematischen Fundament.

2. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Nach Art. 4 Abs. 1 GG ist die Freiheit des G.s unverletzlich. Speziell darf niemand gegen sein G. zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden (Art. 4 Abs. 3, 12a Abs. 2 GG). Da der Verfassungstext keinen Anhaltspunkt dafür enthält, was er unter G. versteht, sich aber nur das schützen lässt, was auch definiert werden kann, sah sich das BVerfG schon früh zu einer „juristischen“ Definition veranlasst, welche seitdem ganz überwiegend anerkannt ist. Demnach ist die vom GG gemeinte G.s-Entscheidung „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung […], die der Einzelne in einer bestimmten Lage für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“ (BVerfGE 12, 45 [55]). Grundrechtlich geschützt ist die Betätigung des G.s also dann, wenn vier Kriterien kumulativ vorliegen:

a) Individualität: da das G. eine höchstpersönliche Kategorie ist, kommt es allein auf die Perspektive des Einzelnen an, nicht auf ein „verobjektiviertes Durchschnittsgewissen“;

b) Moralität: das G. muss von ethisch-moralischen Überlegungen geprägt und geleitet sein; eine (wenngleich feste und hartnäckige) Überzeugung, die sich aus politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen speist, genügt hingegen nicht;

c) Existentialität: die vom G. gebildete Überzeugung muss derart wesentlich sein, dass ihr für die Persönlichkeit des Betreffenden eine existenzielle Bedeutung zukommt, sie also für die Konstituierung oder Dekonstituierung der Person bedeutsam ist;

d) Plausibilität: da infolge der eminent individuell-subjektiven Natur des G.s ein objektiver „Beweis“ der „Richtigkeit“ ausscheiden muss, hat der Betreffende jedenfalls darzulegen, von welchen moralischen Überzeugungen er sich leiten lässt und weshalb diese für ihn existentiell sind.

Auf die G.s-Freiheit können sich allein natürliche, nicht aber juristische Personen berufen (die Verweisungsnorm des Art. 19 Abs. 3 GG ist nicht anwendbar). Geschützt von Art. 4 Abs. 1 GG ist nicht allein die G.s-Bildung (forum internum), sondern ebenso die G.s-Betätigung und -Berücksichtigung (forum externum). Diese sind freilich auf die Person und den Verantwortungsbereich des Betreffenden bezogen wie beschränkt: Wegen des höchstpersönlichen Charakters der Kategorie G. kann der Einzelne für seine Person ihn treffende Zumutungen abwehren (klassisch: Nichtbeteiligung an Abtreibungen oder an der Produktion von Kriegsgütern) oder ihm geboten Erscheinendes realisieren. Ein Recht zur autonomen, vom G. geleiteten Disposition über Rechtsgüter Dritter oder gar der Allgemeinheit vermittelt die G.s-Freiheit hingegen nicht.

Bei der G.s-Freiheit handelt es sich um ein ohne geschriebenen Gesetzesvorbehalt gewährleistetes Grundrecht. Nach allg.en grundrechtsdogmatischen Kautelen sind Einschränkungen aber immer dann möglich, wenn diese auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und dem Schutz gleichrangiger Rechtsgüter dienen, nämlich den kollidierenden Grundrechten Dritter sowie anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Belangen.

3. Anwendungsfelder und Konfliktlösungen

Rechtliche Relevanz erlangt die G.s-Freiheit, wenn individuelle Überzeugung und allg. geltende Norm aufeinandertreffen. Praktisch relevante Fallgruppen sind die Kollision der G.s-Freiheit mit der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht (z. B. Konstellationen der – partiellen – Steuerverweigerung aus G.s-Gründen), der Vertragserfüllungspflicht (Konfliktlagen in Arbeitsverhältnissen), dem staatlichen Strafmonopol (Problematik des G.s-Täters) sowie allg. dem staatlichen Gewaltmonopol (etwa: Substituierung staatlicher Verfahren und Entscheidungen durch die eigene Überzeugung, so beim „Kirchenasyl“, oder Aktionen des „zivilen Ungehorsams“ zur Durchsetzung eigener politischer oder ähnlicher Ziele).

Die Konfliktlösung erfolgt jeweils im Einzelfall auf der Ebene des einfachen Rechts. Dieses wiederum ist, da nach der ständigen Rspr. des BVerfG die Grundrechte nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat sind, sondern eine in die gesamte Rechtsordnung ausstrahlende „objektive Wertordung“ konstituieren, seinerseits unter Würdigung des Gehalts der G.s-Freiheit auszulegen und anzuwenden. Rechtstechnisch erfolgt diese Einwirkung durch für Wertungen „offene“ Normen, wie die Generalklauseln des Zivil- sowie die entspr.en Kautelen (unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessen) des öffentlichen Rechts.

Die Kasuistik v. a. in der Rspr. ist nahezu unübersehbar. Als allg.e Leitlinien für eine fallbezogene Konfliktlösung lassen sich immerhin benennen: Ausschluss von reinen Bagatellbelangen (etwa: Begehren eines veganen Grundstückseigentümers auf Beseitigung eines Jagdhochsitzes), die von vornherein auf eigene Rechtsgüter beschränkte Dispositionsbefugnis (so können Angehörige der „Zeugen Jehovas“ für sich selbst eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnen, nicht aber bei ihren minderjährigen Kindern) und die Respektierung des staatlichen Gewaltmonopols. Dieses bildet erst die Grundlage für die Garantie der G.s-Freiheit und steht nicht unter ihrem Vorbehalt.