Geschäftsordnung

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G.en (englisch rules of procedure, standing orders, französisch règlement) sind autonome Regelungen kollegialer Gremien und Institutionen betreffend ihr Verfahren und ihre innere Organisation. Sie werden typischerweise, aber keinesfalls zwangsläufig als Kodifikation in Form eines zusammenhängenden Textes verschriftlicht. Zwar ist die Abstimmung des Geschäftsgangs in allen nicht rein monokratischen Institutionen mit selbstständigen Entscheidungsbefugnissen, also etwa auch in jedem Verein, eine unabweisbare Notwendigkeit. Grundsätzliche Bedeutung erlangt das G.s-Recht aber vornehmlich dort, wo es die konflikthafte Austragung politischer Antagonismen innerhalb repräsentativer Organisationen regeln soll. Paradigmatische Bedeutung gewinnt die G. damit für das Binnenrecht der Parlamente, aber auch anderer Verfassungsorgane, in denen sich politisch Mehrheit und Minderheit gegenüberstehen.

Die Entstehung der parlamentarischen Rechtsform G. ist eng mit der Entstehung moderner parlamentarischer Repräsentation im 18. Jh. in England, Frankreich und den USA und mit der Theorie des freien Mandats verbunden: Der aus freien und gleichen Abgeordneten bestehenden gesetzgebenden Kammer kann die Art ihrer Deliberation und Entscheidungsfindung nicht vorgegeben, sondern grundsätzlich nur selbst zur autonomen Regelung aufgegeben sein. Je nach der Stellung des Parlaments in der Verfassungsordnung und den vorausgesetzten Begriffen des Organisationsrechts haben sich z. T. sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Rechtscharakter des G.s-Rechts herausgebildet, die aber ausnahmslos vom historischen Vorbild des englischen Unterhauses abhängig sind. Die Vorstellung eines Selbstorganisationsrechts kollegialer Verfassungsorgane ist allen demokratischen Verfassungen gemeinsam.

Seine Konturen gewinnt der rechtliche Begriff zumal der parlamentarischen G. typischerweise durch die Abgrenzung zur Verfassung, zum Gesetz sowie zu anderen Rechtsformen des Binnenrechts. Das Verfassungsrecht zieht dabei den Rahmen, innerhalb dessen das Selbstorganisationsrecht ausgeübt werden kann, einerseits durch formelle Ermächtigungen (z. B. Art. 40 Abs. 1 S. 2, Art. 65 S. 4 GG), andererseits durch ihre Organisationsregelungen überhaupt, die allemal nicht zur Disposition der G. stehen. Das BVerfG nimmt seit jeher ohne bes. Ermächtigung eine verfassungsunmittelbare G.s-Autonomie für sich in Anspruch. Schwieriger ist die Abgrenzung zum Gesetzesrecht. Die verbreitete Unterscheidung zwischen Innenrecht und Außenrecht, die die G. mit dem internen Recht der parlamentarischen Körperschaft identifiziert und vom materiellen Begriff des Gesetzes unterscheidet, hat allenfalls eine begrenzte und nur beschreibende Funktion, da sie zusätzlicher Kriterien zur Bestimmung von „innen“ und „außen“ bedarf. Die deutsche Dogmatik unterscheidet daher nach dem Inhaber der Regelungsbefugnis: Als Gesetzgeber wird das Parlament als Staatsorgan tätig, als G.s-Geber hingegen bindet es sich, als Körperschaft, selbst. Der Unterschied zeigt sich am plastischsten zum einen an der Möglichkeit der G.s-Durchbrechung (§ 126 GOBT), d. h. an ihrer Nichtanwendung im Einzelfall mit qualifizierter Mehrheit, zum anderen am Diskontinuitätsprinzip, demzufolge die Geltungsdauer der G. an den Bestand der Körperschaft gebunden ist, mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages also endet.

Typischer Regelungsgegenstand der G. ist zunächst die Aufbauorganisation, also etwa die Gliederung des Parlaments in Fraktionen, ferner die Einrichtung von Leitungsorganen und Ausschüssen. Hervorragende Bedeutung hat dabei regelmäßig der Modus ihrer personellen Besetzung. Das G.s-Recht regelt ferner die wichtigsten Verfahren, d. h. die Behandlung von Anträgen durch das Plenum und die Unterorgane. Dazu gehören verfassungsrechtlich gering vorgezeichnete Gebiete wie das parlamentarische Fragewesen, aber auch die Konkretisierung der Regelungen über das Gesetzgebungsverfahren einschließlich der Festlegung der Tagesordnung, der Beschlussquoren oder Zahl der Lesungen. Der G. fällt damit die für die parlamentarische Demokratie entscheidende rechtliche Koordinierung von Mehrheit und Minderheit zu. Mit der Gestaltung und Anwendung der G. steht und fällt damit die Wirksamkeit parlamentarischer Opposition durch Fraktionen, Gruppen und einzelne Abgeordnete. Ein dritter Regelungsbereich ist die <I>parlamentarische Disziplin. Hierbei geht es heute freilich im Schwerpunkt weniger um Maßnahmen zur Abwehr von Störungen als um verhaltensbezogene Anforderungen an Mandatsträger, die weit in den persönlichen Bereich vordringen. Unter dem Gesichtspunkt der „Transparenz“ sind G.en vielfach um Verhaltensregeln (z. B. in § 44a AbgG i. V. m. Anlage zur GOBT) ergänzt worden, die v. a. finanzielle Offenlegungspflichten begründen und als Annäherung des freien Mandats an einen Amtsträgerstatus nicht unproblematisch sind.

Die Formentypik des G.s-Rechts wird heute vielfach relativiert durch das Ineinandergreifen von G., Gesetz und sonstigen rechtlichen Instrumenten. Die Auffassung, das Parlament dürfe seine inneren Angelegenheiten allein durch G. regeln, ließ sich aus vielen Gründen nicht durchhalten. So gestand das BVerfG dem Bundestag in einem Grundsatzurteil (BVerfGE 70, 324) ein Rechtsformenwahlrecht zwischen Gesetz und G. zu. Seither hat insb. das deutsche Europaverfassungsrecht wegen Art. 23 Abs. 3 S. 3 und Abs. 7 GG die Vergesetzlichung des Parlamentsrechts weiter vorangetrieben. Im institutionellen Recht der EU, deren politische Organe durch die Verträge ausnahmslos mit einer G.s-Autonomie ausgestattet sind, treffen die unterschiedlichen parlamentsrechtlichen Überlieferungen der Mitgliedstaaten aufeinander, weshalb sich die Vorstellungen über Reichweite und Funktion einer G. z. T. erheblich von den deutschen unterscheiden. Auch kennt das Unionsrecht keine formellen Organisationsgesetze im engeren Sinne, weshalb interinstitutionelle Vereinbarungen, d. h. organisations- und verfahrensrechtliche Vereinbarungen zwischen den Organen, in der politischen Praxis eine herausragende Bedeutung erlangt haben.