Gerechtigkeit

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  1. I. Philosophie
  2. II. Gerechtigkeit in Theologie und christlicher Sozialethik

I. Philosophie

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1. Einführung

Urspr. bedeutet G. im Deutschen lediglich die Übereinstimmung mit dem jeweils geltenden Recht. Bis heute heißt die dem Recht dienende Behörde, das Gerichtswesen, gemäß dem lateinischen Wort für G. Justiz. Ohne die enge Beziehung zum Recht aufzugeben, wird die G. seit langem umfassender, zugl. stärker normativ, näherhin moralisch verstanden.

In den archaischen Kulturen hat die G. eine göttliche Herkunft, die im moralischen Rang der G. (Moral), im Aspekt ihrer Unverfügbarkeit, auf säkulare Weise fortlebt. Zunächst in ihrem bescheidenen, später dann anspruchsvolleren Verständnis, ist die G. ein Gegenstand menschlicher Sehnsucht und menschlicher Forderung zugl. Dass in der Welt G. herrsche, ist ein basales Verlangen, das die Menschheit über alle Kulturen- und Epochengrenzen hinweg eint. Über ihren Gehalt wird allerdings heftig gestritten. Für Zeiten der kulturellen Globalisierung braucht es einen kulturübergreifenden, globalisierungsfähigen Begriff.

Das Verlangen nach G. setzt voraus, dass man soziale Beziehungen unterschiedlich gestalten und die jeweilige Gestaltung den Betroffenen mindestens teilweise zurechnen kann. G. gibt es nicht unter Tieren, denn sie ist an die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit des Menschen gebunden. Allerdings kann es G. gegenüber Tieren geben.

2. Zwei maßgebliche Denker: Platon und Aristoteles

Im antiken Griechenland wird die G. zum Gegenstand einer wissenschaftlich-philosophischen Reflexion. In ihr muss sich die G. sowohl gegen die ältere, aristokratische Moral der agonal verstandenen Ehre als auch gegen die G.s-Skepsis seitens der Sophisten durchsetzen. Dass es noch keinen Juristenstand gibt, begünstigt ein nicht auf das Recht eingeschränktes G.s-Verständnis. Einen ersten Höhepunkt erreicht die abendländische Philosophie der G. im ältesten der G. gewidmeten Werk, in Platons Dialog „Politeia“ (Staat) mit dem Untertitel „Peri dikaiou“ („Über das/den Gerechten“). Für Platon ist die G., auch wenn sie gelegentlich als „göttlich“ qualifiziert wird, kein religiöses, sondern ein säkulares Phänomen, dessen „metaphysischen“ Hintergrund die Idee des Guten bildet. Als ein Ordnungsprinzip sowohl für die Gesellschaft als auch für den einzelnen Menschen, für seine persönlichen Kräfte, die sog.en Seelenteile, ist sie v. a. für die politische Führungselite, die Wächter, noch mehr für die Philosophenkönige, unverzichtbar. Sie teilt „jedem das Seine“ zu, aber nicht gewisse Güter, sondern Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche. Zusammen mit der Besonnenheit, der Tapferkeit und der Weisheit bildet die G. das seither kanonische Quartett der Haupt- oder Kardinaltugenden.

Der zweite Höhepunkt des abendländischen G.s-Denkens, das fünfte Buch von Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“, geht insofern über Platons Säkularisierung hinaus, als es auch ohne Metaphysik auskommt. Aristoteles unterscheidet die G. als ganze Tugend, von Thomas von Aquin allg.e G. (iustitia generalis) genannt, eine umfassende Rechtschaffenheit, von der für wohlbestimmte Lebensbereiche zuständigen bes.n G. (iustitia particularis). In ihrem Rahmen führt er weitere Unterscheidungen ein, die mit den lateinischen Bezeichnungen die abendländische G.s-Debatte beherrschen: Die iustitia distributiva, die Verteilungs-G., betrifft Fragen, bei denen die Gefahr der Unersättlichkeit droht, Fragen von Ehre, Geld oder Selbsterhaltung. Die komplementäre, für Ordnung und Austausch zuständige iustitia commutativa regelt einerseits sowohl den freiwilligen, für das Zivilrecht mit dem Geschäftsverkehr (Kauf, Verkauf, Darlehen usw.) zuständigen Tausch (Tausch-G.) als auch, jetzt als wiedergutmachende oder korrektive G. (iustitia correctiva), den im Strafrecht stattfindenden unfreiwilligen Tausch.

3. Begriff der Gerechtigkeit

Nach liberaler Ansicht, nachdrücklich David Hume, gehört die Knappheit zu den Anwendungsbedingungen der G. In Wahrheit braucht es sie im gesamten Bereich der menschlichen, bald von Kooperation, bald Konkurrenz bestimmten Beziehungen. Mit der G. werden sie einer unbedingt gültigen Verbindlichkeit unterworfen, die wegen ihres moralischen Ranges weder durch technische, funktionale (Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit usw.) oder pragmatische Verbindlichkeiten wie die des Wohlergehens außer Kraft gesetzt noch gegen sie ausgehandelt werden darf. Zulässig ist allein, konkurrierende G.s-Forderungen gegeneinander abzuwägen.

Die G. ist nicht für die gesamte Sozialmoral, sondern nur jenen kleinen Teil, die sog.en Rechtspflichten bzw. die Rechtsmoral, zuständig, deren Anerkennung die Menschen einander schulden. Während man bei Verstößen gegen die verdienstlichen Mehrforderungen, die Tugendpflichten wie Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Wohltätigkeit, enttäuscht ist, antwortet man auf Verstöße gegen die G. mit Empörung und Protest. Die Befolgung von Tugendpflichten kann man nur erbitten, die der G. dagegen verlangen.

4. Missbrauchs- und Verschiebungsgefahr

Wegen des bes.n Ranges der G. droht eine Verschiebungsgefahr, die, bewusst eingesetzt, auf Missbrauch hinausläuft: Man erklärt zu einer geschuldeten Leistung, was entweder eine geringere, etwa nur pragmatische Verbindlichkeit ist oder zur verdienstlichen Mehrleistung von Hilfsbereitschaft oder Wohltätigkeit gehört. Eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung wie der Staat ist aber im Wesentlichen nur für G. zuständig; Mehrleistungen sind freiwillig zu erbringen.

5. Politische und personale Gerechtigkeit

Das Zusammenleben hat zwei Seiten, denen zwei Begriffe der G. entsprechen. Im institutionellen („objektiven“) Verständnis betrifft die G. die sozialen Institutionen und Systeme wie Ehe und Familie, Wirtschaft, Bildungswesen, insb. Recht und Staat, deren gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt. Darüber hinaus ist sie zuständig für die Beziehungen der Staaten: internationale, transnationale und globale G., und die der Generationen zueinander: intergenerationelle G., auch für das Verhältnis zur Umwelt: ökologische G. Nicht zuletzt kommt es auf eine G. in der Erinnerung, auf anamnetische G., an.

Im zweiten, personalen („subjektiven“) Verständnis ist die G. jene Lebenshaltung zu den Mitmenschen, die weder auf freier Zuneigung beruht noch über das einander Geschuldete hinausgeht. Der gerechte („rechtschaffene“) Mensch erfüllt die Forderung der institutionellen G. nicht bloß gelegentlich und aus Angst vor Strafen, sondern freiwillig und beständig („habituell“). Als ein Persönlichkeitsmerkmal, als moralische bzw. sittliche Tugend, bewährt sie sich dort, wo man trotz größerer Macht und Intelligenz andere nicht zu übervorteilen sucht oder wo man auch dann sein Tun und Lassen an der G.s-Idee ausrichtet, wenn das geltende Recht hinter ihren Anforderungen zurückbleibt, die Durchsetzung unwahrscheinlich ist oder man dank größerer Macht oder Intelligenz andere übervorteilen könnte.

Während die Antike beide Seiten erörtert, interessiert sich das Mittelalter vornehmlich für die personale G., in den sog.en Fürstenspiegeln für die G. der Herrscher. Der spätere politische Liberalismus verlässt sich lieber auf die G. von Institutionen. Ein gewisses Maß an personaler G., an G.s-Sinn, ist aber für das Funktionieren rechtsstaatlicher Demokratien unerlässlich. Auf seiten der Bürger tritt er dem Abgleiten des Gemeinwesens in einen offensichtlichen Unrechtsstaat, wo erforderlich in Form bürgerlichen Ungehorsam, entgegen, sorgt stattdessen für mehr wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische G. Und den Amtsträgern hilft es, ihrem Amtseid (Eid) gemäß korruptionsfrei dem ganzen Volk, nicht nur der eigenen Klientel zu dienen. Diese Aufgabe hat eine lange Tradition: Schon der altbabylonische Herrscher Hamurapi versteht sich als „König der G.“

6. Prinzipien der Gerechtigkeit

Gemäß dem engen Zusammenhang mit dem Recht, in Übereinstimmung mit der interkulturell gültigen Goldenen Regel und in Verbindung mit dem Gedanken der Wechselseitigkeit bildet den Kern der G.s-Vorstellungen das Prinzip der Gleichheit bzw. das Gleichheitsgebot: Personen in gleichen Umständen sollen gleich handeln und gleich behandelt werden. Nach der negativen Formulierung, dem Willkürverbot, ist jede Ungleichbehandlung, die nicht aus ungleichen Sachverhalten folgt, ungerecht. Gemäß der positiven Formulierung ist die Grundordnung einer politischen Gemeinschaft wesentlich als gerecht zu bewerten, wenn das Gleichheitsprinzip alle drei Gewalten des Staates verfassungsrechtlich bindet.

Um dem Gleichheitsprinzip zu genügen, muss das geltende Recht erstens aus Bestimmungen bestehen, die nicht Einzelpersonen und Einzelfälle als solche, sondern Typen von Fällen (Einkommen, Diebstahl, Totschlag usw.) mit Hilfe gewisser Kriterien regeln. Rechtsregeln sind zweitens nach Maßgabe ders.n Regeln zweiter Ordnung zu gewinnen, nach den in der Verfassung niedergelegten Verfahrensregeln über die Entstehung von Gesetzen sowie nach normativen Leitprinzipien, etwa den Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats. Diese Prinzipien lassen sich aus einer Vermittlung der Anwendungsbedingungen der G. (Kooperation und Konflikt: deskriptives Moment) mit dem höchsten Kriterium der Sittlichkeit (normatives Moment) und grundlegenden Sachgesetzlichkeiten begründen. Erkennt man mit Immanuel Kants kategorischem Imperativ die Universalisierbarkeit als höchstes Kriterium an, dann ergibt sich als G.s-Prinzip die Bewältigung von Kooperations- und Konfliktverhältnissen nach streng allg.en und für alle gleichen Grundsätzen. Drittens müssen Exekutive und Rechtsprechung die Gesetze und Erlasse unparteiisch, ohne Ansehen der Person (ihres Geschlechts, ihrer Religion, Rasse, sozialen oder wirtschaftlichen Stellung), anwenden: formale G. In der bildenden Kunst wird die G. deshalb mit verbundenen Augen dargestellt, was der maßgebliche G.s-Theoretiker der letzten Jahrzehnte, John Rawls, mit dem Schleier des Nichtwissens auf die Begründung der G.s-Prinzipien erweitert.

Die nähere Bestimmung der G. ist umstritten. Bei dem vielerorts vorherrschenden Gesichtspunkt – für Kritiker ein Dogma der internationalen G.s-Debatte –, der Verteilung von Rechten und Pflichten, Gütern und Lasten (austeilende oder distributive G.), gibt es v. a. drei Maßstäbe: Jedem das Gleiche, weil nach seinem Wert als Mensch überhaupt; jedem nach seiner Leistung oder Leistungsfähigkeit; jedem nach seinen Bedürfnissen. Gemäß der Idee der unantastbaren Menschenwürde und der Unverletzlichkeit der Person in Bezug auf die Grundrechte steht jedem das Gleiche zu, daher Menschenrechte: unveräußerliche Rechte jedes Menschen. Soziale Positionen und wirtschaftliche Güter dagegen sollen nach Leistungs-, nach Bedürfnisgesichtspunkten oder einer Verbindung beider verteilt werden. (Der individuelle Lohn richtet sich meist nach der Leistung, die Sozialhilfe nach Bedürftigkeit, die Steuern nach beidem: nach der Höhe des Lohns, aber auch nach Familienstand und Kinderzahl). Die genauen Regeln zu bestimmen gehört in den Aufgabenbereich der Politik, für die die Idee der G. eine normativ-kritische Funktion hat.

Allg. lässt sich sagen, dass zur unantastbaren Menschenwürde auch die elementare Existenzsicherung gehört, hier deshalb der Bedürfnisaspekt den Vorzug verdient, während die Ausgestaltung der eigenen Existenz der Freiheit des einzelnen zu überlassen ist. Dabei sind alle Güter, Positionen und Ämter grundsätzlich für jeden offenzuhalten, und die Ordnung des wirtschaftlich-sozialen Systems hat nicht dem Vorteil gewisser Gruppen, sondern dem Wohlergehen aller zu dienen.

7. Politische Gerechtigkeit: Legitimation und Limitation von Recht und Staat

G.s-Kontroversen beginnen nicht erst bei der Frage, unter welchen Bedingungen eine Rechts- und Staatsordnung gerecht ist: die G. als ein Recht und Staat normierendes Prinzip. Zuvor ist zu untersuchen, warum man überhaupt zwangsbefugte Freiheitseinschränkungen auf sich nehmen soll, statt im strengen Sinn anarchisch, herrschaftsfrei zu leben: die G. als Recht und Staat konstituierendes Prinzip.

Für die systematisch vorrangige Frage gibt es zwei Grundmuster. Das auf Platon und Aristoteles zurückgehende Kooperationsmodell ist durch neuere anthropologische und institutionstheoretische Einsichten weiterzuentwickeln: Als eine umfassende und in sich vielfältig differenzierte Institution erlaubt der Staat seinen freien und gleichen Bürgern nicht bloß ein Überleben, überdies ein angenehmes und sichereres Leben, sondern darüber hinaus Chancen der Selbstverwirklichung. In dem schon bei Aristoteles anklingenden Konfliktmodell wird das Kooperationsmodell ergänzt, darüber hinaus die Legitimationsfrage verschärft. Die sog.en Vertragstheorien eines Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, I. Kant, J. Rawls führen ein Gedankenexperiment durch, das von der Handlungsfreiheit ausgeht und probeweise freie Personen annimmt, die ohne Recht und Staat zusammenleben (sog.er Naturzustand). Weil bei dieser Annahme jeder seine Zwecke mit beliebigen Mitteln verfolgen kann, hat er zwar ein „Recht auf alles“. Ihm fehlt aber jede Anerkennung und öffentliche Sicherung von Handlungsfreiheit, womit das „Recht auf alles“ sich als kein Recht auf irgendetwas, als „Recht auf nichts“, entpuppt. Eine uneingeschränkte Handlungsfreiheit ist in sozialer Perspektive unmöglich. Der Standpunkt der G. fordert die unvermeidbaren Freiheitseinschränkungen nicht gemäß den jeweiligen Macht- und Drohpotentialen vorzunehmen, auch nicht die einen zu privilegieren, um andere zu diskriminieren. Die politische G. besteht deshalb in der streng gleichen Einschränkung von Freiheit zum Zweck ihrer allseitigen Sicherung. Dieses Prinzip nimmt den überlieferten Grundgehalt der G.s-Idee auf, die strenge Unparteilichkeit, die ohne Ansehen der Person urteilt.

Im Gegensatz zum Gedanken der Herrschaftsfreiheit (Anarchie, Anarchismus) erweisen sich hier Recht und Staat als grundsätzlich legitim. Im Gegensatz zu einem strengen Rechtspositivismus dürfen sie sich aber nicht beliebig entwickeln, sondern sind auf das Prinzip der gleichen Freiheit verpflichtet. Die Legitimation von Recht und Staat ist daher nur als gleichzeitige Limitation möglich: Die notwendigen öffentlichen Gewalten sind nur so weit gerechtfertigt, wie sie für eine Gemeinschaft freier Personen unerlässlich, dabei für jeden einzelnen vorteilhaft sind. Sie entsprechen einer freien Selbstbeschränkung, also der Rechtsfigur des (Gesellschafts-)Vertrags.

8. Mittlere Prinzipien der Gerechtigkeit: Menschenrechte

Die universalen Bedingungen der Freiheitskoexistenz, auf die das Prinzip der gleichen Freiheit das Zusammenleben verpflichtet, belaufen sich, vom einzelnen Rechtssubjekt her gesehen, auf Menschenrechte, nämlich auf angeborene, natürliche (Naturrecht), unveräußerliche und unverletzliche Rechte, die in systematischer Hinsicht primär jedem Menschen gegen seine Mitmenschen, sekundär gegen den Staat zukommen. Auf ihre Institutionalisierung und Positivierung in der Form von Grundrechten oder fundamentalen Staatszielen darf weder ein Gemeinwesen noch eine internationale Rechtsordnung verzichten. Das gilt sowohl für die persönlichen Freiheitsrechte wie den Schutz von Leib und Leben, von Eigentum, einem guten Namen, Meinungs-, Religions-, Wissenschaftsfreiheit usw. als auch für die politischen Mitwirkungsrechte (aktives und passives Wahlrecht usw.: Beteiligungs-G.) oder, als Staatsziele formuliert, für die Freiheit und die Demokratie.

Eine politische Gemeinschaft, die es mit den Freiheits- und den Mitwirkungsrechten ernst meint, muss sich auch um jene generell gültigen empirischen Bedingungen kümmern, ohne die man Freiheits- und Mitwirkungsrechte überhaupt nicht oder nur erschwert realisieren kann. Um die Fähigkeit zu erwerben, ein eigenes Leben zu führen, braucht es Nahrung, Kleidung und Wohnung, ferner eine Zuwendung, die Geborgenheit, Welt- und Selbstvertrauen ermöglicht, nicht zuletzt Chancen für Bildung und Ausbildung. Ihretwegen zählen zu den unveräußerlichen Rechten gewisse Sozial- und Kulturrechte (Teilhabe-G.), ohne dass diese die Form subjektiver öffentlicher Rechte annehmen müssten.

Während auf der Ebene der Menschenrechte die G. „jedem das Gleiche“ zuspricht, sind auf der nachgeordneten Ebene Unterschiede unvermeidbar und schon deshalb legitim, weil die Freiheitsrechte es jedem erlauben, sein Leben frei zu gestalten. Hier verbietet die G., negativ formuliert, eine willkürliche Behandlung und fordert, positiv, eine Gleichheit, allerdings keine arithmetische, sondern eine proportionale. Bei der elementaren Existenzsicherung verdient der Bedürfnisaspekt den Vorzug, während die Arbeits- und Berufswelt nach Leistungsgesichtspunkten einzurichten ist. Beim Tausch von Gütern, Leistungen und Geld wiederum soll eine Gleichwertigkeit herrschen.

Eine öffentliche Rechtsordnung ist gerecht, wenn sie Ungerechtigkeit bestraft (ausgleichende oder retributive G.). Dabei darf das Strafmaß weder beliebig sein, noch sich lediglich nach Abschreckungskriterien richten, denn dadurch würde der Straftäter zum Instrument für die Gesellschaft degradiert. Eine gerechte Strafe hängt zuerst von der Schwere der Rechtsverletzung und dem Maß der Zurechnungsfähigkeit ab. Erst subsidiär sind Aspekte der Abschreckung, Besserung und Wiedereingliederung legitim. Schließlich fordert die Idee der G., verschuldete Schäden in angemessener Höhe wiedergutzumachen.

9. Strategien politischer Gerechtigkeit

Auch mittlere G.s-Prinzipien wie die Menschenrechte gebieten kaum ein konkretes Tun oder Lassen. Sie haben nicht die Bedeutung idealer Pläne oder konkreter Utopien, aus denen rechtliche Normen oder institutionelle Strukturen direkt abgeleitet werden könnten. Als erst generelle G.s-Kriterien sind sie Direktiven für die Urteilskraft, Bewertungs- und Gestaltungsprinzipien, nach deren Maßgabe unter Kenntnis der Lebensverhältnisse und einschlägigen Sachgesetzlichkeiten die politisch-sozialen Verhältnisse wahrgenommen und eingerichtet oder weiterentwickelt werden sollen. Schon weil die Situationsfaktoren in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausfallen, überdies die Sachgesetzlichkeiten unterschiedlich eingeschätzt werden, nicht zuletzt weil die G.s-Idee, insb. ihre Aspekte der Sozialstaatlichkeit und der Teilhabe-G., der Politik einen nicht geringen Spielraum lässt, führt diese „Strategien der politischen Gerechtigkeit“ (Höffe 2003: 456) genannte Aufgabe nicht zu einer identischen Gestaltung der Rechts- und Staatsverhältnisse in aller Welt.

Für die allfälligen politischen Diskurse will Jürgen Habermas im Rahmen seiner Diskurstheorie (Diskursethik) die G. auf Rechtfertigbarkeit verkürzen. Die Rechtfertigungsdiskurse setzen aber eine sie orientierende G.s-Vorstellung voraus, deren Kern, etwa den Schutz von Leib und Leben und die Anerkennung aller Betroffenen als gleichberechtigt sie schon praktizieren müssen, daher den Rang von „Präjudizien des Diskurses“ hat (Höffe 1989: 531).

10. Soziale Gerechtigkeit

Obwohl die Theorie der G. seit Aristoteles mehrere G.en kennt, ist ihr der Ausdruck „soziale G.“ bis weit in die Neuzeit unbekannt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. taucht sie in der katholischen Soziallehre auf, erhält in den Sozialenzykliken der Päpste Leo XIII. („Rerum novarum“, 1891) und Pius XI. („Qudragesimo anno“, 1931) eine prominente Rolle, wird vom reformatorischen Theologen Emil Brunner aufgegriffen, vom Ökonomen und Sozialphilosophen Friedrich von Hayek aber angesichts einer seiner Ansicht nach ausufernden Sozialstaatlichkeit scharf kritisiert: Die Illusion der sozialen G. Heute hat der Ausdruck zwei Bedeutungen. In einem unspezifischen Sinn verstärkt „sozial“, was die G. ohnehin besagt: Es geht um die einander geschuldete Sozialmoral. In einem spezifischen Sinn befasst sich die soziale G. mit jenen Phänomenen wie Arbeitslosigkeit, Schutzlosigkeit bei Krankheit und im Alter, mangelnde Bildung, Armut, sogar Hunger, kurz: Verelendung, die im 18. und 19. Jh. v. a. die Arbeiterschaft in den größer werdenden Städten und einen erheblichen Teil der Landbevölkerung heimsuchten. Hinzukommen als neue soziale Frage Probleme der G. zwischen den Generationen, einschließlich der ökologischen G. Sofern diese Phänomene auf gesellschaftliche Veränderungen zurückgehen, die wie etwa die Industrialisierung, die Verstädterung und die Spezialisierung der Arbeit, später die Globalisierung, einen Komplex von Chancen und Risiken hervorbringen, die per Saldo als kollektiv vorteilhaft erscheinen, einige Gruppen aber schlechter stellt, gebietet die G. Ausgleich und Entschädigung.

Gemäß einem weiteren Argument werden im Verlauf der genannten zivilisatorischen Entwicklungen wichtige bisher wirksame Solidargemeinschaften, primäre Institutionen wie Familien und Großfamilien oder Sippen bzw. Klans, auch sekundäre Solidargemeinschaften wie Zünfte und Kommunen in ihrem Eigenrecht und Eigengewicht sowie ihrer Finanzausstattung entmachtet. Das Gemeinwesen hat dafür eine Entschädigung in Form einer Ausfallbürgschaft zu leisten. indem es jene Aufgaben übernimmt, die die entmachteten Institutionen entweder gar nicht mehr oder nur noch unzureichend zu erfüllen vermögen.

Auch wenn der Sozialstaat an seiner Oberfläche als eine Solidargemeinschaft oder als eine Gemeinschaft der sog.en Verteilungs-G. erscheint, legitimiert er sich in seinem Kern auf der empirischen Seite aus veränderten Gesellschaftsverhältnissen und auf der normativen Seite von der ausgleichenden G. her.

Gerechtigkeitsgeboten ist keine bevormundende Fürsorge, sondern eine „Hilfe zur Selbsthilfe“, die teils in Form von Sozialversicherungen, teils über eine Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik möglichst vielen Menschen die Chancen für eine die Berufsfähigkeit einschließende tätige Selbstverantwortung ermöglicht. Weil es Unterschiede der Begabungen und des Engagements gibt, verlangt aber die soziale G. keine Ergebnisgleichheit.

Nach der Befähigungs-G. geht es um die Befähigungen (capabilities), die ein Mensch zur erfolgreichen Gestaltung seines Lebens braucht (Capabilty Approach).

Andere Ausgleichs- und Entschädigungsaufgaben ergeben sich aus gravierenden Unrechten der Vergangenheit auf der internationalen, sogar globalen Ebene, etwa aus Sklaverei, Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit, aus Kolonialisierung und Imperialismus sowie einer jahrhundertelangen Ungleichbehandlung der Frau. Den Ausgleich schulden freilich die jeweils verantwortlichen Gemeinwesen. Die Hilfe seitens anderer wohlhabenderer Länder fällt schwerlich unter die soziale G.

Vom Standpunkt der G. ist der Gedanke eines Grundeinkommens bedenklich, das jeder unabhängig von seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage erhalte, der sog.e Bürgerlohn. Nach einem Kernelement der G., der Wechselseitigkeit, verdient man nicht für das bloße Bürgersein einen pekuniären Lohn, sondern erst für einen Beitrag für das Gemeinwesen. Für einen Bürgerlohn, der den Namen verdient, bedarf es einer komplementären Bürgerarbeit.

11. Skepsis gegen Gerechtigkeit und Gegenskepsis

Gegen den Standpunkt der G. herrschen vier Kritiklinien vor. Mit dem Argument „andere Länder, andere Sitten und G.s-Vorstellungen“ bestreitet der Relativismus die Möglichkeit einer globalisierungsfähigen G.s-Idee. Der Rechtspositivismus in seiner bescheidenen Form erklärt für die Rechtswissenschaft, um eine autonome Disziplin zu sein, müsse sie sich von Philosophie und Politik unabhängig machen, zu diesem Zweck das positiv geltende Recht vom moralisch gebotenen, überpositiven Recht begrifflich trennen. Den Standpunkt der G. lehnt erst ein radikaler Rechtspositivismus ab, der das gesamte postive Recht ohne ein Element von G. begründen will. Dagegen spricht, dass die (legitime) Zwangsbefugnis einer Rechtsordnung, um von der (illegitimen) organisierten Verbrechens („Mafia“) unterscheidbar zu sein, Rechtsgüter wie Leib und Leben, Eigentum und Ehre („guter Name“), nicht zuletzt Grund- und Menschenrechte schützen muss, die jedem einzelnen Betroffenen zugute kommen. Dieses Element von G. beläuft sich auf eine das Recht definierende, zugl. das Recht konstituierende G.

Nach dem soziologischen Systemtheoretiker Niklas Luhmann ist das Recht in der Neuzeit von überpositiven Elementen vollständig frei und deshalb zu einem vorher unbekannten Maß an Veränderung, zu einer „Institutionalisierung der Beliebigkeit“ (Luhmann 1969: 28), fähig geworden. Wahr ist, dass außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit das moderne Recht lediglich im Rahmen weitreichender G.s-Vorgaben wie den Freiheitsrechten, der Volkssouveränität und der unabhängigen Gerichtsbarkeit, auch der Sozialstaatlichkeit und neuerdings dem Umweltschutz stattfindet.

Seit ihrem Begründer, Jeremy Bentham, hat die Ethik des zu maximierenden Kollektivwohls, der Utilitarismus, Schwierigkeiten mit der G., deren Überwindung auch John Stuart Mill nicht gelingt. Der Utilitarismus erlaubt nämlich berechtigte Ansprüche, selbst die Grund- und Menschenrechte zu verletzen, sofern es dem Kollektivwohl dient, weshalb ihm Karl Marx und Friedrich Engels eine „exploitation de l’homme par l’homme“ (MEW 3: 394) vorwerfen.

12. Verfahrensgerechtigkeit

Verbindliche Entscheidungen benötigen Verfahren. Deren Elemente, die Zuständigkeiten, Abläufe und Formen, müssen, um selbst bei unangenehmen Entscheidungen alle Beteiligten zu überzeugen, G.s-Charakter haben. Da die maßgeblichen Verfahren alle Betroffenen streng gleich behandeln, erfüllen sie unstrittig das G.s-Erfordernis, weshalb sie von allen Kulturen anerkannt werden. Die Verfahrens-G., die G. entweder im Verfahren oder durch Verfahren, gehört zum G.s-Erbe der Menschheit und ist ein starkes Gegenargument gegen die These eines puren G.s-Relativismus:

Bei der ersten Art, der reinen Verfahrens-G., liegt die G. im Verfahren selbst. Beim Würfeln, Ziehen eines Loses und Zählen von Stimmen von Abstimmungen gibt es kein verfahrensunabhängiges G.s-Maß für die Ergebnisse, so dass sie nicht bloß subsidiär, sondern originär gerecht sind. Bei der zweiten vollkommenen G. gibt es sowohl einen verfahrensunabhängigen Maßstab für ein gerechtes Ergebnis als auch ein annähernd sicheres Verfahren, um dieses zustandezubringen: Wenn bei der Aufteilung einer Gütermenge, bspw. eines Kuchens, eine Gleichbehandlung als gerecht gilt, dann sorgt der Grundsatz „Wer teilt, erhält das letzte Stück“ für eine ziemlich gewisse Gleichbehandlung.

Bei der dritten, der im Recht und im Staat vorherrschenden unvollkommenen Verfahrens-G. gibt es keine Verfahren, die ein gerechtes Ergebnis ziemlich sicher zustande bringen. Hier herrscht, was prozedurale Rechts- und Demokratietheorien gern verdrängen, keine originäre, bestenfalls eine subsidiäre Legitimation. Bei Strafprozessen bspw. fordert die G. zwar nur Schuldige und diese nach Maßgabe ihrer Schuld zu bestrafen. Offensichtlich gibt es kein Verfahren, um Justizirrtümer und Fehlbestrafungen zu verhindern, wohl aber hilfreiche Grundsätze, etwa „Man höre auch die andere Seite“ und „Niemand sei Richter in eigener Sache“. Hilfreich sind ferner Prozessforderungen samt prozeduralen Fristen, die Öffentlichkeit des Verfahrens und die Möglichkeit von Berufung und Revision.

Die Anwendung einer allg.en Rechtsregel kann in außergewöhnlichen Einzelfällen zu offensichtlich nicht gerechten Entscheidungen führen. Hier fordert das seit Aristoteles vertretene Korrekturprinzip zur G., die Billigkeit, vom Buchstaben des geltenden Rechts abzuweichen, um den außergewöhnlichen Umständen gerecht zu werden.

13. Anamnetische Gerechtigkeit

Die G.s-Forderung nach Unparteilichkeit gilt auch für das Geschichtsbewusstsein, das deshalb einer anamnetischen G. bedarf: Nur ein Weltgedächtnis, das die Untaten die Geschichte nicht länger in parteilicher Auswahl bewahrt, das überdies an die mancherorts nachhaltige, andernorts aber fehlende Wiedergutmachung erinnert, hilft künftigen Gewaltaten vorzubeugen. Wichtiger als dieser präventive Gesichtspunkt ist das G.s-Argument selbst: Die Fairness gegen die Opfer verlangt, die Erinnerung nicht auf wenige, bes. gravierende Verbrechen einzuschränken und selbst sie oft noch selektiv wahrzunehmen: Wo gewisse Genozide (Völkermord) tief ins Weltgedächtnis eingegraben, andere dagegen lieber kleingeredet oder verdrängt werden, begeht man gegenüber den Opfern ein elementares, anamnetisches Unrecht. Zur anamnetischen G. gehört auch, die Erinnerung nicht auf die großen Untaten der Welt zu beschränken. Die vielen Glanzleistungen der Menschheit, die teils persönlichen, teils eher kollektiven Leistungen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Philosophie, aus Medizin und Technik, aus Musik, Kunst und Architektur, nicht zuletzt aus Recht und Politik sowie aus der Welt von Mitgefühl und Wohltätigkeit verdienen ebenfalls einen Platz im Gedächtnis der Menschheit.

14. Globale politische Gerechtigkeit

Die politische G. gibt sich nicht mit gerechten Gemeinwesen zufrieden. Sie ist auch für Staatengrenzen überschreitende (internationale), namentlich weltweite (supranationale) Aufgaben zuständig. Den Kern dieser globalen politischen G. bildet eine Rechts- und Friedensordnung, die sich vier Grundsätzen der politischen G. unterwirft: der Herrschaft des Rechts, öffentlicher Gewalten, der Demokratie und den Grund- und Menschenrechten. Die Anerkennung dieser Grundsätze beläuft sich auf eine demokratische Weltrechtsordnung, die auch „Weltrepublik“ heißen mag. Bei ihr handelt es sich nicht um eine schlichte, weil weltfremde Utopie, sondern um eine realistische Vision, deren Verwirklichung, blickt man auf das immer dichtere Völkerrecht und auf die Einrichtung von Weltgerichten, in Form einer sanften Weltrepublik, namentlich als ein globales politisches Institutionennetz, schon auf dem Weg ist. Die Legitimation der schließlichen Weltrepublik erfolgt aus der Verbindung von Bürgerrechtfertigung mit Staatenrechtfertigung. Infolgedessen muss das höchste Organ, der Weltgesetzgeber als Weltparlament, aus zwei Kammern bestehen, aus einem Welttag als der Bürgerkammer und einem Weltrat als der Staatenkammer.

Unter der Weltrechtsordnung ist kein zentralistischer Einheitsstaat zu verstehen, sondern eine gegenüber den einzelnen konstitutionellen Demokratien sekundäre Rechtsordnung, die einen föderalen, überdies lediglich subsidiären Charakter hat und keineswegs nur staatsförmig („etatistisch“) zu gestalten ist, sondern auch Formen eines Regierens ohne Staatlichkeit („governance without government“) zulässt. Die konstitutionellen Demokratien bleiben die primären Träger politischer Legitimität. Sie sind die Primärstaaten, während die Weltrechtsordnung nur den Rang eines Sekundärstaates hat, sogar, falls großregionale Zwischenstufen wie die EU entstehen, lediglich eines Tertiärstaates.

Die von den globalen politischen G. gebotene Subsidiarität verlangt für die Fortbildung der Weltrechtsordnung eine Vorsicht und Umsicht gemäß dem weltstaatlichen Sparsamkeitsprinzip: Nur dort und nur so viel an globaler Verantwortung ist legitim, wo und wie nicht schon die subglobalen Instanzen, insb. die Einzelstaaten, agieren können. Sowohl die Einrichtung überstaatlicher Instanzen als auch jede ihrer Zuständigkeiten tragen die Beweislast. Andernfalls sind die beliebten Einwände von Bürgerferne und Unregierbarkeit oder aber Überbürokratisierung nicht berechtigt. Für das, was die Einzeldemokratien allein oder mittels multilateraler Verträge regeln können, behalten sie jedenfalls die Zuständigkeit.

Die subsidiäre, komplementäre und föderale Weltrechtsordnung erweitert den Schutz der G.s-Prinzipien auf die gesamte Menschheit. Sie trägt die Verantwortung für die (Quasi-)„Menschen- und Grundrechte von Staaten“ hinsichtlich deren politischer und kultureller Selbstbestimmung und ihrer territorialen, einschließlich ökologischen Integrität. Die Menschen haben nämlich das Recht, in ihren Gemeinwesen kollektive Eigenarten etwa der Sprache, der Religion und Kultur, auch der Sitten und des Rechts sowie der Mentalität zu pflegen, sofern sie keine Minderheiten diskriminieren, gegen die die G. in pluralistischen Gesellschaften, die Toleranz, geboten ist. Die globale Rechtsordnung hält sich mit einem Recht auf Besonderheit und Differenz für eine Vielfalt von Unterschieden offen.

Angesichts der grenzüberschreitenden Kriminalität plädiert die globale politische G. für eine globale Gerichtsbarkeit, für eine Weltjustiz im Sinne eines Weltstrafrechts, das sich dreidimensional einrichten lässt: (1) Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip beginnt die Weltjustiz auf der einzelstaatlichen Ebene: Ein „nationales Weltstrafrecht“ unterwirft sich sowohl hinsichtlich der strafwürdigen Delikte als auch der Prozessprinzipien, der Strafen und des Strafvollzugs interkulturellen Grundsätzen, was die nationale Justiz, berechtigt, für im eigenen Geltungsbereich begangene Delikte auch aus anderen Gemeinwesen stammende Personen zu bestrafen. (2) Ein „grenzüberschreitendes Weltstrafrecht“ berechtigt im Rahmen einer interkulturell gültigen Strafjustiz zu jener stellvertretenden Strafrechtspflege, die im Land B Festgenommenen in diesem Land für ein im Land A begangenes Delikt zu verurteilen. (3) Eine „weltbürgerliche“ oder „kosmopolitische Weltjustiz“ ist für jene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zuständig, die in den betreffenden Ländern nicht verfolgt, vielleicht von deren Verantwortlichen sogar begangen werden.

Ein Weltbürgerrecht verbietet, friedliche Ausländer an der Grenze zu berauben, willkürlich zu inhaftieren oder sogar zu versklaven und, einmal ins Land eingelassen, dem hier geltenden zivil- und Strafrecht zu entziehen. Bei gravierenderen Defiziten an nationalem Rechtsschutz müssen sie einschlägige Klagen über den innerstaatlichen Instanzenweg hinaus vor ein Weltgericht bringen können. Weil das Weltbürgerrecht gegenüber dem nationalen Staatsbürgerrecht nur eine subsidiäre Bedeutung hat, ist es legitim, die Rechte von Ausländern einzuschränken. Ein Recht, sich in jedem Staat der Welt auf Dauer aufzuhalten, an deren Gestaltung gleichberechtigt mitzuwirken und die Segnungen von dessen Sozialstaatlichkeit in Anspruch zu nehmen, kurz: ein Menschenrecht auf Einwanderung, besteht nicht.

Eine globale Marktordnung widersetzt sich sowohl kriminellen Wettbewerbsverzerrungen („Mafia-Methoden“) als auch Monopolen, Oligopolen, Kartellen, Steueroasen und anderen Formen unlauteren Wettbewerbes. Nur subsidiär zu den primären nationalen Verantwortlichkeiten erlässt sie eine Welt-Wettbewerbs-Ordnung, betreibt – in engen Grenzen – eine Weltwirtschaftspolitik, richtet ein Weltkartellamt ein und sorgt für soziale und ökologische Mindestkriterien.

Die globale G. tritt zwei gegenläufigen Missbrauchsstrategien entgegen, der Verkürzung der G. auf Forderungen an andere: Länder der Zweiten und Dritten Welt verlangen die Teilhabe an den Reichtümern der Erde, unterschlagen aber gern die Aufgabe, in ihren Ländern für die ressourcenunabhängige G., für Rechtschaffenheit, eine korruptionsfreie Justiz und die Gewährleistung der Menschenrechte, zu sorgen. Weil diese G. von Ressourcen unabhängig ist, tun sich die reicheren Länder dagegen leicht, sie einzufordern. Dagegen sperren sie sich gern jener G.s-Forderung, die auch dort einen freien Welthandel ohne Privilegierung der reichen und Diskriminierung der armen Länder verlangt, wo so kostbare Ressourcen wie die eigenen Arbeitsplätze betroffen sind.

Außer Institutionen braucht es für die globale politische G. auch einen Welt-G.s-Sinn, praktiziert von Bürgern, von Regierungs- und von NGOs. Wie bei der einzelstaatlichen Entsprechung stellen sich drei Aufgaben: In einem initiatorischen Welt-G.s-Sinn erkennen sich alle Menschen (kosmopolitischer Welt-G.s-Sinn) und alle Staaten (weltföderalistischer G.s-Sinn) als gleichberechtigt an, was eine Weltrechtsordnung auf den Weg zu bringen und sie schließlich zu einem föderalen Weltrepublik auszubauen hilft. Ein legislatorischer Welt-G.s-Sinn sorgt dafür, dass die Weltrechtsordnung nach Maßgabe nicht der jeweiligen Machtverhältnisse, sondern des Rechts und der G. entwickelt wird. Schließlich tritt ein applikativer Welt-G.s-Sinn Privilegien, Diskriminierungen und anderem Unrecht in aller Welt entgegen.

15. Ökonomische Gerechtigkeit

Sowohl der nationale als auch der globale Markt funktionieren nach anonymen Kräften, vereinfacht: nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Trotzdem darf man nicht auf jede geplante Ordnung verzichten, da die wohlstandsfördernden Kräfte wie Anstrengung und Wagnis einer natürlichen Trägheit abzuringen sind. Ihretwegen versucht eine „aufgeklärte Trägheit“, durch Wettbewerbsverzerrungen Anstrengung und Wagnis zu verringern. Dem widersetzt sich die ökonomische G., indem sie – etwa durch Rechtsschutz und Kartellämter kriminellen und anderen Wettbewerbsverzerrungen entgegentritt.

16. Ökologische Gerechtigkeit

Weil die naturale Natur, von keiner Generation geschaffen, ein Gemeineigentum der Menschheit ist, müssen jede Generation und jedes Gemeinwesen, die sich etwas vom Gemeineigentum nehmen, in anderer Weise etwas Gleichwertiges zurückgeben. Der leitende G.s-Grundsatz lautet daher: Die Summe aus naturaler Natur und künstlichen („technischen“) Äquivalenten, die ökologische Bilanz, darf sich nicht verschlechtern. Dabei kommt es nicht auf den Pro-Kopf-, sondern auf den Gesamtwert an. Eine Generation, die sich das Recht nimmt, durch eine wachsende Bevölkerung die Umwelt stärker zu belasten, hat die Pflicht, die ökologische Bilanz im selben Maß zu steigern. Weil in diesem Bereich die Gegenwart auf Kosten der Zukunft zu leben pflegt und diese Ungerechtigkeit nur in globaler Vernetzung behoben werden kann, ist erneut die Weltrechtsordnung gefordert. Wie Eltern ihren Kindern lieber ein größeres Erbe hinterlassen, als sie selbst übernommen haben, so müsste eine der Naturkräfte so mächtige Gesellschaftsform wie die wissenschaftlich-technische Zivilisation sogar ihren Stolz darin setzen, den Kindern und Kindeskindern eine ökologisch bessere Bilanz zu vererben.

II. Gerechtigkeit in Theologie und christlicher Sozialethik

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In den theologischen Traditionen und den zeitgenössischen Diskursen der Theologie sowie der Sozialethik spielen die unterschiedlichen Begriffe der G. eine prominente Rolle und beziehen sich auf den individuellen Menschen, die menschliche Gesellschaft (in jüngerer Zeit erweitert auf die Umwelt) und nicht zuletzt auf Gott selbst.

Dem entsprechen die drei Bereiche, die in der theologischen Ethik mit den Begriffen gerecht oder ungerecht qualifiziert werden (können):

a) Im individuellen Bereich werden Personen und deren Handlungen als (un)gerecht eingestuft. Dies ist das Verständnis der Tradition von philosophischer und theologischer Ethik: G. als personale Tugend.

b) Im gesellschaftlichen Bereich geht es um die (Un)Gerechtigkeit von Regeln, Gesetzen, Verfahren, Institutionen, Systemen (etwa der Wirtschaft) oder ganzen Gesellschaftsordnungen. Nachdem hierfür seit dem 19. Jh. der Begriff „soziale G.“ aufgekommen war, wurde der Diskurs im 20. Jh. um die Dimension der „Umwelt-G.“ oder „ökologischen G.“ erweitert.

c) Der theologische Bereich dreht sich um das Problem der G. Gottes und des kosmischen Geschehens. Einschlägig sind hier etwa die Theodizee-Frage oder die traditionelle Eschatologie mit dem „gerechten“ Urteil Gottes beim Jüngsten Gericht.

Die Bibel thematisiert alle drei Bereiche, die systematischen Theologien primär den dritten Bereich und die Christlichen Sozialethiken insb. den zweiten Bereich (mit dem dritten Bereich als vorausgesetztem Fundament).

1. Gerechtigkeit in der Bibel

1.1 Gerechtigkeit im AT

Neben vielen normativen Einzelanweisungen, deren unmittelbare Anwendung auf die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer Zeitbedingtheit wegen des „garstigen breiten Grabens“ (Lessing 1965: 36) der Geschichte nicht zweckmäßig wäre, bietet das AT eine grundsätzliche theologische und ethische Botschaft, die sich um den Begriff der G. zentriert und auch heute als „regulative Idee“ fungieren kann.

Der alttestamentliche Begriff der G. entstammt urspr. dem Bereich der Rechtsprechung (Wortwurzel sdq: gerecht sein, einen Prozess gewinnen; Ex 23,6 f.; Dtn 1,16.18; Spr 31,9). Aufgrund der Erfahrung, dass viele Richter aber bestechlich sind und ungerechte Urteile fällen (Am 5,7; Koh 3,16), wird bei den Propheten der unschuldig Verurteilte als Gerechter (saddiq) bezeichnet und damit G. zu einem ethischen Maßstab zur Beurteilung der Rechtsprechung. Zudem wird der Begriff der G. auch theologisch gefüllt, wenn gesagt wird, dass der Gerechte (saddiq) auf den „geraden Wegen des Herrn“ wandle (Hos 14,10). Mit dem „Aussäen der Gerechtigkeit“ (Hos 10,12) wird die G. Gottes (Ps 11,7) anfanghaft auf Erden verwirklicht (Jes 45,8). Konkreter kennzeichnet sich die alttestamentliche G. dann etwa in den Zielvorstellungen einer gesellschaftlichen Integration aller (1 Kön 5,5), einer Kooperationsfairness im wirtschaftlichen Bereich (Ex 23,6–8; Dtn 25,13–16) oder im – empirisch zwar vermutlich nie umgesetzten, dennoch normativ angezielten – Recht auf einen Neuanfang (Sabbat- und Jobéljahr: Dtn 15,1–6.12–15; Lev 25,3–28).

1.2 Gerechtigkeit im NT

Der Begriff der G. (dikaiosyne) kommt im NT insgesamt 91-mal vor, davon 57-mal bei Paulus und hier wiederum 35-mal im Römerbrief. Verwandte Worte (gerecht, gerechtmachen) finden sich 118-mal. Der Befund erweist zum einen das inhaltliche Gewicht des Begriffs und zum anderen eine starke theologische Orientierung im NT: G. wird nicht so sehr im Sinn der griechischen Ethik als anthropologische Tugend verstanden, sondern meint das Gerechtsein Gottes und ein soteriologisch bedeutsames Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander.

Bei Jesus von Nazaret wird die ethische Botschaft von der G. in seine zentrale theologische Botschaft vom „Reich Gottes“ integriert: „Sucht aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6,33). Diejenigen, die auf Erden „nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten“ (Mt 5,6), werden das Heil der G. der basileía (Herrschaft) Gottes erfahren.

Paulus benutzt den Begriff der G. v. a. im theologischen Kontext seiner Rechtfertigungslehre. G. erscheint als gnadenhaftes Geschenk Gottes: Der glaubende Mensch wird von Gott nicht nach ethischen G.s-Maßstäben gerichtet, sondern von Gott gerecht gemacht und so der G. teilhaft (Gal 2,16; Gal 3,6; Röm 3,28; Röm 4,3; Röm 9,32–34).

2. Gerechtigkeit in der systematischen Theologie

Die christliche Theologie geht traditionell davon aus, dass eine „unendliche G.“ eine der moralischen Eigenschaften Gottes sei und dass er dereinst den Erdkreis mit dieser unendlichen G. richten wird (Apg 17,31). Da die Theologie Gott aber zugl. „unendliche Liebe“ und „unendliche Barmherzigkeit“ zuschreibt, ergibt sich die klassische Frage, ob zwischen der G. Gottes einerseits und der Liebe und Barmherzigkeit Gottes andererseits nicht ein Widerstreit zu diagnostizieren sei. Von Seiten der traditionalistischen katholischen Theologie erhält man diesbezüglich Antworten, die erkennbar das Argumentationsproblem umgehen: „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind in Gott in wunderbarer Harmonie miteinander verbunden.“ (Ott 1981: 57) Auf evangelischer Seite kam Martin Luther angesichts dieses Problems zu seiner „Entdeckung“, dass Röm 1,17 im Sinn eines Genitivus auctoris als diejenige G. ausgelegt werden müsse, durch die G. den Sünder aufgrund seines (christlichen) Glaubens gerecht macht und rechtfertigt. Der theologische Gedanke, dass die Vorstellung eines Gottes, dessen „gerechtes“ Urteil auch eine Verdammnis zu ewigen Höllenstrafen beinhalten könne, mit dem Liebe-Sein Gottes prinzipiell unvereinbar ist, und Gott daher nicht im herkömmlichen Sinn richtet, sondern alles rettet, was gerettet werden kann, findet sich bei Alfred North Whitehead.

3. Gerechtigkeit in der Christlichen Sozialethik

Im Hinblick auf einen ethischen Begriff der G. gingen die christlichen Theologien traditionell bis Ende des 19. Jh. weitestgehend von einem individualethischen Tugendkonzept aus. Ein solches Verständnis erwies sich aber als ungenügend angesichts der strukturellen Entwicklung moderner Gesellschaften, die nicht mehr durch face-to-face-Verhältnisse, sondern durch die Ausdifferenzierung funktionaler Subsysteme (Systemtheorie) gekennzeichnet waren.

3.1 Die traditionelle Begrifflichkeit aus der überkommenen Moraltheologie

Traditionell ist G. ein individualethischer Begriff und bezeichnete auch etwa in der überkommenen katholischen Moraltheologie eine personale Tugend. Die einschlägigen Modelle arbeiteten v. a. mit den Begriffsdifferenzierungen bei Thomas von Aquin (STh II-II, 57–79), welche wiederum auf den Unterscheidungen des Aristoteles gründeten. Hier differenzierte man zum einen eine „gesetzliche G.“ („Legal-G.“), die als „allg.e G.“ (iustitia generalis) „die vollkommene Tugend […] im Hinblick auf den anderen Menschen“ (NE 1129 b 26) sei – wobei diese iustitia legalis bei Thomas naturrechtlich konzipiert wird und ihr (Formal-)Objekt nicht wie bei Aristoteles in positiven staatlichen Gesetzen, sondern im bonum commune besteht (STh II-II, 58,7). Davon abgehoben wurde die „partikulare G.“ (iustitia particularis), die sich in „verteilende“ (iustitia distributiva) und „ordnende“ G. (iustitia commutativa) unterteilt. Dabei funktioniert die „G. der Verteilung“ nach dem Prinzip „geometrischer Proportionalität“ (Anteile am Ganzen nach Verdienst; NE 1131 b 10), während die ordnende „Tausch-G.“ (auch „Vertrags-G.“) dem Prinzip der „arithmetischen Proportionalität“ (rechnerische) Gleichheit auf zwei Seiten folgt (NE 1131 b 24). Anders als die stark von Paulus beeinflusste lutheranische Richtung ist die katholische Tradition zunächst klar von diesen Unterscheidungen bei Aristoteles und Thomas her angelegt. Mit dem Aufkommen moderner und strukturell ausdifferenzierter Gesellschaften wurden jedoch die Grenzen dieser individualethischen Tugendkonzeption deutlich.

3.2 Die moderne Gesellschaft und die „soziale Gerechtigkeit“ in der traditionellen „Katholischen Soziallehre“

Der Befund eines Ungenügens der traditionellen Begrifflichkeit angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme führte mit dem Begriff der „sozialen G.“ schließlich zur Generierung einer spezifisch gesellschaftsethischen Konzeption von G. Vermutlich ist der Begriff der „sozialen G.“ erstmals bei Luigi Taparelli d’Azeglio, also im Vorfeld der Katholischen Soziallehre, aufgetaucht: „Die Socialgerechtigkeit (giustizia sociale) bedeutet uns Gerechtigkeit eines Menschen gegen den andern (giustizia fra uomo e uomo). […] Ich kann deßhalb folgern, dass die Socialgerechtigkeit faktisch alle Menschen gleichstellen muß in dem, was die Rechte der Menschheit im Allgemeinen betrifft.“ (Taparelli 1845: 142 f.) Der Begriff bezeichnet hier also noch allg. die moralische Gleichheit aller Menschen und definiert damit, wessen Interessen bei der Gestaltung der Gesellschaft Berücksichtigung finden müssen. Die traditionelle Katholische Soziallehre versuchte nun, diesen neueren Begriff der „sozialen G.“ sowohl mit dem herkömmlichen Schema der G.s-Typen als auch mit den sich ausbildenden „Sozialprinzipien“ (Personprinzip; Solidarität; Gemeinwohl; Subsidiarität), die die ethische Forderung L. Taparellis ohne begriffliche Präzisierung inhaltlich implizierten, zu harmonisieren. Dabei kam sie aber nie zu einem Konsens über die Zuordnungen. So wird die „soziale G.“ bspw. in der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ faktisch in die Nähe der „verteilenden G.“ gerückt (Nr. 27), andere Vertreter der Katholischen Soziallehre identifizierten die „soziale G.“ mit der „gesetzlichen G.“, für Oswald von Nell-Breuning war sie ein Synonym für „Gemeinwohl-Gerechtigkeit“ (Nell-Breuning 1932: 169), während sie bei wiederum anderen Soziallehrern für die Dynamik innerhalb der traditionellen Dreiteilung stand. Obgleich der Begriff der G. in den Folgejahren allg.e Verbreitung fand – so wird er etwa in „Quadragesimo anno“ achtmal ohne nähere Bestimmung verwendet, z. B. in der berühmten Definition von „Subsidiarität“ (Nr. 79) –, hatte er also in der traditionellen Katholischen Soziallehre, deren Kern ein substanzmetaphysisch verstandenes „Naturrecht“ sowie die klassischen „Sozialprinzipien“ bildeten, noch nicht die zentrale Bedeutung inne, die der (sozialen) G. in der neueren Christlichen Sozialethik evangelischer oder katholischer Provenienz zugeschrieben wird.

3.3 Gerechtigkeit in der neueren „Christlichen Sozialethik“

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s hatte der philosophische G.s-Diskurs mittlerweile wichtige Konzeptionen hervorgebracht, die nicht mehr das substanzmetaphysisch verstandene „Naturrecht“ vertraten, sondern meist vertragstheoretisch (Vertragstheorie) argumentierten. Zu nennen sind hier insb. die beiden mit dem Gedankenexperiment eines hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ befindlichen „Urzustands“ arbeitenden, sich aber bzgl. des ethischen Entscheidungskriteriums grundsätzlich unterscheidenden Ethikkonzeptionen von John Rawls („Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von 1971 mit dem „Maximin-Prinzip“ als Entscheidungskriterium) und von John Charles Harsanyi (z. B. 1976, mit dem utilitaristischen Entscheidungskriterium [ Utilitarismus ] des höchsten Durchschnittsnutzens). Da es die christlichen Theologien und Sozialethiken weitgehend versäumt hatten, eine eigene und zugl. modernitätskompatible Metaphysikkonzeption zu generieren – eine Ausnahme war diesbezüglich eigentlich nur die prozesstheologische Richtung in der Tradition A. N. Whiteheads –, suchten die Christlichen Sozialethiken primär den Anschluss an diesen philosophischen G.s-Diskurs.

a) „Soziale“ G.: Die neuere Christliche Sozialethik hat es faktisch aufgegeben, den Begriff der „sozialen G.“ mit dem herkömmlichen Schema der G.s-Typen oder der traditionellen „Sozialprinzipien“ zu harmonisieren und zeigt sich statt dessen stark beeinflusst von J. Rawls’ G.s-Theorie, in dessen „Maximin-Prinzip“ sie eine philosophische Rekonstruktion der biblischen und theologischen „vorrangigen Option für die Armen“ identifiziert. Während J. Rawls’ G.s-Theorie inhaltlich „dem eigentlichen Kerngedanken der christlichen Ethik, nämlich dem Schutz der unveräußerlichen Würde menschlicher Personen“ (Mack 2015: 7), Rechnung trage und damit auch der Christlichen Sozialethik „einen Paradigmenwechsel hin zum Konsens- und Vertragsparadigma“ (Mack 2015: 172) ermögliche, habe „die christliche Ethik […] einen theoretischen Mehrwert zu bieten, der eine ‚freistehende Gerechtigkeitstheorie‘ […] theologisch an einen unbedingten, unverfügbaren Kern zurückbindet“ (Mack 2015: 7). Übereinstimmung mit J. Rawls herrscht auch bzgl. der teilweise umstrittenen Frage, auf welchen Gegenstandsbereich sich die „soziale G.“ eigentlich bezieht. So definierte J. Rawls die „soziale G.“ als „die erste Tugend sozialer Institutionen“ (Rawls 1979: 19) und damit den Gegenstandsbereich der „sozialen G.“ als den Bereich der gesellschaftlichen („sozialen“) Regeln, Gesetze, Verfahren, Institutionen, Wirtschaftssysteme oder insgesamt den Bereich der Gesellschaftsordnung. Damit kann auch die ältere Kritik des wohl schärfsten Kritikers des Begriffs der „sozialen G.“, Friedrich August von Hayek, als hinfällig betrachtet werden. Er hatte die „soziale G.“ zum einen fälschlicherweise mit der Verteilungs-G. identifiziert (Hayek 1976: 23 f.: „Der Begriff ‚soziale Gerechtigkeit‘ wird heute allgemein als Synonym für das benutzt, was bislang mit ‚austeilender Gerechtigkeit‘ bezeichnet worden ist“) und angesichts der Tatsache, dass der Markt kein Mensch, sondern ein unpersönlicher Funktionsmechanismus ist, den Begriff der „sozialen G.“ als verfehlt eingestuft: „Der Ausdruck ‚soziale Gerechtigkeit‘ gehört nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck ‚ein moralischer Stein‘“ (Hayek 1981: 112). Versteht man die „soziale G.“ mit J. Rawls und den Christlichen Sozialethiken jedoch als die G. des Institutionensystems, dann bezieht sich eine größere „soziale G.“ als Handlungsaufforderung nicht auf eine direkte Gestaltung (Umverteilung) der Marktergebnisse, sondern auf die Gestaltung der institutionellen Rahmenordnung („Spielregeln“) solcher Marktprozesse. In diesem Sinn schreibt auch der Wirtschaftsethiker Karl Homann: „Die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit bezieht sich also auf das Institutionensystem einer Gesellschaft“ (Homann 1992: 105). Als attraktiv für die Christlichen Sozialethiken hat sich zudem das Konzept der „Befähigungs-G.“ erwiesen, das auf den „Capability Approach“ von Amartya Kumar Sen und Martha Nussbaum zurückgeht: „Menschen zur realen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu befähigen, ist der Schlüssel für ein aktuelles Verständnis sozialer Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist kriterial als Befähigungsgerechtigkeit zu bestimmen“ (Dabrock 2012: 13), wobei „mit dem Konzept der Befähigungsgerechtigkeit ein gleichermaßen begründungs- wie anwendungsfähiges Kriterium sozialer Gerechtigkeit“ (Dabrock 2012: 14) bereit stehe. Wie A. K. Sen die „Befähigungs-G.“ als Ermöglichung realer Freiheit versteht, so sieht auch die Christliche Sozialethik G. und Freiheit in unauflöslicher Wechselbeziehung: „Reale Freiheit bedarf […] einer Unterfütterung durch Gerechtigkeit, weil erst Gerechtigkeit den einzelnen Menschen reale Freiheit ermöglicht.“ (Wiemeyer 2015: 12 f.) In den zeitgenössischen Christlichen Sozialethiken werden die Probleme der „sozialen G.“, die auch die Ziele der „globalen G.“, der „Gender-G.“ oder der „intergenerationellen G.“ umfassen, mithilfe dieser von Hause aus philosophischen Konzeptionen methodisch angegangen.

b) Unter dem Druck aktueller Problemlagen kamen in jüngerer Zeit dann als Erweiterungen der „sozialen G.“ die Begriffe der „Umwelt-G.“ oder „ökologischen G.“ auf. Hiermit wird die menschliche Verantwortung gegenüber der außermenschlichen Mitwelt thematisiert: die Verantwortung zum einen gegenüber den Tieren und zum anderen gegenüber der gesamten „Umwelt“. Auch wenn der Begriff der „Umwelt-G.“ „mit der Generationengerechtigkeit das Ziel des schonenden Umgangs mit der Natur, theologisch: die Bewahrung der bedrohten Lebenszusammenhänge der Schöpfung, teilt, so ist die Perspektive der Umweltgerechtigkeit und damit das primäre Verantwortungsobjekt, anders als bei der Generationengerechtigkeit, holistisch bestimmt“ (Lienkamp 2009: 285). Da diese holistische Art von G. in den traditionellen „Sozialprinzipien“ der Katholischen Soziallehre keine Berücksichtigung findet, hat Wilhelm Korff vorgeschlagen, sie durch das zusätzliche ökologisch-ethische „Prinzip der Retinität“ (von lateinisch rete: Netz) oder der Vernetztheit aller Dinge zu ergänzen. A. N. Whitehead und Charles Hartshorne haben eine ausgearbeitete und theologisch relevante Metaphysik dieses Gedankens der universalen Vernetzung mit den Tieren sowie der gesamten „Umwelt“ vorgelegt. Was zunächst die menschliche Verantwortung gegenüber den Tieren (Tierethik) anbelangt, so konfrontiert die begründungstheoretische Figur einer „unantastbaren Würde des Tieres“ (Remele 2016) auch die Christlichen Sozialethiken mit „weiteren Aspekten der Gerechtigkeit, die nicht nur Menschen betreffen, sondern auch die anderen empfindungsfähigen Geschöpfe dieser Erde“; man lasse „Fragen der Gerechtigkeit unbeachtet, wenn die Opfer macht- und wehrlos sind […]. Das ist ganz genau die Situation, in der sich die Tiere befinden.“ (Tutu 2013: o. S.) Diese post-anthropozentrische Ethik einer G. gegenüber Tieren thematisiert die nächste Runde in der moralischen Evolution der Menschheit: während das 20. Jh. das Jh. der Menschenwürde und der Menschenrechte war (Menschenrechtserklärung der UNO; deutsches GG usw.), wird das 21. Jh. nun das Jh. der ebenso unvermeidlichen wie schwierigen Diskussion um Tierwürde und der Tierrechte. Während das Problem der G. gegenüber Tieren noch durch einen „vegetarisch-veganen Imperativ“ (Kurt Remele: „kein unnötiges Töten von Tieren und keine unnötige Zufügung von Schmerz und Leid!“ [Remele 2016: 80]) bewältigt werden könnte, dürfte das allg.ere Ziel einer holistischen „Umwelt-G.“ oder ein „Friede mit der ganzen Schöpfung“ zu einem guten Teil nur den Charakter einer „regulativen Idee“ haben, die auf der Ebene des grundsätzlichen Begründungsdiskurses zwar formuliert, aber weder auf der ethischen Anwendungsebene noch auf der pragmatischen Implementationsebene vollständig oder ohne Widerstreite umgesetzt werden kann. Das grundsätzliche Problem wurde von dem Philosophen A. N. Whitehead folgendermaßen formuliert: „Leben ist Räuberei. Genau an diesem Punkt wird im Zusammenhang mit dem Leben das Problem der Moral akut. Der Räuber muss sich rechtfertigen.“ (Whitehead 1984: 204 f.) Menschliches Leben ist unumgänglich mit einem in die Schöpfung eingreifenden Ressourcenverbrauch verbunden. Wenn daher eine vollständige Harmonie oder ein umfassender „Friede“ des Menschen mit der ganzen Schöpfung Fiktion bleiben muss, so kann die in ethischen Begründungsdiskursen formulierte Idee einer „Umwelt-G.“ doch als Herausforderung für ethische Anwendungsdiskurse dienen, argumentativ genau zu klären, welche Eingriffe in die Natur sich ethisch rechtfertigen lassen und welche nicht. In diesem Zusammenhang ist zumindest dem Prinzip der „Nachhaltigkeit“ Rechnung zu tragen.

c) Angesichts der in der Geschichte der Moralphilosophie und der Christlichen Sozialethik stetig gewachsenen Komplexität der G.s-Ansprüche legt sich der Gedanke einer „flexiblen G.“ nahe (Schramm 2007). „Flexible G.“ stellt insofern die aktuelle Variante des klassischen suum cuique („jedem das Seine“) dar, weil die Bestimmung dessen, was in unterschiedlichen lokalen Anwendungssituationen jeweils „das Seine“ ist, meist nur mittels einer flexiblen Handhabung differenter G.s-Vorstellungen vorgenommen werden kann.