Gemeinwirtschaft: Unterschied zwischen den Versionen

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Auch die BRD, die sich nach 1948 von einer gemeinwirtschaftlichen Alternative zum [[Kapitalismus]] verabschiedete und auf den Vorrang der Privatwirtschaft festlegte, blieb von breiten Sektoren öffentlicher und freigemeinwirtschaftlicher Art geprägt. Dazu gehörten nicht zuletzt die großen gewerkschaftlichen Unternehmen (BfG, Neue Heimat, Coop, Volksfürsorge), die deutlich machen wollten, dass Unternehmen am Markt auch ohne Gewinnorientierung erfolgreich sein und den Bedarfen gerade des „kleinen Mannes“ oft besser gerecht werden können als die privatkapitalistische Konkurrenz. Von der G. erwartete man dabei, dass sie –in raumordnungs-, besiedlungs-, sozial- und konjunkturpolitischer Hinsicht – im Sinne des [[Gemeinwohl|Gemeinwohls]] marktergänzende und marktregulierende Aufgaben übernimmt.
 
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Version vom 4. Januar 2021, 12:08 Uhr

1. Begriff

Unter G. lassen sich alle Wirtschafts- und Unternehmensformen subsumieren, die sich – im Unterschied zur deutlich jüngeren Gewinnwirtschaft – vorrangig am Prinzip einer bedarfs- und kostendeckenden Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen orientieren. Produktive Spannungen zwischen gemein- und gewinnwirtschaftlichen Akteuren und ihren Rechtsformen gehören zur Wirtschaftsgeschichte der modernen europäischen Gesellschaften. Sie bewegen sich zwischen gemeinwirtschaftlichen Ergänzungen zur privatkapitalistischen Wirtschaft, wechselseitigen Konkurrenzen in bestimmten Sektoren und der Suche nach Fundamentalalternativen zu einer kapitalistisch organisierten Wirtschaftsweise. Die Rede von der G. oszilliert zwischen einer weiten, das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem insgesamt thematisierenden Perspektive und einer engeren Verwendungsweise, die einzelne Unternehmen bzw. einzelne Sparten der Wirtschaft in den Blick nimmt. Das Konzept der G. wird in den letzten Jahrzehnten zumeist in diesem engeren Sinne verwendet.

Heute wird i. d. R. zwischen freigemeinwirtschaftlichen und öffentlichen Unternehmen und Einrichtungen unterschieden. Werden diese von religiös-weltanschaulichen, genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen, zivilgesellschaftlichen oder ähnlichen Trägern unterhalten, spricht man von freier G. Werden sie von einer Gebietskörperschaft getragen, sind sie der öffentlichen G. zuzuordnen. Handelt es sich um Unternehmen, die in privatwirtschaftlicher Trägerschaft stehen, aber spezifischen gesetzlichen Eingriffen unterliegen, spricht man von öffentlich gebundener G. (Bsp.: Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft mit politisch vorgegebener Preisgestaltung).

2. Geschichte

In den frühsozialistischen Bewegungen Europas wurden erste, allerdings wenig erfolgreiche gemeinwirtschaftliche Alternativen zu einer auf privatkapitalistischen Investitionsentscheidungen und individueller Tauschlogik beruhenden Organisation des wirtschaftlichen Lebens erprobt, bevor in der zweiten Jahrhunderthälfte eine breite Genossenschaftsbewegung bis heute tragfähige Modelle einer nichtindividualistischen Wirtschaftsorganisation jenseits von Markt und Staat entwickelte. Deren Reichweite und Gestaltungsanspruch changiert zwischen einer noch eher gewinn- als gemeinwirtschaftlich orientierten Erleichterung der Marktzugangschancen benachteiligter Produzenten (Hermann Schulze-Delitzsch), Produktivassoziationen in Arbeiterhand in Konkurrenz zu kapitalistischen Betrieben (Ferdinand Lassalle, Wilhelm E. von Ketteler) und dem Projekt einer allmählichen Vergenossenschaftlichung der Gesamtwirtschaft (Charles Gide).

Im deutschen Kaiserreich kam es unter dem Einfluss der Historischen Schule der Nationalökonomie – etwa mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen – zum Ausbau kommunaler und nationaler Betriebe, mit denen wirtschafts- und sozialpolitische Gestaltungsziele verfolgt wurden. In der Weimarer Republik gab es eine erste Blütezeit der freien und öffentlichen G. Die neue Verfassung ermöglichte es, „wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammenzuschließen mit dem Ziele, die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Verwaltung zu beteiligen und Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein- und Ausfuhr der Wirtschaftsgüter nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen zu regeln“ (Art. 156 WRV; im Art. 15 GG fehlt im Kontext der Bestimmungen zur Enteignung eine vergleichbare G.s-Option). So entstand ein breiter gemeinwirtschaftlicher Sektor aus öffentlichen Betrieben, Genossenschaften und gewerkschaftlichen Eigenbetrieben, wobei zwischen einer sozialdemokratisch-etatistischen und einer katholisch-subsidiären Konzeption von G. zu unterscheiden ist. In der Sozialdemokratie wurden staatlicher Kontrolle unterstehende Großbetriebe und gewerkschaftliche Eigenbetriebe als Wege zum Sozialismus und als „Oasen innerhalb des Kapitalismus“ wahrgenommen, „von denen die Eroberung der kapitalistischen Wüste ausgehen wird“ (Naphtali 1931: 577), während im sozialen Katholizismus etwa die selbstverwalteten Konsum- und Baugenossenschaften als Ausgangspunkt eines Prozesses der „Entproletarisierung des Proletariats“ (Quadragesimo anno 1931: Nr. 59) galten, die im Verbund mit Miteigentumsmodellen den Weg zur Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft ebnen sollten. Zu nennen sind hier zudem die in die duale Fürsorgepolitik der Weimarer Republik inkorporierten Wohlfahrtsverbände, die bis in die 1990er Jahre hinein gewährleisteten, dass der Bereich der sozialen Dienstleistungen gemeinwirtschaftlich organisiert war und sich am Prinzip der Bedarfs- und Kostendeckung orientierte.

Auch die BRD, die sich nach 1948 von einer gemeinwirtschaftlichen Alternative zum Kapitalismus verabschiedete und auf den Vorrang der Privatwirtschaft festlegte, blieb von breiten Sektoren öffentlicher und freigemeinwirtschaftlicher Art geprägt. Dazu gehörten nicht zuletzt die großen gewerkschaftlichen Unternehmen (BfG, Neue Heimat, Coop, Volksfürsorge), die deutlich machen wollten, dass Unternehmen am Markt auch ohne Gewinnorientierung erfolgreich sein und den Bedarfen gerade des „kleinen Mannes“ oft besser gerecht werden können als die privatkapitalistische Konkurrenz. Von der G. erwartete man dabei, dass sie –in raumordnungs-, besiedlungs-, sozial- und konjunkturpolitischer Hinsicht – im Sinne des Gemeinwohls marktergänzende und marktregulierende Aufgaben übernimmt.

So war die Bonner Republik durch eine Art Mischwirtschaft zwischen privater Gewinn- und öffentlicher sowie freier G. gekennzeichnet, die vom ordoliberalen Leitbild einer „Sozialen Marktwirtschaft“ weit entfernt war. Im Gefolge von Insolvenzen und Skandalen gemeinwirtschaftlicher Unternehmen in den 1980er Jahren und des Siegeszuges neoliberaler Privatisierungspolitiken (Privatisierung) in den 1990er Jahren geriet die G. in ihre bisher schwerste Krise. Sie gilt seitdem als historisch obsolet. In der wirtschaftshistorischen Bilanzierung von gewinn- und gemeinwirtschaftlichen Produktions- und Konsumtionsweisen spricht allerdings vieles dafür, dass eine dauerhaft erfolgreiche und an den Bedarfen breiter Bevölkerungsschichten orientierte Marktwirtschaft „die glückliche Ergänzung beider“ (Nell-Breuning 1986: 855) braucht.

3. Gegenwart

Nach der Banken- und Finanzmarktkrise des Jahres 2008 entwickelte sich in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein neues Interesse an gemeinwirtschaftlichen Diskursen und Praxen mit einer dezidiert postkapitalistischen Zielsetzung, das sich nicht primär nationalstaatlich, sondern v. a. im Kontext lokaler und globaler Governance-Strukturen artikuliert. Es entzündet sich an Debatten um die Nutzung von Gemeingütern (Commons) und die Ausweitung einer ökologisch nachhaltigen Postwachstumsgesellschaft, in deren Zentrum demokratisch-partizipative Formen kollektiver Lebensführung und gemeinsamen Wirtschaftens stehen. Sie brechen mit der Logik kapitalistischer Gewinnmaximierung und suchen nach Antworten auf soziale Entfremdungserfahrungen (Entfremdung) und die Übernutzung begrenzter natürlicher Ressourcen. Hier entsteht ein v. a. von globalen sozialen Bewegungen und NGOs getragener Diskurs um eine „andere Wirtschaft“, der eine antietatistische und antiinstitutionalistische Akzentsetzung mit einer Vorrangoption für lokale Initiativen im Non-Profit-Sektor verbinden. Ob sich Brücken zwischen den alten und den neuen Diskursen um gemeinwirtschaftliche Ergänzungen und Alternativen zur privatkapitalistischen Gewinnwirtschaft entwickeln werden, ist gegenwärtig nicht absehbar.