Geiselnahme

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  1. I. Politische Aspekte
  2. II. Rechtlicher Rahmen

I. Politische Aspekte

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1. Begriff und historischer Kontext

Geisel ist eine Person, die einem Geiselnehmer zur Durchsetzung persönlicher oder politischer Interessen dient. Die Geisel dient dem Geiselnehmer als „Faustpfand“ und muss dafür einstehen, dass der Geiselnehmer die Geisel selbst, eine dritte Person, eine Organisation bzw. Institution oder einen Staat dazu veranlassen kann, seinen Forderungen nachzugeben. Im Gegensatz zu Entführungen ist der Ort der G. häufig aber nicht bekannt. Eine grundsätzliche Gegenüberstellung von Entführung und G. ist aufgrund häufig vorkommender Ausnahmen von einer idealtypischen Unterscheidung aber nicht sinnvoll. Es stellt die G. ein Freiheitsdelikt gegen die körperliche Integrität (habeas corpus) und die persönliche Freiheit des Individuums dar. G.n stehen im persönlichen Umfeld meist in Zusammenhang mit Beziehungstaten (z. B. Kindesentführungen im Rahmen von Ehescheidungen etc.). Im individuell ökonomischen Sinne (z. B. bei Banküberfällen) finden G.n meist spontan statt und werden durch die Sicherheitskräfte beendet. Im politischen Sinne dient eine G. zur Ausübung von Druck auf regierende Eliten und damit zur Durchsetzung politisch motivierter Interessen. Das historische Vorbild des „Leibbürgen“ war ein Mittel der privaten Vertragssicherung, das beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit durch den Mechanismus der Bürgschaft ersetzt wurde. Rechtsgeschichtlich war die G. v. a. ein Mittel zur Durchsetzung von Forderungen oder zur Sicherung von Friedensverträgen. Diese rechtlich normierten und verbreiteten Gepflogenheiten wurden jedoch häufig auch für verbrecherische Absichten genutzt. V. a. das Erpressen von Lösegeldern hat in Gestalt des Raubrittertums und der Piraterie bis weit ins 19. Jh., gegen Ende des 20. Jh. durch organisierte kriminelle Vereinigungen, terroristische Organisationen (Terrorismus) oder Guerillabewegungen (Guerilla) das Phänomen der G. bis heute geprägt. Waren G.n zu Beginn des 20. Jh. noch finanziell motiviert (z. B. Entführung des Lindbergh-Babys in den USA 1932), haben sich gerade durch terroristische Organisationen Koppelungen an politische Forderungen ergeben (meist nach Freilassung inhaftierter Mitglieder der terroristischen Organisation). Höhepunkte erreichte dies in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland mit der Entführung von Hanns-Martin Schleyer (1977) durch die RAF oder mit der Verschleppung von Aldo Moro durch die Brigate Rosse in Italien (1988). Seit etwa 2000 hat sich die Bandbreite an Motiven für G.n noch einmal erweitert. Aufstandsbewegungen wie die FARC in Kolumbien nutzten Entführungen zu Lösegeldforderungen, aber auch zur gezielten Verunsicherung ausländischer Eliten (prominentestes Beispiel: 2002 G. der kolumbianischen Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt). Organisierte kriminelle Vereinigungen wie die mexikanischen Drogenkartelle führen G.n auch durch, um rivalisierende Gruppierungen einzuschüchtern und durch brutalisierte Morde abschreckende Exempel zu statuieren. Im Rahmen hybrider Kriegführung nutzen terroristische Vereinigungen G.n sowohl zur Verbreitung von Angst und Schrecken und sozialen Destabilisierung (Entführung von mehreren hundert Mädchen durch Boko Haram in Nigeria 2015) wie auch als kommunikative Waffe und Einkommensquelle (IS in Syrien und Irak v. a. ab 2014).

2. Erscheinungsformen

In der Kriminologie werden mehrere Erscheinungsformen von G.n idealtypisch unterschieden, die sich allerdings logisch und realtypisch überlappen. Phänomenologisch sind die folgenden Typen von G.n unterscheidbar:

a) Die seltenste Form der G. stellt die Flucht- oder Gefängnis-G. dar. Meist findet sie nur in Verbindung mit anderen G.n statt und bezeichnet in Deutschland solche G.n, die zum Zweck der Flucht von Gefängnisinsassen oder sonstigen Straftätern meist spontan durchgeführt werden (z. B. Gladbecker Geiseldrama 1988).

b) Demgegenüber die häufigste Form ist der erpresserische Kindes- bzw. Menschenraub, der oft auch tödlich endet. In Deutschland gab es nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere spektakuläre Fälle dieser Art (z. B. Jakob von Metzler 2003), und auch im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise ab 2015 sind zahlreiche Verschleppungen bekannt geworden.

c) Im Zuge der vermehrt unternommenen Abenteuer- und Exotikreisen in Krisenländer haben sich bewaffnete organisierte kriminelle Vereinigungen darauf spezialisiert, (auch) deutsche Touristen zu kidnappen und Lösegeldforderungen zu stellen (z. B. im Jemen). In diesem Zusammenhang hat sich die Praxis eingebürgert, dass die finanziellen Forderungen zunächst durch den Staat beglichen werden, unabhängig von späteren Regressforderungen an die Freigelassenen.

d) Von globaler Bedeutung waren ab den frühen 1970er Jahren G.n durch palästinensische Kommandos. Inspiriert von einer nach Nahost ausgewanderten Faktion der „Japanischen Roten Armee“ begannen palästinensische Unabhängigkeitsbewegungen – v. a. die PLO – damit, entweder Flugzeugentführungen durchzuführen (berühmtestes Beispiel: das „hijacking“ der Lufthansa-Maschine „Landshut“ im Gefolge der Schleyer-Entführung 1977) oder durch G.n bei Großereignissen (Olympische Spiele 1972 in München) auf die Palästinenserproblematik aufmerksam zu machen. Allg. eigneten sich in diesem Zeitraum touristische Ziele vorzüglich für entspr.e Strategien (Entführung des Kreuzfahrtschiffs Achille Lauro 1985).

e) Ein neues Phänomen ist die G. zur Finanzierung einer terroristischen Infrastruktur. Organisationen wie der IS gingen ab 2014 dazu über, ausländische Touristen, Journalisten und Entwicklungshelfer festzuhalten sowie im Rahmen ihrer Medienstrategie wirksam zu instrumentalisieren. Die parallel dazu durchgeführten und global kommunizierten Hinrichtungen sorgten bei den Angehörigen der Festgehaltenen für erhebliche Zahlungsbereitschaft.

3. Bekämpfung und Prävention

Das Verhältnis zwischen der kriminalstatistischen Bedeutung von G.n und ihrer öffentlichen Resonanz ist höchst asymmetrisch. Wie bei verwandten oder sich überlappenden Formen politisch oder ökonomisch motivierter Gewalt ergibt sich diese Problemlage aus dem symbiotischen Verhältnis zu den Massenmedien (Medien). Ebenso wie Terroristen oder Mafia-Mitglieder können Geiselnehmer sicher sein, für ihre privaten, finanziellen oder in Ausnahmesituationen politisch motivierten Forderungen maximale Aufmerksamkeit zu bekommen, sofern dieses Mittel nicht zu häufig angewendet wird. Bes. folgenreich ist dabei, wie weit sich Staat und strafverfolgende Behörden auf eine entstehende katalysatorische Logik einlassen. Während das gesellschaftliche Bedrohungsszenario durch G.n extrem gering ist und aus dieser Perspektive entspr.er Handlungsdruck für den Staat nicht besteht, stellt sich durch die mediale Inszenierung und Aufbereitung von G.n in der Bevölkerung ein erhebliches Unsicherheitsgefühl ein, das seinerseits die nachrangige statistische Bedeutung von G.n wirkungslos macht. Aus diesen Gründen gibt es in allen westlichen Demokratien Notfallpläne für den Fall von G.n. Im Zentrum steht dabei stets das Leben der Geisel, das es unter allen Umständen zu erhalten gilt. Danach kommt das Anliegen, den Geiselnehmer seiner rechtsstaatlichen Verurteilung zuzuführen. Dabei sind die polizeilichen Maßnahmen davon abhängig, ob es sich um eine öffentliche G. handelt oder ob zwischen Geiselnehmer und Staat unter Ausschluss der Öffentlichkeit kommuniziert und verhandelt wird. Die Abwägung, wie weit Forderungen nachgegeben wird oder ob im Fall von Lösegeldforderungen diesen dadurch entsprochen werden soll, dass privat Betroffenen (Familienangehörigen etc.) die entspr.en finanziellen Mittel bereitgestellt werden, obliegt allein den staatlichen Behörden und Entscheidungsträgern. Während konservative Politiker i. d. R. argumentieren, G.n dürften nie zu staatlichem Einlenken führen, weil andernfalls der Staat sich durch Schaffung von Präzedenzfällen auf unabsehbare Zeit angreif- und erpressbar mache, neigen liberale und sozialdemokratische Politiker zu flexiblen Positionen. Entscheidungsprobleme entstehen gerade auch durch so verursachte Divergenzen beim Umgang mit G.n. Während etwa die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt 1975 den Forderungen der terroristischen Bewegung 2. Juni nach Freilassung mehrere Inhaftierter aus den Reihen dieser Organisation im Austausch gegen den entführten Berliner CDU-Bürgermeisterkandidaten Peter Lorenz nachkam, verweigerte sie nur zwei Jahre später die Freilassung der Stammheimer RAF-Inhaftierten, welche im Rahmen der Schleyer-Entführung verlangt wurde. Um vor einer Verschleppung von Geiseln ins Ausland und eine dadurch entstehende Eskalation der Situation abzuschrecken, wurden – zumal unter dem Eindruck internationaler G.n und Flugzeugentführungen (Mogadischu 1977, Entebbe 1978) – auch entspr.e internationale Vereinbarungen geschlossen: Es soll Geiselnehmern unabhängig von ihren Motiven und Interessen in allen Ländern Strafverfolgung drohen bzw. deren Auslieferung gesichert sein.

II. Rechtlicher Rahmen

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1. Responsive Entwicklung des Rechtsregimes

Der deutsche Gesetzgeber und die Staatengemeinschaft reagierten auf unionsrechtlicher und universeller Ebene in verschiedenen Phasen responsiv auf realpolitische Ereignisse und entwickelten das Verbot der G. schrittweise weiter, nämlich durch:

a) die Revision des zwischenstaatlich geltenden humanitären Völkerrechts durch die Verabschiedung der „vier Genfer Rotkreuz-Abkommen“ vom 12.8.1949 (BGBl 1954 II, 781) als Reaktion auf die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. In deren Folge wurden G.n während des Krieges und während internationaler oder nicht-internationaler Konflikte verboten und als Kriegsverbrechen klassifiziert. Die G. wurde als Mittel der Kriegsführung international geächtet.

b) die Verschärfung des strafrechtlichen Sanktionsmechanismus als Reaktion auf die Zunahme insb. terroristisch motivierter G.n ab den 1970er Jahren. 1971 wurde der Sondertatbestand „erpresserischer Kindesraub“ in § 239a StGB auf den Schutz erwachsener Personen erweitert und mit der „G.“ in § 239b StGB ein weiterer Sondertatbestand eingeführt. Dieser gilt, wenn die Tat unter Einsatz qualifizierter Nötigungsmittel (u. a. Drohung mit dem Tod der Geisel) erfolgt und nicht auf Bereicherung durch Erpressung gerichtet ist, sondern allg.er, ggf. politisch motiviert, die Entscheidungsfreiheit des Genötigten beeinträchtigen soll. Im Jahr 1989 gab der Gesetzgeber die urspr. von §§ 239a/239b StGB geforderte Dreiecksstruktur der G. auf und dehnte den Tatbestand auf Konstellationen aus, in denen Geisel und Opfer der (geplanten) Nötigung identisch sind.

Völkerrechtlich fallen in diese Zeit spezielle Vereinbarungen zur Bekämpfung von Flugzeugentführungen oder zum Schutz bestimmter Personengruppen, ferner das – auf deutsche Initiative im Rahmen der UN verabschiedete – „Internationale Übereinkommen gegen Geiselnahme“ vom 18.12.1979 (BGBl 1980 II, 1361). Dieses verpflichtet die Vertragsstaaten bei G.n mit Auslandsbezug zur strafrechtlichen Verfolgung oder Auslieferung (Grundsatz: aut dedere aut iudicare).

c) die Gründung internationaler ad-hoc Strafgerichte ab den 1990er Jahren, die in ihren Statuten das in den Genfer Rotkreuz-Abkommen begründete Verbot der G. aufgreifen und zur Verfolgung ermächtigt werden.

Art. 8 Abs. 2 a viii) und c iii) des Römischen Statuts vom 17.7.1998 (BGBl 2000 II, 1393) erklären den ständigen IStGH für zuständig, Geiselnehmer als Kriegsverbrecher zu verfolgen, und statuieren damit auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten einen Durchgriff des Völkerrechts auf den individuell verantwortlichen Täter.

d) rechtliche Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, nachdem am 11.9.2001 vier entführte Passagierflugzeuge als Terrormittel eingesetzt worden waren. Der deutsche Gesetzgeber ermächtigte in § 14 Abs. 3 LuftSiG (BGBl 2005 I, 78) die Streitkräfte, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll. Das BVerfG sah diese Abschussermächtigung jedoch als nicht vereinbar an mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, soweit mit den Geiseln auch tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen waren (BVerfGE 115, 118, 151 ff.).

Auf EU-Ebene verpflichtet der „Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung“ (2002/475/JI) vom 13.6.2002 die Mitgliedstaaten zur Angleichung ihrer Rechtsvorschriften und zur Einführung von Mindeststrafen für terroristische Straftaten, zu denen Entführungen oder G.n (Art. 1 Abs. 1 c 2002/475/JI) sowie das Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Gütertransportmitteln (Art. 1 Abs. 1 e 2002/475/JI) zählen. Der Einsatz von Flugzeugen als Terrormittel wurde auf universeller Ebene zum Anlass für eine Revision der oben genannten Konventionen zur Sicherheit der Luftfahrt aus den 1970er Jahren genommen.

2. Vielschichtigkeit des Rechtsregimes

Vielschichtig ist das Rechtsregime nicht nur mit Blick auf die Rechtsquellen, sondern auch hinsichtlich der Mechanismen zur Durchsetzung des Verbots von G.n. Für die Feststellung der individuellen Verantwortlichkeit von Geiselnehmern sind neben nationalen Strafgerichten sekundär, im Anwendungsbereich des Völkerstrafrechts, auch der IStGH und sonstige internationale Strafgerichte zuständig, sowie tertiär nach dem „Weltrechtsprinzip“ vorgehende Drittstaaten (BVerfG, Beschluss vom 1.3.2011 – 2 BvR 1/11). Aus zahlreichen völkervertraglichen Verbürgungen sind Staaten verpflichtet, sowohl repressiv gegen Geiselnehmer vorzugehen als auch präventive Maßnahmen zur Verhinderung von G.n zu ergreifen. Ist ein Staat selbst in eine G. involviert, weil sie durch staatliche Akteure begangen wurde oder dem Staat das Handeln privater Akteure zurechenbar ist, löst diese menschenrechtswidrige Handlung seine völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit aus.

Mit Blick auf verfassungsrechtlich gebotene staatliche Maßnahmen zur Rettung von Geiseln hob das BVerfG in seiner Schleyer-Entscheidung 1977 zwar die aus dem Menschenwürdeprinzip (Menschenwürde) resultierende staatliche Pflicht zum Schutz jedes menschlichen Lebens hervor, auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer. Es stellte die Frage, wie staatliche Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, jedoch in deren eigene Verantwortung (BVerfGE 46, 160 [164]) und schrieb den staatlichen Organen keine bestimmte Rettungsmaßnahme vor. Ähnlich verhält es sich bei G.n deutscher Staatsangehöriger im Ausland: Zwar berechtigt das Völkerrecht den Entsendestaat in Ausübung seines konsularischen Schutzes zu Maßnahmen der Geiselbefreiung im Gaststaat; damit korrespondiert jedoch kein völkerrechtliches subjektives Recht der Geisel auf eine bestimmte Rettungsmaßnahme (z. B. Einsatz von Personal- und Sachmitteln). Vielmehr stellt das einschlägige deutsche KonsG (§ 5 Abs. 1) die Auswahl der Hilfsmaßnahme in das pflichtgemäße Ermessen des Staates.