Gabe

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Das scheinbar vertraute und nicht weiter erklärungsbedürftige Phänomen der G. zerfällt bei wissenschaftlicher Betrachtung in eine Vielzahl von Praktiken und Vorstellungen. Auch der Diskurs über die G. ist längst interdisziplinär, dabei von einer erheblichen Disparatheit der theoretischen Zugänge geprägt.

Aktuelle Entwürfe einer Theorie der G. beziehen sich fast durchgehend auf Marcel Mauss’ „Essai sur le don“ (1924/25). Dessen Interpretation ist freilich höchst umstritten. M. Mauss beobachtet in den G.-Praktiken vorstaatlicher Gesellschaften eine scheinbare Paradoxie von Freiwilligkeit und Verpflichtung der G.: G.-Praktiken werden deutlich von solchen des ökonomischen Tauschens unterschieden, dennoch fordert eine gegebene G. eine Gegen-G. Wechselseitige, öffentliche und ritualisierte Gestalten des Gebens schaffen ein soziales Band und sichern den Zusammenhalt einer Gruppe und ihre Allianzen mit anderen, aber auch die Beziehung zur Natur, den Toten und den Göttern. Solche G.n umfassen und integrieren alle Dimensionen des sozialen Lebens und alle Institutionen und spielen eine entscheidende Rolle für die Identität und das Funktionieren des Gemeinschaftswesens.

M. Mauss fügt seiner Studie Überlegungen zur G. in der modernen Gesellschaft an, die wesentlich zur Dynamik der aktuellen G.-Debatte beigetragen haben. Denn er sieht in der G. ein kulturell universales Phänomen: Trotz der Ausdifferenzierung in öffentliche und private Räume in modernen Gesellschaften und der Privatisierung des Gebens habe die G. nach wie vor eine zwar weniger offenkundige, aber dennoch grundlegende Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Die sich zunächst aus der Mauss-Rezeption entwickelnden strukturalistischen und anti-utilitaristischen G.-Theorien blieben weitgehend auf engere Fachkreise beschränkt. Breitere Aufmerksamkeit erreichte das Thema durch die Entwürfe von Jacques Derrida und Jean-Luc Marion. Beide brechen mit der scheinbar selbstverständlichen Struktur von G., Empfang und Gegen-G. J. Derrida zufolge ist die G. nur im Widerspruch zum Tausch zu denken: als strikt einseitige, die nicht erst durch eine Gegen-G., sondern schon durch deren bloße Erwartung zerstört würde. Die „reine G.“ ist eine Figur des Unmöglichen, die sich jeder Präsenz entzieht.

Marion hingegen wählt als Ausgangspunkt die „Gegebenheit“ (donation) als Art und Weise, in der alle Phänomene erscheinen. Diese reine Gegebenheit ist nur zu erreichen über eine radikale phänomenologische Reduktion, in der Geber, Empfänger und Gabe eingeklammert werden.

Demgegenüber geht Marcel Hénaff im Rückgriff auf M. Mauss von der G. als einem sozialen Phänomen aus. Die scheinbare Paradoxalität von Freiheit und Verpflichtung der G. löst sich, wenn man die G. als Medium wechselseitiger Anerkennung versteht. Insofern nicht das gegebene Gut im Mittelpunkt der G. stehe, sondern die Begegnung zwischen Geber und Empfänger, kann M. Hénaff die G. sowohl vom ökonomischen Warentausch als auch von einseitigen altruistischen Hilfeleistungen abgrenzen. Paul Ric&olig;ur nimmt M. Hénaffs Überlegungen auf und stellt sie in ein korrektivisches Verhältnis zu Axel Honneths Konzept des „Kampfes um Anerkennung“ (2010). Ihm zufolge repräsentiert die G. Erfahrungen gelingender, nicht-berechnender Gegenseitigkeit, die zum geduldigen Bewältigen der unabschließbaren gesellschaftlichen Anerkennungskonflikte motivieren.

Leitende Fragen bei der theoretischen Erfassung des Phänomens der G. sind insb.:

a) Ist „Geben“ grundlegend als ein einseitiger, uneigennütziger oder als ein wechselseitiger Vorgang zu beschreiben? Ist die G. nur „rein“, wenn sie ganz ohne Eigeninteresse gegeben wird, oder bildet die Reaktion des Empfängers einen integralen Bestandteil des G.-Prozesses?

b) Welche Funktion erfüllt die G.? Während sie in soziologisch orientierten Entwürfen häufig als Währung in einer symbolischen Ökonomie z. B. des gesellschaftlichen Status dient, wird sie im Bereich der Ethik als ein Phänomen begriffen, das über die Forderungen der Gerechtigkeit hinaus die Bedürfnisse des anderen im Blick hat.

c) Ist die G. vorrangig von den gegebenen Dingen her, bspw. in Spendenpraktiken (Spende), oder vom Vorgang des Gebens her zu lesen?

d) In welcher Weise „besitzt“ der Empfänger die G.? Wird sie sein Eigentum oder strahlt die G.-Beziehung zwischen Geber und Empfänger auch auf den Umgang mit der G. aus? Und welche Rolle spielt hierbei die Dankbarkeit?

Historische Forschungen zur G. zeigen zum einen, wie in manchen gesellschaftlichen Bereichen Funktionen der G. in der Moderne durch andere Strukturen ersetzt worden sind, bspw. in der Sozialfürsorge oder der Anerkennung als Bürger, während umgekehrt die bürgerliche Schenkpraxis erst im 18. Jh. entsteht. Ob daraus ein fundamentaler Relevanzverlust der G. zu folgern ist, weil sie nur noch auf der Schwundstufe persönlicher Schenkpraxis existiere, ist umstritten. Zum anderen unterstreichen die Forschung die Vielfalt und erhebliche Bedeutung von G.-Praktiken in historischer Perspektive. Gegenüber manchen Tendenzen der theoretischen Debatte kommt dabei zum einen die Ambivalenz von G.-Praktiken deutlicher in den Blick, insofern G.n z. B. auch der Machtausübung und der Manipulation des Empfängers dienen. Zum anderen wird die Begrenztheit gabetheoretischer Leitunterscheidungen deutlich, insofern sich nicht selten soziale, wirtschaftliche, politische, rechtliche und religiöse Faktoren und Bedeutungen überkreuzen und eine scharfe Unterscheidung bspw. von Geschenken, sozialen Verpflichtungen und ökonomischen Vorgängen unterlaufen.

So ist sinnvollerweise nicht von „der G.“ als einer homogenen kulturellen Invarianten auszugehen, sondern von sehr verschiedenen Gestalten Gebens, Empfangens und möglicherweise Erwiderns, die es sich durchaus lohnt, idealtypisch zu unterscheiden, die sich aber in den konkreten Praktiken überlappen können.

Ethische Fragen werden erst in jüngster Zeit ausdrücklich unter gabetheoretischer Perspektive untersucht, und dies i. d. R. anhand von konkreten gesellschaftlichen Problemfeldern, z. B. modernen Praktiken des Schenkens und Spendens, der Organspende oder der Entwicklungshilfe. Einmal mehr stehen Fragen nach dem intrikaten Verhältnis von materieller Hilfeleistung, interpersonaler Beziehung, der Schaffung von (gewollten oder ungewollten) Abhängigkeitsverhältnissen und dem Gewinn, den der Geber aus seiner G. zieht (z. B. in Form von sozialem Prestige), im Zentrum.

Der theologische G.-Diskurs spiegelt in seiner Diversität die Vielfalt der rezipierten philosophischen und sozialwissenschaftlichen Zugänge. Neben ethischen Fragestellungen und Überlegungen zu Gegebenheit als Grundstruktur der Wirklichkeit haben sich Forschungsansätze auf einer Reihe von klassischen theologischen Arbeitsfeldern etabliert und entfalten nicht selten auch eine hohe ökumenische Relevanz: Das gilt für Fragen der Gnaden- und Rechtfertigungstheologie oder der Rede vom Opfer wie insb. das Herrenmahl. Breit diskutiert wird schließlich sowohl in theologischen wie in philosophischen Zusammenhängen die bereits von der Wortgestalt in verschiedenen europäischen Sprachen her nahe liegende Beziehung von G. und Vergebung (ver-geben, for-give, par-donner).