Föderalismus

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1. Begriff

F. (lateinisch foedus = Bündnis), im engeren Sinne als politisches Ordnungsprinzip verstanden, zielt darauf ab „eine gewisse Einheit mit einer gewissen Vielfältigkeit zu verbinden“ (Friedrich 1953: 217) und bewirkt Integration gleichsam in einem Kontinuum zentripetaler und zentrifugaler Tendenzen. Denn die Entfaltung von Autonomie und Eigenständigkeit soll F. ebenso ermöglichen wie die Gewährleistung von Kooperation und Integration.

1.1 Gesellschaftliches Ordnungsprinzip

Urspr. galt F. zugl. auch als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip, das sich, ohne theoretisch stringent durchgearbeitet zu sein, gegen Egalisierung, Anonymität und Vermassung, oft zugl. aber auch auf einen überschaubar abgestuften Gesellschafts- und Staatsaufbau richtete. Insoweit handelt es sich um eine ins Politische vordringende Soziallehre, die engen Zusammenhang mit dem viel später formulierten Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) nicht verleugnen kann, aus welchem sich für Vertreter naturrechtlicher Positionen (Naturrecht) F. konsequent ergibt. Charakteristisch ist die Ansicht, dass dem Staat nur subsidiäre Regelungszuständigkeit und Ordnungsmacht zusteht. Folglich gilt ein Regelungsvorbehalt zugunsten der ihm eingegliederten gesellschaftlichen Teilgebilde und kleineren Einheiten. Ein gleicher Vorbehalt gilt aber auch zu seinen Gunsten, wenn umfassender und übergeordneter Normierungsbedarf notwendig erscheint. Diese Konkurrenz der Vorbehalte soll Partikularismus verhindern, ohne Selbstverantwortung zu beschneiden. Von daher werden Verteilung der Macht und ein Staatsaufbau von den kleineren Lebenskreisen aufsteigend zum Gesamtstaat und neuestens über diesen hinaus zu suprastaatlichen Kooperationsformen erstrebt. Da F. einerseits immer schon subsidiär und anderseits gesellschaftsbezogen war, liegt in der vielfach vorgenommenen Zuweisung des Subsidiaritätsprinzips zur Gesellschaft und des föderativen Prinzips zum Staat eine begriffsgeschichtliche Verkürzung.

Johannes Althusius, der die föderalistische Idee ins politische Denken Deutschlands einführte (1614), hat bei der Beschreibung des zusammengesetzten Staates beide Dimensionen erfasst. Consociatio (Vereinigung) war für ihn ein politischer Grundbegriff. Die Staatsbürger galten als symbiotici. Mit späteren Föderalisten teilt er die Vorstellung einer durchgängig indirekten Herrschaftspyramide. Vereinigung wird auf allen Stufen aus Einheiten der jeweils niedrigeren gebildet – von der Familie bis zum Reich. Ähnlich Constantin Frantz im 19. Jh., der als Verfechter einer konservativ-ständischen F.-Ideologie gilt. Er sah im F. das Prinzip der Vergesellschaftung schlechthin. Von der Ehe bis zum Völkerbund – alles soziale Leben besitzt föderalistischen Charakter, und jedes soziale Element soll eine nützliche Stellung im Ganzen finden. Die sozialistisch-syndikalistische Variante geht auf Pierre-Joseph Proudhon („Du princip federatif“, 1863) zurück, für den F. die Versöhnung von Freiheit und Autorität in Staat und Gesellschaft darstellte: eine neue Gesellschaftsordnung, gegründet auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität, sollte Herrschaft absterben lassen. Die Begrenzung der Aufgaben des Staates als Gegenbild zur hierarchischen Zentralisierung war für ihn die entscheidende Voraussetzung individueller und kollektiver Freiheit.

Die Wiederentdeckung des Subsidiaritätsprinzips im Kontext des Zuständigkeitsdiskurses in der EU erinnert an diese Prinzipien.

1.2 Politisches Organisationsprinzip

Gleichwohl wird F. vordringlich als Struktur- und Organisationsprinzip politischer Systeme verstanden, in denen sich mehr oder weniger selbständige Glieder zu einem übergeordneten Ganzen zusammenschließen. Im Staatenbund behalten die Mitgliedstaaten ihre Souveränität und erledigen gemeinsame Aufgaben mit gemeinsamen Organen. Im Bundesstaat behalten die Glieder (Länder, Staaten, Kantone) nur partielle Selbständigkeit. Die Aufgaben sind zwischen Zentralgewalt und Gliedern geteilt. Beide müssen zusammenwirken. Im durch vertiefte Integration in der EU geschaffenen Staatenverbund bleibt im Prinzip die Souveränität der Mitglieder erhalten. Gegenbegriff zum F. ist der Unitarismus, in welchem staatliche Gewalt einheitlich, vertikal nicht aufgeteilt und zentral organisiert ist: der Einheitsstaat. Nicht schon identisch mit F. sind Autonomie, Dezentralisierung, Regionalisierung und Devolution, die nachgeordneten Organen und Selbstverwaltungskörperschaften eigene Gestaltungsmöglichkeiten belassen oder Politik an den Eigenarten von Territorium und Bevölkerung und den daraus folgenden sozialen und kulturellen Phänomenen zu orientieren suchen.

Auch wenn foedus und confoederatio bereits Begriffe antiken Staatsdenkens waren, ist der Bundesstaat ein Staatstypus der Moderne. Seine erste exemplarische Verwirklichung gelang mit der Umbildung des zunächst staatenbündischen Systems der Vereinigten Staaten von Amerika 1787. Die politischen Funktionen des amerikanischen F. hat Alexis de Tocqueville in Europa bekannt gemacht. Sie bestimmen auch die gegenwärtigen Entwicklungen.

Im 20. Jh. folgten Österreich, nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß der Tradition die westliche BRD, 1978 Spanien als Antwort auf den Frankismus und regionale Differenzierung, 1980 Belgien aufgrund der kulturellen Fragmentierung zwischen Flamen und Wallonen, sowie einzelne asiatische und afrikanische Staaten. Die weltpolitische Zäsur seit 1990 rief gegenstrebige Entwicklungen hervor: einerseits die Schaffung der Russischen Föderation 1993 oder nach der Jahrtausendwende föderale Konstituierung(sversuche) wie in Irak, Myanmar und Jemen, anderseits den Zerfall (pseudo-)föderaler Gebilde in ihre urspr.en Bestandteile wie Jugoslawien oder Tschechoslowakei. F. kann sich unter den Bedingungen ethnischer und linguistischer Diversitäten als integrierendes und stabilisierendes Instrument erweisen, ebenso aber an ihnen scheitern. Zudem können exogen initiierte Föderalisierungsbestrebungen Destabilisierungsabsichten verfolgen, wie z. B. die russischen in der Ostukraine nach 2015. Ebenso gewährleistet eine föderale Konstruktion nicht immer ein reales föderales System.

2. Begründungen

2.1 Traditionelle, territoriale und kulturelle Aspekte

Die historisch-traditionale Begründung hat an Bedeutung verloren. Mit der Dynamisierung der Verkehrs- und Kommunikationstechnologien wird auch die geographische dieses Schicksal teilen, soweit sie sich nur auf Ausdehnung und Unüberschaubarkeit von Territorien (z. B. USA, Australien, Indien) stützt. Bedeutsam bleiben wird jedoch gesellschaftliche und politische Heterogenität, die nur durch föderalistische Strukturen sublimiert werden kann, soweit der Wille zu staatlicher Einheit überhaupt besteht. Die neuere sozialwissenschaftliche Forschung hat verstärkt soziale und wirtschaftliche Faktoren zur Erklärung von Föderalisierungsprozessen herangezogen, so etwa die Hoffnung auf wachsende Prosperität sowie auf Erweiterung der Kommunikations- und Administrationsbereiche. Andererseits können diese Faktoren auch zentrifugal wirken, wenn wirtschaftliches Entwicklungsgefälle und sozialstrukturelle Disparitäten zu groß werden und bestimmte Bevölkerungsgruppen oder ökonomische Interessen sich von der Bundespolitik übergangen fühlen. In Kanada verursachten derartige Disparitäten in jüngerer Zeit Prozesse der Provinzbildung: ein Rückzug auf einzelstaatliche Konzepte und eine ökonomische Zersplitterung.

Zentrale Bedeutung besitzen nach wie vor die ethnisch-kulturellen, sprachlichen und konfessionellen Strukturen: das Verhältnis von nationaler Identität und Territorialität. Die unterschiedlichen Gruppierungen in segmentierten Gesellschaften sind zur staatlichen Gemeinsamkeit nur bereit, wenn ihren Eigenheiten durch einen föderalistischen Staatsaufbau entsprochen wird: Eigenständigkeit und F. bewirken dann gemeinsam Integration (Schweiz, Belgien). Soweit sich in großräumigen Flächenstaaten die ethnisch-kulturellen Differenzierungen nicht territorial verfestigen (z. B. USA, Australien), vermindert sich ihre potentielle Sprengkraft, und auf Minderheiten wird sogar unitarisierender Druck ausgeübt. Wo sich aber (wie in Kanada) solche Spannungsverhältnisse territorial und regional zu Subgesellschaften formieren, entwickelt F. eher konföderale Züge.

2.2 Politische Argumente

Wo – wie z. B. in der BRD – all diese Begründungen von geringer Relevanz sind, werden normativ verfassungspolitische Vorteile ins Feld geführt, die im Wesentlichen stets auf die den föderalistischen Staat charakterisierende Pluralität und regionale Differenzierung der politischen Leitungsgewalt(en) zurückgeführt werden können: verbesserte Chancen demokratischer Partizipation durch überschaubarere Lebens- und Funktionsbereiche. Politik werde bürgernäher, transparenter, besser kontrollier- und mitvollziehbar. F. gilt so als wichtiger Beitrag zu funktionaler Responsivität und ständiger Legitimation des politischen Systems, wiewohl diese normativen Optionen durch gesteigerte und verdichtete Komplexitäten in der Praxis erheblich relativiert werden: Umso wichtiger erscheint es, ihre grundsätzliche Geltung zu verteidigen.

F. ist stets, bes. aber im parlamentarischen Regierungssystem, ein verstärkendes Element der Gewaltenbalancierung und Machthemmung (Gewaltenteilung): vertikal durch die Existenz unterschiedlicher Entscheidungszentren in Bund und Ländern, horizontal durch die Mitwirkung der Länder an der Willensbildung des Gesamtstaates. Da ihre Gleichschaltung ein wichtiger Schritt zur Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft war, verlieh gerade dieses Motiv dem F. neue Attraktivität, zumal die Länder vor dem Bund bestanden und die Verfassungsgebung von ihnen ausging.

Schließlich werden die Möglichkeiten politischen Experimentierens und innovatorischer Vielfalt bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben ins Feld geführt – soweit diese politischen Wertungen zugänglich und zugl. dem Kompetenzbereich der Gliedstaaten zugehörig sind. Solche Gestaltungsräume schaffen potentiell konkurrierende politische, ökonomische und kulturelle Zentren. Sie fördern den Wettbewerb der politischen Parteien. Die Konfliktverarbeitungskapazität des Gesamtsystems steigt durch den spezifischen Zuschnitt föderativer Politik. Voraussetzung ist die freiheitliche Pluralität von Machtfaktoren, die sich in fruchtbarer Konkurrenz entfalten können und wollen, ohne frühzeitig harmonisierenden Konsenszwängen zu unterliegen. Konflikt und Konkurrenz sind im F. ebenso wichtig und legitim wie Konsens und Kooperation. F. eröffnet gerade den politischen Parteien durch die Länderebene zusätzliche Bewährungs-, Gestaltungs- und Rekrutierungschancen für politische Konzepte und Führungspersonal. Faktisch vermag aber Parteiinteresse föderalistische Differenzierung auch zu überwinden, ohne dass daraus ein prinzipieller „Strukturbruch“ (Lehmbruch 2000: 9) zu folgern ist.

Für die kompliziertere föderalistische Struktur sind Preise zu entrichten, die i. d. R. auch als Argumente gegen sie vorgebracht werden: Begrenzung staatlicher Handlungsfähigkeit, Begünstigung zentrifugaler Kräfte, Schwerfälligkeit und Reibungsverluste politischer Willensbildung, schließlich die Kosten dieser Staatsorganisation. Effektiver F. scheint auf vielfältige Weise mit der Leitvorstellung pluralistisch-parlamentarischer Demokratie verwoben zu sein, die selbst keine „einfache“, sondern eine komplexe Staatsform ist. Antiföderalistische Einwände sind daher oft mit Argumenten gegen die parlamentarische Demokratie selbst verwandt.

3. Gestaltungsprinzipien

3.1 „Gemeinschaftsfreundliches“ Verhalten

Erste Voraussetzung föderalistischer Einheitsbildung ist das Homogenitätsprinzip, das ein Mindestmaß an Übereinstimmung über Kernbereiche des Verfassungssystems gewährleistet, z. B. über F. selbst. Das GG bestimmt z. B. die BRD zum Bundesstaat, in welchem in Bund und Ländern in gleicher Weise die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats gelten, der Bund in Länder gegliedert ist und diese an der Gesetzgebung beteiligt sein müssen. Diese Wesensbestimmung gilt unverbrüchlich (Art. 79 Abs. 3 GG). Ihre Grundlage ist der reale Wille zur Einheit, der sich in Deutschland traditionell (seit Johann Caspar Bluntschli) im Grundsatz des „gemeinschaftsfreundlichen Verhaltens“ (Stern 1984: 700) der Gliedstaaten gegenüber dem Bund, aber auch des Bundes gegenüber den Gliedstaaten ausdrückt. Er soll wechselseitigen Egoismus in Schranken weisen. Rechtlich begründet er Unterlassungs- und Tätigkeitspflichten. Im Kern wird er jedoch als Schranke gegen exzessive Ausübung von Kompetenzen ohne Rücksicht auf Gesamt- oder Länderinteressen interpretiert. Nicht unter Verdikt gestellt sein können jedoch grundsätzlich Konkurrenz und Konflikte als Folgen der föderalistischen Vielfalt. Insofern lässt sich dieser Grundsatz nur in Grenzsituationen anrufen. Er ist kein Instrument zur harmonisierenden Auflösung des typischen Spannungsfeldes zwischen Bund und Ländern. Über Grenzüberschreitungen hat die Verfassungsgerichtsbarkeit zu urteilen.

Föderalistische Staaten sind gekennzeichnet durch das Zusammenwirken selbständiger Partner: Zentralstaat und Gliedstaaten, die gemeinsam das politische System bilden (Bund/Länder – BRD; Union/Einzelstaaten – USA; Bund/Kantone – Schweiz). Selbständigkeit bedeutet, dass auch den Gliedstaaten Staatsqualität zukommt. Bei ihren Kompetenzen muss es sich um „‚Essentialia‘ der Staatlichkeit“ (Stern 1984: 667) handeln, die politische Gestaltungskraft einräumen, wie sie etwa in der BRD in der Organisation des staatlichen Bereichs, der Gestaltung des Kommunal- sowie des Polizei- und Ordnungswesens, der Landesplanung und bes. in der Kulturhoheit grundsätzlich zum Ausdruck kommt. Als Staaten verfügen sie über die politischen Institutionen der repräsentativen Demokratie wie Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit.

3.2 Kompetenzaufteilung

Kompetenzaufteilung und Aufgabenzuweisung bestimmen ein föderalistisches System konkret. Die klassischen bundesstaatlichen Verfassungen folgen dabei unterschiedlichen Grundsätzen. I. d. R. besitzen Zentralstaat und Gliedstaat eigene Aufgaben in alleiniger Zuständigkeit. Bei ihrer Erledigung wirken die Institutionen beider Bereiche zusammen. In der BRD geht die Verfassung zwar von der grundsätzlichen Zuständigkeitsvermutung der Länder in der Gesetzgebung aus. Sie eröffnet aber dem Bund die von ihm auch weidlich wahrgenommene Chance, sie zu dominieren. Ihm obliegt im Wesentlichen die Gesetzgebungs-, den Ländern die Verwaltungskompetenz. Die Mitwirkung der Gliedstaaten an der gesamtstaatlichen Willensbildung kann entweder nach dem Bundesratsprinzip (Entsendung von weisungsgebundenen Mitgliedern der Regierungen der Gliedstaaten nach der Zahl der Einwohner) oder nach dem Senatsprinzip (direkte Wahl einer gleichen Anzahl von Senatoren in allen Gliedstaaten) geregelt werden. Hohe Bedeutung hat die Finanzordnung. Grundsätzlich steht Zentral- und Gliedstaaten Finanzhoheit zu. Das Selbständigkeitsprinzip kann aber – wie in der BRD – vielfach durchbrochen sein: der Bund besitzt z. B. fast ausschließlich die Kompetenz zum Erlass von Steuergesetzen (auf welche die Länder im Bundesrat wiederum Einfluss nehmen), bestimmte Steuererträge stehen ihm oder den Ländern allein zu, für die wichtigsten besteht jedoch ein Steuerverbund. Zugunsten finanzschwacher („Nehmer“-)Länder besteht in der BRD eine Pflicht zum Länderfinanzausgleich durch die stärkeren („Geber“-)Länder bis 2020, danach durch den Bund, der aber immer schon Länder durch Finanzzuweisungen unterstützen konnte.

3.3 Staatsorganisatorische Grundtypen

Die Verfassungssysteme geben zwei Grundtypen föderalistischer Staatsorganisation vor: der Verbundtyp (z. B. BRD) wird bestimmt durch: funktionale Differenzierung der Kompetenzarten, wobei die Gesetzgebung (mit spezifischen Ausnahmen) weithin beim Bund, die Verwaltung bei den Ländern angesiedelt ist und über das Steueraufkommen ebenfalls im Wesentlichen auf Bundesebene (unter Mitwirkung der Länder) entschieden wird; Beteiligung der Länder an der Bundespolitik über den Bundesrat und dessen starke Position im Gesetzgebungsverfahren; zwischenstaatliche Kooperation der Länder (Koordinationsprozesse, Finanzausgleich) und zwischen Ländern und Bund. Den Autonomietyp (Trenntyp, z. B. USA) kennzeichnen dagegen: Dualismus staatlicher Strukturelemente und Unabhängigkeit wie Lebensfähigkeit beider Systemebenen; Kompetenzverteilung nach Politikfeldern statt nach Aufgaben; Beteiligung der Gliedstaaten an der Bundespolitik durch die direkte Wahl der zweiten Kammer oder – wie in Kanada – so gut wie gar nicht.

4. Unitarisierungstendenzen

Die Entwicklung zum Sozial- und Leistungsstaat und die damit verbundenen Wachstumstendenzen der Staatsaufgaben haben überall eine Stärkung der Zentralgewalten bewirkt. Auf zahlreichen Politikfeldern (u. a. Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik) geriet die gesamtstaatliche Aufgabenerledigung unter unitarisierenden Druck, da Unterschiede nicht mehr hingenommen werden und gestiegene Mobilität ein Mindestmaß rechtlicher Homogenität verlangt.

In der BRD entpuppte sich das Postulat der „Einheitlichkeit“, nach der Wiedervereinigung reduziert zur „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 3 GG), obgleich als Schranke gedacht, als Antriebskraft. Während das vorherrschende Verfassungsverständnis F. noch als Trennsystem interpretierte, als welches er im GG gar nicht angelegt ist, vollzog sich die Entwicklung zum „unitarischen Bundesstaat“ (Hesse 1962), in welchem der Bund nicht nur gesetzgeberische Kompetenzen ausschöpfte, sondern auch neu an sich zog, sowie durch ein schwer durchschaubares Gewebe von Fonds, Dotationen und Auflagen Einfluss auf die Länder nahm. Andererseits haben die Länder aus gleichen Gründen in Bereichen ihrer Eigenverantwortung durch Selbstkoordination auf der „dritten Ebene“ (Staatsverträge, Verwaltungsabkommen, Ministerpräsidenten- und Fachministerkonferenzen) unitarisierend gewirkt, nicht zuletzt, um die Akzeptanz des föderativen Prinzips in der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Frühzeitig stellte F. sich weniger in der Entfaltung von Eigenstaatlichkeit dar als in immer stärker werdender Teilhabe an den gesamtstaatlichen Entscheidungsprozessen; denn wenn die Länder Kompetenzen hingegeben haben, sicherten sie sich zugl. über den Bundesrat vermehrte „zentralstaatliche Mitdirektionskompetenz“ (Friedrich 1975: 59).

Darüber noch hinaus geht die Entwicklung zum „kooperativen Föderalismus“, gekennzeichnet durch die Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a und b GG) und die Investitionshilfekompetenz des Bundes, die auf soliderer Rechtsgrundlage steht als die frühere Fondswirtschaft. Zugl. wurden die wichtigsten Steuerquellen zu einem Verbund zusammengefasst, der partiell nach Verhandlungen aufzuteilen ist. Gemeinschaftsaufgaben führen zur Vermischung von Verantwortlichkeiten, die immer schon als Herausforderung des F. galt. Durch die Verpflichtung zur Rahmenplanung, die Bildung gemeinsamer Planungsausschüsse von Bund und Ländern, die nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden, erlangte vertikale „Politikverflechtung“ (Scharpf/ Reissert/ Schnabel 1976) große Bedeutung. Durch den wachsenden Einfluss gemeinsamer Beratungs- und Entscheidungsgremien entsteht eine neue Systemebene, die allein von der Exekutive beschickt wird, kaum zu kontrollieren ist und sich parlamentarischer Mitbestimmung entzieht.

Exekutiv-F. ist die Folge. Zwar bleibt die Mehrebenenpolitik erhalten, verliert aber Responsivität. Auch intensive Reformdiskussionen vermochten nicht, das Verhalten der Regierungen auf Bundes- und „dritter Ebene“ effizienter parlamentarischer Mitwirkung und Kontrolle zu unterwerfen. Entmächtigend wirkt bes. die Bindekraft intergouvernementaler Absprachen. Diese Gouvernementalisierung überführt zudem ehedem eigene legislative Kompetenzen in die Mehrebenen-Verhandlungs- und Entscheidungssysteme (Mehr-Ebenen-Regieren). Landtage ratifizieren andernorts, i. d. R. nicht öffentlich und informell bewirkte Konsensbildungen. Sie beschließen v. a. Ausführungsgesetze. Seit den 1970er Jahren schrumpft ihr legislativer Gestaltungsraum auf etwa 10 % der Materien, eine Quantität, die in Qualität umschlägt, käme es doch auf einen Kompetenzsubstanzerhalt an, der die Staatsqualität der Länder ernsthaft schützt. In Einschränkung und Preisgabe der Autonomierechte sieht Roman Herzog „ein Paradebeispiel für einen falsch verstandenen ‚kooperativen Föderalismus‘“ (Herzog 2006: 4). Die Bewahrung seiner „gewaltenteilende[n] Effekt[e]“ (Hesse 1962: 21) wird demnach relativiert durch Einbußen legitimatorisch-kommunikativer Qualität.

Zusätzliche Transformation bewirkt die Europäisierung mit ihrem von starkem Problemdruck (Ökonomie, Ökologie, organisierte Kriminalität) ausgehenden „Zwang zur Konvergenz“ (Scharpf 1985: 323), der nicht nur nationale Politik tendenziell delegitimiert, sondern die nationalen Regierungssysteme transzendiert, speziell wenn der Bund Länderkompetenzen überträgt.

Nach dem innerstaatlich üblichen Muster erhielten die Länder im neuen Artikel 23 GG Mitwirkungsrechte an der Europapolitik und gewannen Berücksichtigungspflichten von Stellungnahmen des Bundesrates seitens der Bundesregierung. Aber das einzelne Land ist in seinen Interessen nur mittelbar über den Bundesrat geschützt. Seine innerstaatliche Beteiligung an der Gesetzgebung findet in der EU keine Entsprechung: eine zusätzliche Beschränkung ohne Kompensationen, wie sie bei innerstaatlichen Umverteilungen üblich gewesen sind. Die Länder sitzen in einer doppelten „Verflechtungsfalle“ (Scharpf 1985).

Grundsätzlich schafft das ins Vertragswerk eingebrachte Subsidiaritätsprinzip eine Berufungschance auf Länderkompetenzen. Der Vertrag von Lissabon etabliert ein „Frühwarnsystem“, in dem die nationalen Parlamente binnen acht Wochen nach Übermittlung eines Gesetzentwurfs der EU begründete Einwände gegen Subsidiaritätsverstöße erheben und Überprüfung verlangen können, falls ein Drittel, im sensiblen Bereich der Justiz- und Innenpolitik ein Viertel der den nationalen Parlamenten zugeteilten Stimmen negativ votiert hat. In Zweikammersystemen wie der BRD führt jede Kammer eine der beiden nationalen Stimmen. Im Rahmen der Frist muss sich jeder Landtag eine Meinung bilden, 16 Landtage müssen sich koordinieren und in der EU supranationale Bündnisse schmieden, die das Quorum erreichen. Sodann ist offen, ob die Organe der EU Einwänden folgen oder an ihrer Position festhalten. Angesichts des hohen nationalen wie supranationalen Koordinations- und Kooperationsaufwandes wird dieses Verfahren keine Praxisrelevanz gewinnen. Effizienter erscheint die Möglichkeit nationaler Regierungen, im Auftrag ihrer Parlamente Subsidiaritätsverstöße vor den EuGH zu bringen.

Offensichtlich erschwert Politikverflechtung im Mehrebenensystem bei allem Effizienzgewinn Zurechenbarkeit, Transparenz und parlamentarische Verantwortung. Sie tangiert rechtfertigende Gründe des F.

5. Revitalisierung?

Die infolgedessen initiierte Revitalisierungsdiskussion erbrachte letztlich das Gegenteil einer Trendwende, trotz ihrer urspr.en legislatorischen und fiskalischen Stoßrichtung zugunsten der Länder, die in der auf einem F.-Konvent verabschiedeten „Lübecker Erklärung“ 2003 ihren Ausdruck fand. Gleichwohl zeitigten die drei Reformkommissionen 2006, 2009 und 2017 nur bescheidene, in den Finanzbeziehungen sogar konträre Ergebnisse. Legislatorische Rückübertragungen und Neuklassifizierungen, selbst die Möglichkeit, in bestimmten Bereichen von der Rechtsetzung des Bundes abweichende Regelungen zu treffen, erscheinen nicht essentiell. Gemeinschaftsaufgaben bestehen fort, ergänzt durch vertiefte Einbrüche in die Bildungskompetenz der Länder. Der Finanzeinfluss des Bundes wurde gestärkt, nicht zuletzt durch die Auflösung des horizontalen Finanzausgleichs zwischen den Ländern ab 2020 und die Verlagerung dieser Ausgleichsverpflichtung auf den Bund, den die Länder, sich selbst entmachtend, gerufen haben: Die Geber wollten nichts mehr abtreten, die Nehmer verlässliche Subventionen. Eine aufgabenangemessene Finanzausstattung jedes einzelnen Landes geriet aus dem Blick. Gestaltungskraft wurde den Landtagen zudem durch die ab 2020 greifende „Schuldenbremse“ entzogen, die z. B. auch bei ausgeglichenem Haushalt Kreditaufnahmen für Zukunftsinvestitionen untersagt.

Die urspr.e Revitalisierungsidee bleibt auf der Strecke, Verflechtung besteht fort, Subventionsmentalität herrscht vor. Die größte und tiefste Reform des F. seit der Gründung der BRD führte nicht zur Revitalisierung, sondern in Kompetenzen und Finanzen politisch zur Umformung der horizontalen Struktur in eine mehr vertikale mit Dominanz des Bundes.

Tiefgreifende Interessensgegensätze beherrschen das Reformfeld: der natürliche Gegensatz zwischen Zentralgewalt und Gleichstaaten; bes. die Differenzen zwischen ärmeren und reicheren, wettbewerbsfähigen und weniger wettbewerbsfähigen, zwischen gestaltungsfreudigen und aus Mangel an politischer Vorstellungskraft oder materiellen Ressourcen innovationsscheuen Ländern; die Polarisierung zwischen Parlamenten und Regierungen, erstere interessiert an Mitbestimmung, letztere an möglichst ungebundenen Aktionschancen auf der nächst höheren Ebene, bzw. – der Bund – nach unten; die Konkurrenzverhältnisse im Mehrebenensystem Länder – Bund – EU, die z. T. zusätzlich von den eben benannten Interessen geprägt sind. Diese komplexe Interessen- und Faktenlage überfordert offensichtlich die politischen Akteure. Deren Reformen verstärken die Probleme, derentwegen sie initiiert worden waren. Partiell schaffen sie „im Kern verfassungsfremdes Verfassungsrecht“ (Renzsch 2017: 771).

Literatur